Название | Im Kreuzfeuer |
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Автор произведения | Christian Wehrschütz |
Жанр | Зарубежная публицистика |
Серия | |
Издательство | Зарубежная публицистика |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783990401545 |
1.
Der Balkan: Zwischen Gebirgszug, Pulverfass und Klischee
Wie sicher ist die Lage im ehemaligen Jugoslawien?:
Bei einer Reportage über die Entminung nach den Balkankriegen
Der Begriff „Balkan“ hat nicht nur geografische, sondern auch zivilisatorische Bedeutung und war – auch politisch – großen Wandlungen unterworfen. Sie sind ein Produkt der politischen Umwälzungen im Europa des 20. Jahrhunderts; dagegen blieb die zivilisatorische (Ab-)Wertung, die mit dem Balkan-Begriff verbunden ist, weitgehend konstant. Zu den Konstanten zählt auch die Tatsache, dass der Balkan seit dem Zerfall seiner kurzlebigen mittelalterlichen Reiche nie Subjekt, sondern nur stets Objekt und auch Opfer der Politik europäischer und anderer Großmächte war und ist. Charakteristisch für diese Region ist die Vielzahl seiner Völker auf kleinem Raum, ohne dass sich jemals eine wirklich dominante Nation herausgebildet hätte. Hinzu kommt noch die Koexistenz von Islam und Christentum; die seit der Spätantike bestehende Teilung in West- und Ostrom (Byzanz) führte in weiterer Folge zur Teilung in katholische und orthodoxe Christen. Damit verbunden waren und sind beträchtliche Unterschiede in Kultur und Mentalität; sie hat die jahrhundertelange Zugehörigkeit zu den zwei führenden Mächten am Balkan, zum Habsburger-Reich und zum Osmanischen Imperium noch zusätzlich verstärkt. Diese beiden Imperien führten auch dazu, dass die Bildung von Nationalstaaten am Balkan erst sehr spät erfolgte und im ehemaligen Jugoslawien erst mit der Unabhängigkeitserklärung des Kosovos im Februar 2008 als vielleicht abgeschlossen betrachtet werden kann.
Die territoriale Definition des Balkans ist zunächst das Ergebnis einer Fehleinschätzung des Berliner Geografen Johann August Zeune aus dem Jahr 1808. Zeune übernahm die Vorstellungen antiker Geografen, die geglaubt hatten, der Balkan (türkisch: Gebirge) erstrecke sich vom Schwarzen Meer bis zu den slowenischen Alpen. Doch eine derart vorherrschende Stellung wie der Apennin für die italienische Halbinsel, hatte das Balkangebirge für die Balkanhalbinsel nie.1) Als andere Geografen diesen Fehler erkannten, war es im Grund zu spät, der Begriff hatte sich bereits eingebürgert. An seiner Stelle wird nun öfter Südosteuropa verwendet, ein Begriff, der zivilisatorisch neutral ist, sich aber noch nicht wirklich durchgesetzt hat.2)
Die beträchtliche Nordverschiebung, die der Balkan begrifflich und zivilisatorisch binnen einhundert Jahren erlebte, zeigt auch ein Blick auf Karl Mays Romane. Bezeichnend ist schon der Sammelbegriff „Orienterzählungen“, unter dem jene sechs Bücher3) zusammengefasst sind, zu denen die Werke „Durch das Land der Skipetaren“ und „In den Schluchten des Balkan“ zählen. Geografisch spielen die Abenteuer im heutigen albanisch-montenegrinischen Grenzgebiet, im Kosovo, in Mazedonien, Bulgarien und in der Türkei. Die Karten in den Umschlaginnenseiten enthalten vorwiegend (türkische) Ortsbezeichnungen („Kalkandelen“ für Tetovo), erschienen diese Bücher doch zwischen 1881 und 1888. Viele dieser Namen sind vor allem im heutigen ehemaligen Jugoslawien praktisch verschwunden, und nicht nur die Reisekostenstelle des ORF hätte wohl erheblich Verständigungsprobleme, sollte ich ihr mitteilen, dass ich nach meinem Urlaub nun wieder in den Orient zurückgekehrt sei. Karl Mays Karten spiegeln eben die politischen Grenzen seiner Zeit wider, und bis zum Ende des Ersten Weltkriegs war Belgrad auch Grenzstadt. Daher gehörten natürlich weder die Vojvodina zu Serbien noch Kroatien zum Balkan.
Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war am Balkan durch den schrittweisen Zusammenbruch der Osmanischen Herrschaft geprägt.4) Einen weiteren Rückzug brachten die Balkankriege 1912/13.5) Das Ende des Ersten Weltkriegs und der Zusammenbruch des Osmanischen Reichs sowie der Habsburger-Monarchie führten zur Gründung des SHS-Staates, des späteren Königreichs Jugoslawien6). Diesem Staat gehörten nunmehr auch Slowenien und Kroatien an. Von Randprovinzen der Donaumonarchie wurden Slowenien und vor allem Kroatien zu wesentlichen Faktoren im neu geschaffenen Staat. Gleichzeitig wurde damit aber auch das politische Zentrum von Wien nach Belgrad und damit in den Südosten verschoben. Das erste Jugoslawien bestand knapp mehr als 20 Jahre; doch dieser Zeitraum reichte offensichtlich aus, um die Frage nach der kulturellen und geografischen Zugehörigkeit Kroatiens entstehen zu lassen. Einen eindeutigen Beleg dafür bilden die 1956 erschienenen Erinnerungen von Hermann Neubacher.7) Seine Auseinandersetzung mit der Bedeutung des Balkans leitet Neubacher mit einer Anekdote ein:
„Adolf Hitler fragte mich einmal, ob ich Kroatien zum Balkan rechne, und ich war erstaunt über seinen Verlust an k.u.k österr.-ungarischem Raumgefühl. Im allgemeinen nimmt die Neigung, den Donauraum hinter Wien zum Balkan zu rechnen, nach dem europäischen Westen hin zu, und die Meinung, daß Ungarn ein Balkanstaat sei, hat schon viele Magyaren erbittert. … Für den Kroaten österreichisch-ungarischer Prägung beginnt der Balkan hinter der ehemaligen österreichisch-ungarischen Militärgrenze ….“
Für Neubacher ist unbestritten, dass Kroatien nicht zum Balkan gehört. Dieser Meinung ist auch heute noch die überwiegende Mehrheit der Kroaten, doch 45 Jahre Tito-Jugoslawien lassen sich nicht ungeschehen machen. Legt man als Maßstab die balkanischen Stereotype an (Bürokratie, Korruption), so ist auch Kroatien ein Teil des Balkans,8) wobei festzustellen bleibt, dass auch im ehemaligen Jugoslawien auf den jeweils südöstlich liegenden Nachbarn gern heruntergeschaut wird. „Sto juznije to tuznije“ – „Je südlicher desto trauriger“ lautet denn eine weitverbreitete Redensart. Politisch ist Kroatien auf jeden Fall seit dem Zerfall des Tito-Staats am Balkan angekommen.9) Dazu beigetragen haben vier Jahre Krieg gegen den serbischen Aggressor, der das Land ebenso schädigte wie die nationalistische Politik des Staatsgründers Franjo Tuđman. Sie führte das Land in die außenpolitische Isolation, die etwa fünf Jahre dauerte. Nach der Abkehr von dieser Politik kosteten Probleme bei der Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal Kroatien weitere sieben Monate,10) und die Beitrittsgespräche mit der EU begannen erst im Oktober 2005. Zu diesem Zeitpunkt war es bereits zu spät, noch zu Rumänien und Bulgarien aufschließen zu können, die am 1. Jänner 2007 der EU beigetreten sind. Diese Aufnahme erbitterte viele Kroaten, die der EU unterschiedliche Standards vorwarfen, was die Bewertung der Beitrittsreife betrifft.
Kroatien blieb somit in der Gruppe der Westbalkanstaaten, die alle auf dem Weg nach Brüssel weit hinter Agram liegen. Doch auch wegen der Krise in der EU und wegen des Grenzstreits mit Slowenien könnte sich die Schlagzeile einer kroatischen Tageszeitung als verfrüht erwiesen haben. Sie begrüßte den Beginn der Beitrittsverhandlungen mit den Worten: „Bye Bye Balkan.“ Dahinter steht nicht nur die Angst vor einer Neuauflage einer Art Jugoslawien, sondern auch der Wunsch, statt mit einer Staatengruppe aufgenommen zu werden, aus dieser einen Gruppe endlich herauszutreten, die Kroaten und Europäische Union eigentlich als rückständig betrachten. Während Jugoslawien unter Tito international ein anerkannter Staat und im Kalten Krieg ein wichtiger politischer Faktor war, haben die Zerfallskriege und ihre Gräueltaten alle jene Vorurteile wieder zum Leben erweckt, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Bild des Balkan prägten. So hatte man während der Kriege der 1990er Jahre bis hin zum Massaker an etwa 8.000 Bosniaken in Srebrenica durchaus den Eindruck, dass das „Pulverfass Balkan“ nicht den „Knochen eines einzigen pommerschen Grenadiers wert“ sei, wie das Bismarck aus seiner Zeit und seiner Sicht einst durchaus