Brennpunkt Ukraine. Christian Wehrschütz

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Название Brennpunkt Ukraine
Автор произведения Christian Wehrschütz
Жанр Социальная психология
Серия
Издательство Социальная психология
Год выпуска 0
isbn 9783990403389



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Russen. Ein beträchtlicher Anteil der ethnischen Ukrainer, vor allem im Osten, ist wirklich in der russischen Kulturwelt aufgewachsen und spricht lieber Russisch. Natürlich gibt es dabei auch eine Spaltung: Vor allem im Osten wird Ukrainisch eher in den ländlichen Gebieten gesprochen, während das Russische die Sprache in den Städten ist. Es existiert also auch noch eine Land-Stadt-Trennung.

      Aber ich denke, ich habe in meinem Buch über Stalin beschrieben, wie er Galizien, die anderen westlichen Territorien, die baltischen Staaten und die Republik Moldau nach dem Hitler-Stalin-Pakt einnimmt und dann natürlich am Ende des Zweiten Weltkrieges zurückerobert – und wie das Integrieren in die Sowjetunion einen „Krebs“ in das System brachte. Ich bin noch immer nicht davon überzeugt, dass die Sowjetunion auseinandergebrochen wäre, wenn das Band von Territorien – das Baltikum – zumindest nominell unabhängig geblieben wäre und der Rest dort gelassen worden wäre, wo er war, in Polen und der Slowakei, der Tschechoslowakei dann. Aber das ist Spekulation, wir wissen das. Und ich habe in dem Buch beobachtet, dass die Balten in allen anderen Republiken tatsächlich eine Opposition zum sowjetischen Zentrum organisierten. So veröffentlichten die Esten zum Beispiel regimekritische Zeitungen in kasachischer Sprache. Sie teilten die Sowjetunion auf, jeder nahm drei oder vier Republiken und versuchte, eine unabhängige Bewegung in ihnen zu fördern. Ich bin mir nicht sicher, ob das entscheidend war, aber der wirkliche Impuls in der Ukraine kam natürlich vom Westen und war sehr nationalistisch. Und da war natürlich die Art und Weise, wie die vereinigte Kirche unterdrückt worden war. Eigentlich gab es mehr Gewalt dort im Westen, weil eine Art Guerillakrieg für mehrere Jahre am Ende des Krieges fortgeführt wurde, bis zu einem gewissen Grad unterstützt vom Westen, wenn auch heimlich.

      Obwohl das Referendum im Dezember 1991 mit überwältigender Mehrheit für die Unabhängigkeit war, war das, glaube ich, eine Zweckehe zwischen den Nationalisten im Westen und der Partei im Osten. Und diese dauert in der unabhängigen Ukraine weiter an.

       Aber auf der anderen Seite bedeutet russischsprachig doch nicht prorussisch?

      Nein, das ist richtig, absolut. Nun, russischsprachig bedeutet nicht, dass die Menschen unbedingt in Russland leben und in die aktuelle Russische Föderation wollen. Ich denke, es bedeutet, dass sie im Wesentlichen in einer Welt leben wollen, die der russischen Kultur verpflichtet ist. Sie wollen sich sicher fühlen, dass die Verwendung von Russisch sie nicht zu Bürgern zweiter Klasse macht. Ich denke also in diesem Sinne, dass die erste Abstimmung nach der Maidan-Revolte vornehmlich darauf zielte, das Ukrainische zur einzigen Amtssprache zu machen. Ehrlich gesagt, das war einfach nur dumm, weil die Ukraine nicht weiter zusammenbleiben wird, wenn man es aufgrund von Sprachdifferenzen nicht schafft, eine gemeinsame Loyalität zur ukrainischen Nation zu entwickeln. Die Regelung zur Amtssprache muss auch Russisch beinhalten, wenn man die Russisch sprechenden Menschen, unabhängig davon, ob sie russischer oder ukrainischer Herkunft sind, als vollwertige ukrainische Bürger mit einer Loyalität gegenüber dem Staat mit einschließen will.

      Im Osten ist das Sprachproblem auch ein Problem der Generationen. Dort gibt es ältere Menschen, die mit einer gewissen Nostalgie an die Sowjetunion zurückdenken. Für sie sah es damals stabiler aus und vielleicht hatten sie dort einen Platz. Am Beispiel der Babuschkas36, die sich in Donezk aufgelehnt haben, und der ebenfalls älteren Frauen, die Stalin-Bilder mit sich tragen, lässt sich das gut zeigen. Das ist aber ein Phänomen, das man nicht nur in Teilen der Ukraine findet. Es gibt eine Reihe dieser Splits und ich möchte damit nicht sagen, dass eine große Zahl der russischsprachigen Menschen im Osten der Ukraine tatsächlich Teil Russlands sein will. Die Dinge in Russland auf der anderen Seite der Grenze sind nicht so viel besser. Aber die Menschen wollen respektiert werden und ich denke, dass dies eine Grundsatzfrage ist – ein Problem, das die führenden Politiker im Westen noch nicht ganz verstanden haben.

