Die Melodie des Mörders. Miriam Rademacher

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Название Die Melodie des Mörders
Автор произведения Miriam Rademacher
Жанр Ужасы и Мистика
Серия
Издательство Ужасы и Мистика
Год выпуска 0
isbn 9783943709315



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für mich. Es gibt nur wenige gute Organisten in unserer Gegend«, erklärte Jasper. »Heute kam er her, um den morgigen Adventsgottesdienst vorzubereiten.«

      »Und du bist dir sicher, dass es kein Unfall war? Die Orgelpfeife kann nicht von irgendwoher auf ihn herabgestürzt sein?«, fragte Colin und musterte die Pfeife, die noch immer halb auf Cliffords totem Körper lag. Das Ding war fast so lang wie der Tote selbst und hatte fast zehn Zentimeter Durchmesser. Ein langer Riss in ihrer Außenhülle wies darauf hin, dass auch die Pfeife die Begegnung mit Cliffords Schädel nicht unbeschadet überstanden hatte.

      »Natürlich bin ich mir sicher«, sagte Jasper. »Oder siehst du über uns vielleicht irgendwelche Orgelpfeifen? Die befinden sich auf der anderen Seite dieser Wand. Im Kirchraum.«

      »Aber wie ist dann diese Pfeife hierhergekommen?«, wollte Colin wissen.

      »Die stand schon seit einer Ewigkeit auf dem Orgelboden herum. Wir wussten nicht, wohin damit. Sie wurde bei einer Reparatur gegen eine neue Pfeife ausgetauscht und vom Orgelbauer vergessen. Danach stand sie irgendwie immer im Weg und wanderte von einer Ecke in die andere.«

      »Das heißt also, dass die Tatwaffe dem Mörder quasi auf einem Silbertablett serviert wurde. Sieht mir nicht nach einer geplanten Tat aus. Und du hast keine Ahnung, wer bei ihm hier oben gewesen sein könnte?«

      »Clifford ist allein hier heraufgestiegen. Und ich habe auch nicht bemerkt, dass ihm irgendwer gefolgt ist. Die Schauspieler waren alle bei mir unten im Kirchraum«

      »Gibt es einen anderen Weg hierher?«, fragte Colin und sah sich im Halbdunkel des Raumes um.

      »Nein. Hierher führt nur diese eine Treppe, die wir beide gerade heraufgekommen sind.«

      Colin zog eine Augenbraue hoch. »Das bedeutet, der Mörder muss durch den Kirchraum zu ihm heraufgekommen sein. Kann es sein, dass ein Fremder an allen Schauspielern der Krippenspielprobe vorbei unbemerkt bis hierher gelangt ist?«

      Jasper legte die Stirn in Falten. »Nein, das kann ich mir kaum vorstellen. Natürlich ist denkbar, dass ich einen Fremden, der die Kirche betrat, übersehen habe. Ich kann meine Augen ja nicht überall haben. Aber er kann unmöglich von uns allen unbemerkt rein- und wieder rausgeschlichen sein. Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen.«

      »Damit wäre der Täterkreis bereits klar einzugrenzen«, stellte Colin fest. »Der Mörder ist demnach unter deinen Darstellern zu finden. Er schlich sich in einem günstigen Moment die Treppe hinauf, erschlug den Organisten mit der Pfeife, kam wieder herunter und nahm seinen Platz im Krippenspiel wieder ein.«

      »Ich kann das nicht glauben«, rief Jasper aus. »Ich kenne die meisten dieser Leute schon genauso lange wie Clifford. Nein. Ich will das auch gar nicht glauben.«

      »Dann schlage ich dir eben ein anderes Szenario vor«, meinte Colin. »Der Orgelpfeife sind Flügel gewachsen, sie hat sich in die Lüfte geschwungen und ist über dem Schädel deines Organisten abgestürzt. Zufrieden damit?«

      »Nicht wirklich«, antwortete Jasper und nahm seine tadellos saubere Brille ab, um die Gläser mit einem Taschentuch abzuwischen.

      Übersprunghandlung, stellte Colin fest. Jasper war noch immer aufgeregt und nicht ganz bei sich. »Nun, ich fürchte, dann bleibt uns nur eine der ersten beiden Versionen. Und die wahrscheinlichere ist, dass der Mörder sich bereits in der Kirche befand und diese nach dem Mord auch nicht direkt wieder verließ. Jetzt sollten wir Mike Dieber dazubitten. Da es sich hier ganz eindeutig um einen Mord handelt, bringen wir uns nur in Schwierigkeiten, wenn wir die Polizei weiterhin außen vor lassen.«

      »Gut.« Jasper setzte sich die Brille wieder auf die Nase. Colin bemerkte, dass die Hand seines Freundes leicht zitterte. »Holen wir Mike dazu. Nein, hol lieber du Mike dazu. Ich möchte hierbleiben. Ich sollte hierbleiben.«

      Colin sah seinen Freund etwas beunruhigt an. Noch immer war der Pfarrer etwas blass um die Nase. »Jasper, bist du sicher, dass du in Ordnung bist? Vielleicht solltest du erst einmal einen Brandy oder so etwas trinken. Das beruhigt die Nerven.«

