Im Kreuzfeuer. Christian Wehrschütz

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Название Im Kreuzfeuer
Автор произведения Christian Wehrschütz
Жанр Зарубежная публицистика
Серия
Издательство Зарубежная публицистика
Год выпуска 0
isbn 9783990401545



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von selbständigen und für das Funktionieren der Republik wirksamen Beschlüssen ein. Die Provinzen bildeten sogar Koalitionen mit den restlichen Teilrepubliken, weshalb Serbien regelmäßig auf Bundesebene in der Minderheit war. Dieses eigenartige Phänomen lässt sich leicht deuten, wenn man den ausschlaggebenden Einfluss von Tito, dem Kroaten, und Kardelj, dem Slowenen, auf die Zusammensetzung des Führungskaders in den Provinzen bedenkt.“

      Als diese Bewertung 1996 in deutscher Sprache gedruckt wurde, war es bereits fast zehn Jahre her, dass Slobodan Milošević bei der berühmten „Achten Sitzung“ des Zentralkomitees der serbischen Kommunisten im September 1987 seinen Mentor Ivan Stambolić entmachtet hatte. Als Aufstiegshilfe diente Milošević die Kosovo-Frage, dessen Autonomie er ebenso beseitigte wie die der Vojvodina. Unter Milošević wurde das Mehrparteiensystem in Serbien eingeführt, und aus den Kommunisten wurde im Juli 1990 die Sozialistische Partei Serbiens. Doch der einsetzende Parteienpluralismus führte nicht zu umfassender Demokratisierung, sondern zu einer Welle des serbischen Nationalismus und zum blutigen Zerfall des Tito-Staates, eine Entwicklung für die Milošević und sein System zweifellos die Hauptverantwortung, aber keineswegs die Alleinverantwortung tragen.

       „Rest-Jugoslawien“

      Zehn Jahre später, am 5. Oktober 2000 stürzte Milošević; er wurde am 28. Juni 2001 an das Haager Tribunal ausgeliefert – dem Veitstag, also dem Tag der Schlacht am Amselfeld (1389), dem Tag der Ermordung von Franz Ferdinand in Sarajevo (1914), dem Tag des Ausschlusses der Kommunistischen Partei Jugoslawiens aus der Komintern (1948) und nicht zuletzt am selben Tag, an dem 1989 Milošević am Amselfeld zum 600. Jahrestag der Schlacht eigentlich eine recht banale Rede gehalten hatte. Doch von dem versprochenen „himmlischen Serbien“ blieb nach Kriegen, zehntausenden Toten, hunderttausenden Flüchtlingen und Vertriebenen sowie Krisen nur ein weitgehend ruiniertes Land übrig. Die endgültige Auflösung des Tito-Staates war damit aber noch nicht erreicht, denn noch bestand die Bundesrepublik Jugoslawien, gebildet von den ungleichen „Brüdern“ Serbien und Montenegro; ungeklärt war auch der Status des Kosovos, der nach dem NATO-Krieg des Jahres 1999 unter UNO-Verwaltung stand.

      Doch die Beseitigung „Rest-Jugoslawiens“ erwies sie als zähe Angelegenheit, obwohl an den Tito-Staat in Belgrad nur mehr Straßennamen erinnerten und erinnern (Sarajevo Straße, Zagreber Straße). Die EU war mehrheitlich gegen die Auflösung des „Rests“, Serbien leistete hinhaltenden Widerstand, und Montenegro war in der Frage der Unabhängigkeit tief gespalten. Zunächst verschwand daher der Staatsname und zwar im Februar 2003 mit der Bildung des Staatenbundes Serbien und Montenegro. Dieser „Untote“ vegetierte drei Jahre dahin, ehe er mit dem Unabhängigkeitsreferendum in Montenegro im Mai 2006 zur Fußnote der Geschichte wurde. Doch weder die Loslösung Montenegros noch die Unabhängigkeitserklärung des Kosovos im Februar 2008 musste Milošević erleben, denn er starb im März 2006 in seiner Zelle in Den Haag.

      Der Tod ihres Vorsitzenden bedeutete vor allem für die SPS eine wichtige Zäsur. Denn nach Miloševićs Sturz stürzten auch seine Sozialisten in eine tiefe Krise, und bei den folgenden Parlamentswahlen in Serbien konnte die Fünf-Prozent-Hürde immer nur knapp gemeistert werden. Milošević hatte den Begriff „sozialistisch“ zutiefst diskreditiert, und seine Frau Mira Marković hatte mit ihrer Phantompartei der „Jugoslawischen Linken“ (JUL) ebenfalls ihr Scherflein dazu beigetragen. Die JUL gebärdete sich als kommunistische Bewegung, doch vor der Parteizentrale parkten die deutschen Luxusautos ihrer Spitzenfunktionäre, weil die Partei vorwiegend aus Personen bestand, die im Milošević-System zu Macht und Reichtum gekommen waren, während die Serben zunehmend verarmten. Serbien fehlte in den Jahren der beginnenden Transition eine starke sozialdemokratische/ sozialistische Partei, die für die Armen, Arbeitslosen und für die Opfer der Reformen eintrat. Dieses Vakuum füllte in immer stärkerem Ausmaß die ultranationalistische Radikale Partei (SRS) aus, die Miloševićs Koalitionspartner gewesen war.