      Bevor wir auf die aktuelle Situation zu sprechen kommen, habe ich noch eine historische Frage: Warum wurde die Ukraine nach dem Ersten Weltkrieg in dieser Form gegründet, ohne die westlichen Teile? Und auch die Krim war kein Teil davon, Donezk und Lugansk waren wiederum russische Gebiete des zaristischen Russlands. Es gab keine Ukraine im zaristischen Russland – und das erinnert mich ein wenig an die Situation, wie sie im ehemaligen Jugoslawien war: Nach dem Ersten Weltkrieg war Slowenien in drei Teile aufgeteilt. Es gab ebenfalls Probleme, es gab kein Slowenien als Nationalstaat, sondern nur die Provinz Slowenien. Auf der anderen Seite hatte man unter Titos Zeiten eine autonome Republik, die autonomen Gebiete Kosovo und Vojvodina und dann war da immer die Kritik der serbischen Nationalen oder serbischen Intellektuellen, dass ein starkes Jugoslawien immer ein schwaches Serbien bedeuten würde. Was waren für die kommunistische Führung am Ende der Revolution und nach dem Bürgerkrieg die Gründe, die Ukraine zu bilden? Geschah dies, um Russland zu schwächen, oder was war der Grund? Was meinen Sie dazu?

      Nun, wenn es um Nationalitäten geht, war Stalin wahrscheinlich die wichtigste Figur. Er hat wirklich versucht, Menschen zusammenzubringen, die nicht unbedingt zusammen sein wollten, also Abchasien mit Georgien und Südossetien mit Georgien anstatt mit Nordossetien usw. Ein Ziel seiner Nationalitätenpolitik war es, „gemischte“ Bereiche zu schaffen – was jeden Schritt in Richtung echte Unabhängigkeit behindert hat. Ich bin zumindest dieser Behauptung begegnet und natürlich hat man im Donbass daran erinnert, dass die Kosaken eine verächtliche Haltung gegenüber den Ukrainern, den Bauern, einnahmen. Sie wurden Khokhol genannt. Das bedeutet auf Russisch „Wasserspeier“, eine Art Schimpfwort für die Ukrainer. Und doch waren diese Länder die Kosaken-Länder, die sich im 17. Jahrhundert Russland angeschlossen hatten. Aber auch sie wurden geteilt, weil die Kosaken im Wesentlichen Russisch sprachen und sich selbst als Russen sahen. Sie waren entlaufene Leibeigene, die ihre Unabhängigkeit von ihren Herren bekamen, aber in die Grenzgebiete gingen und in der Tat eine Miliz bildeten. Die Kosaken wurden zum Puffer gegen die Nomadenvölker, die gelegentlich die Gegend überfielen.

      Ich denke also, dass die Ukraine tatsächlich „Grenzland“ bedeutete, so wie dies für die „Ostmark“ im Osten des Frankenreichs galt. Da Stalin und die anderen bolschewistischen Führer wollten, dass man die nicht-russischen Nationalitäten respektierte, teilten sie diese Republiken auf und gaben ihnen Namen, die normalerweise vielleicht die Mehrheit der Bevölkerung vertraten, manchmal nicht einmal die Mehrheit. Aber sie behaupteten: Okay, wir haben keinen großen russischen Chauvinismus, wie die Zaren ihn hatten, und wir respektieren diese Nationalitäten. Natürlich wurde von allen Nationalitäten erwartet, loyal zu den Bolschewiki und zum Kommunismus als Ideologie zu sein. Natürlich entwickelten sie auch die Idee, dass der neue sowjetische Mensch fast frei von diesen nationalistischen Tendenzen sein und eine höhere Treue zum Gesamtstaat haben müsse.

      Ich glaube, Gorbatschow hat die Kraft des lokalen Nationalismus nie wirklich verstanden. Er dachte tatsächlich, man hätte einen sowjetischen Menschen in diesem Sinne geschaffen. Und das ist – zusammen mit KGB-Desinformation – ein Grund dafür, dass ihm nicht bewusst war, wie stark einige dieser Tendenzen waren. Ich meine, ihm wurde zum Beispiel durch den KGB gesagt, dass nicht viele Litauer Landsbergis37 etc. wirklich unterstützten, was einfach nicht der Wahrheit entsprach.

      Der Punkt ist, dass Stalin und die anderen bolschewistischen Führer die Fassade des Respekts für die nicht-russischen Völker aufrechterhalten wollten – ohne dass sie wirklich die Kontrolle über sie hatten. Einige der ersten Säuberungen in der Ukraine waren natürlich gegen Angehörige der ukrainischen Nationalität gerichtet. Galizien und die westlichen Gebiete waren in den 1920er- und 1930er-Jahren noch nicht einmal Teil der Ukraine. Aber auch damals gab es eine historische Trennung zwischen den Bereichen westlich von Kiew, die Teil des Königreichs Polen und Litauen gewesen waren, und denen, die weiter östlich lagen, die russisches Grenzland gewesen waren. Und wenn man diese Dinge alle zusammensetzt, schafft man jene Situation, die wir heute haben. Und natürlich ist die Krim noch einmal eine völlig andere Frage.

       Glauben Sie, dass eine Art militärische Lösung mit vertretbarem Aufwand überhaupt möglich ist?

      Ich habe keine Ahnung. Ich bin nicht nah genug dran. Man sieht so viele widersprüchliche Berichte, wer was tut, und offensichtlich war die russische Propaganda sehr stark. Aber ich denke, auch Kiew hat uns nicht immer ein vollständiges Bild von dem gegeben, was geschehen ist. Alle verzerren die Berichte in ihre eigene Richtung. Offenbar war die ukrainische Armee viel besser