      »Ich will meine Nerven jetzt nicht beruhigen. Und ich bin auch nicht in Ordnung. Der Mann, der hier vor uns liegt, ist Clifford. Er war mein Freund. Er liebte Mandarinen und Händels Wassermusik. Er ist nicht irgendein namenloser Toter. Er ist auch nicht irgendjemand, den ich gar nicht richtig leiden konnte. Clifford wird fehlen, wird in der Gemeinde eine nicht zu schließende Lücke hinterlassen. Ganz davon abgesehen, dass ich jetzt während der Gottesdienste wohl selbst die Mundharmonika spielen muss, bis sich ein Ersatz gefunden hat. Organisten wachsen schließlich nicht auf Bäumen. Schon gar nicht solche wie Clifford.«

      »Er war gut in seinem Job?«, fragte Colin und sah auf den Toten herab, dessen mit Blut bespritzte Hände nie wieder eine Orgel zum Klingen bringen würden.

      »Er war ein Profi der besonderen Art. Die meisten Organisten schätzen es nicht, wenn man in letzter Minute noch das Programm über den Haufen wirft und sie unvorbereitet spielen müssen. Ich hingegen schätze Spontaneität. Und Clifford konnte herrlich improvisieren, hat nie gemeckert und war stets mit allem einverstanden. Er war ein Vollblutmusiker und ein guter Mensch. Ich glaube, den Satz sollte ich mir für die Trauerfeier notieren.«

      Während Jasper seine Taschen nach einem Stift und einem Stück Papier durchsuchte, studierte Colin weiter den Tatort.

      Ein paar Notenblätter, ebenfalls blutbeschmiert, lagen um die Orgel verstreut. Colin entzifferte den Titel eines bekannten Weihnachtsstückes. Er lautete: Pipes of Peace. Mit Blick auf die Orgelpfeife und den Körper des Toten empfand er diese Worte als bittere Ironie. Laut sagte er: »Und doch muss irgendjemand diesen netten Menschen gehasst haben. Sein Mörder hat ziemlich brutal zugeschlagen. Was für einen Grund könnte jemand gehabt haben, ihn zu töten, was meinst du?«

      »Niemand hat Clifford gehasst, und mir fällt auch niemand ein, der ihn hätte töten wollen. Er war das, was man einen charmanten Trottel nennen würde. Ein ewiger Junggeselle. Freundlich zu jedermann. Gutherzig und arglos. Ich weigere mich, etwas anderes zu glauben«, antwortete Jasper und klang ein wenig bockig.

      Colin beschloss, das Gespräch über Clifford an diesem Punkt abzubrechen. Es war wirklich allerhöchste Zeit, Mike in die Geschehnisse einzuweihen. »Dann gehe ich jetzt Mike holen. Kann ich dich auch wirklich hier alleinlassen?«, fragte er, noch immer besorgt um seinen Freund.

      »Ich bitte sogar darum. Im ersten Schrecken bin ich einfach davongelaufen. Dabei ist es an der Zeit, innezuhalten. Zeit für ein Gebet für Clifford. Geh jetzt und hole den Sergeant, Colin.« Mit diesen Worten senkte Jasper das Kinn auf die Brust und faltete die Hände.

      Colin ging. Er selbst gehörte nicht zu den Menschen, die Frieden im Gebet fanden. Und fast beneidete er Jasper um seinen Glauben und seine Rituale, die ihm angesichts eines Mordopfers Halt gaben. Colin hatte diesen sicheren Halt nicht. Er balancierte sich immer wieder neu aus. Wie auf dem Tanzparkett.

      Noch immer dröhnte der Salsa-Rhythmus aus den Boxen, als Colin in das Gemeindehaus zurückkehrte. Fast alle Anwesenden hatten auf Stühlen am Rand der Tanzfläche Platz genommen und feuerten die letzten verbliebenen beiden Paare an. Es handelte sich um das fidele Ferkel, in dessen Armen eine schweißnasse Mary Bittner glänzte, und um ein junges Paar aus einem Nachbardorf. Deren beider Vornamen hatte sich Colin beim besten Willen nicht merken können. Irgendetwas Skandinavisches.

      Mike Dieber drückte sich nahe der Theke herum und versuchte, den Anschein zu erwecken, dass er Ruth Dimbridge bei der Getränkeausgabe unterstützen musste. Mit schmalen Augen sah Colin sich um. Mutterseelenallein stand eine enttäuschte Shelby zwischen den anderen Gästen. Colin hätte Mike am liebsten mit dem Kopf ins Spülwasser getunkt. Stattdessen packte er den jungen Mann am Ärmel und raunte ihm ins Ohr: »In der Kirche gibt es Arbeit für dich. Jasper erwartet dich auf dem Orgelboden. Ich löse hier die Versammlung auf.«

      Mike, dankbar darüber, die Flucht ergreifen zu dürfen, eilte davon, während Colin die Musik abdrehte und die beiden letzten Paare zu Siegern erklärte. Die Menge