      Miloševićs eigene Partei wurde dagegen zunächst immer mehr zu einer Randerscheinung. Ihre Wählerschaft ist ziemlich alt und lebt in der Provinz und zwar in kleinen Städten. Diese Wähler sind keine Nationalisten, sondern „Milošević-Nostalgiker“, wobei Milošević zu Beginn seines Aufstiegs von nicht wenigen für einen neuen Tito gehalten wurde. Zu den Wählern der SPS zählen daher viele alte Kommunisten und pensionierte Offiziere niedriger Dienstgrade. Die Existenz der Sozialisten war damit eindeutig bedroht, daher gab es bereits zu Lebzeiten von Milošević zaghafte Ansätze für einen Transformationsversuch; als solcher ist die Unterstützung der Minderheitsregierung des nationalkonservativen Ministerpräsidenten Vojislav Koštunica zu werten (Kabinett Koštunica I, Februar 2004 bis Mai 2007). Letzterer kann wohl als politischer Träger der Enttitoisierung in Serbien bezeichnet werden, die mit nationalistischen, großserbischen Vorzeichen unter Slobodan Milošević begann. Diese Neuinterpretation der Geschichte, die Serbien praktisch nur als Opfer Titos sah, führte auch zu einer völligen Abkehr von der antifaschistischen Traditionslinie, die das alte Jugoslawien in die Reihe der Siegermächte des Zweiten Weltkriegs gestellt hatte. Diese geistige Abkehr zeigte sich auch in der Tagespolitik; daher fehlten unter Koštunica mehrmals Vertreter Serbiens bei Feiern anlässlich des Sieges über Deutschland oder aus Anlass der Befreiung eines Konzentrationslagers. Folgerichtig fällt in die Zeit des Kabinetts Koštunica I auch ein weiterer Schritt der Enttitoisierung Serbiens. So wurden per Gesetz die ehemaligen Četniks den Partisanen in sozialrechtlicher Hinsicht gleichgestellt.

      Doch richtig beginnen konnte die Transformation der Sozialistischen Partei Serbiens (SPS) erst nach Miloševićs Tod. Die Anrede „Genosse“ tauchte in den Wahlkämpfen wieder auf, und Arme, Pensionisten sowie „soziale Gerechtigkeit“ wurden als Zielgruppen und Themen entdeckt. Die SPS will nun eine moderne Linkspartei sein und in die Sozialistische Internationale aufgenommen werden. Wie groß die Chancen für eine rasche Aufnahme sind, ist offen, denn vor allem in den sozialdemokratischen Parteien des ehemaligen Jugoslawien regt sich massiver Widerstand. Mittelfristig ist die Aufnahme wohl wahrscheinlich, weil die Sozialisten gemeinsam mit den pro-europäischen Kräften in Serbien nun eine Regierung gebildet haben. Dieses Kabinett hat zum ersten Mal die berechtigte Chance, volle vier Jahre zu halten, und Serbien nahe an die EU heranzuführen.

      Die europäische Perspektive und die Chance der SPS nun international „salonfähig“ zu werden dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Sozialisten bisher jede Bereitschaft vermissen ließen, mit der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit zu beginnen. Im Gegenteil: Im Wahlkampf für die Parlamentswahl im Frühsommer 2008, wurde Milošević weiter als Werbeträger jedenfalls für die eigenen Funktionäre eingesetzt. Nicht zu erwarten ist eine Vergangenheitsbewältigung – sollte sie nicht von außen eingefordert werden – auch wegen der personellen Kontinuität der Führung. So war der SPS-Vorsitzende, der 1966 geborene Ivica Dačić, von 1992 bis 2000 Pressesprecher der Milošević-Sozialisten, und die sozialistische Parlamentspräsidentin war unter Milošević in führenden Parteifunktionen tätig. Prüfstein für den Grad der sozialistischen Transformationsbereitschaft in der Tagespolitik wird nicht die weitere Zusammenarbeit mit dem Haager Tribunal sein, die Serbien auf dem Weg Richtung EU zum Abschluss bringen muss, weil nur mehr zwei mutmaßliche Kriegsverbrecher zu verhaften sind. Vielmehr geht es um die Frage, wie die SPS die Milošević-Erblast aufarbeitet; ein umfassender Bruch mit der Ära Milošević wird jedoch sehr schwierig sein und viel Zeit brauchen.

      Doch für seine dauerhafte Stabilisierung bedarf Serbien entweder der Transformation oder der Marginalisierung der Serbischen Radikalen Partei (SRS), deren Vorsitzender Vojislav Šešelj sich seit Februar 2003 wegen des Vorwurfs der Kriegsverbrechen vor dem Haager Tribunal verantworten muss. Im Herbst 2008 kam es zum Bruch zwischen Šešelj und seinem langjährigen Weggefährten und Stellvertreter Tomislav Nikolić. Auslöser war die gegensätzliche Haltung zur EU-Integration Serbiens. Nikolić folgte ein beträchtlicher Teil des Parlamentsklubs der SRS, wobei nun diese „Dissidenten“ die SNS, die Serbische Fortschrittspartei, gründeten; sie will eine nationalkonservative Kraft sein. Hat die SNS Erfolg – und darauf deuten Lokalwahlen in einigen serbischen Gemeinden hin – könnte das die Transformation des serbischen Parteiensystems beschleunigen und damit dem Land größere Stabilität verleihen. Erst wenn die SRS zu einer Randerscheinung und aus der SNS eine serbische HDZ geworden sein wird, kann dieser Prozess als abgeschlossen betrachtet werden. Doch sowohl im Fall der kroatischen HDZ als