Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Katharina Bock

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solcher die Liebenswürdigkeit, den Wert des Nichtjuden bezeugen kann“ (Theisohn/Braungart 2017b: 11). Nach Theisohn und Braungart ist Philosemitismus also nicht allein als „polemische Klassifizierung, sondern darüber hinaus als ein diskursives Phänomen“ zu verstehen (2017b: 13). Diese Auffassung des Begriffs rechtfertigt die Verwendung des Begriffs ‚Philosemitismus‘ als Bezugsgröße gegenüber seiner Ausdehnung auf das Konzept ‚Allosemitismus‘. Dabei sei keineswegs die Behauptung aufgestellt, dass die Einteilung in Philo- und Antisemitismus in jedem Fall eine sinnvolle ist. Es hängt vielmehr von der Fragestellung ab, ob an der Begriffsdualität aus ‚philo‘ und ‚anti‘ festgehalten werden sollte, oder ob eine Untersuchung des gesamten allosemitischen Diskurses, wie bei Thurn und Kjærgaard, sinnvoller ist. Im Falle der vorliegenden Arbeit sind es dezidiert die Eigenschaften des philosemitischen Diskurses, welche die Ähnlichkeit zwischen den untersuchten Texten herstellen. Denn untersucht werden nicht nur sämtliche dänische Erzähltexte nicht-jüdischer Autor*innen, die in den 1820er- bis 1850er-Jahren erschienen sind. Diese Texte sind auch ohne Ausnahme Teil eines ausdrücklich philosemitischen Diskurses, nicht eines weiter gefassten, allosemitischen. Sie unterscheiden sich darin deutlich von den nicht-literarischen Texten derselben Epoche, die sich viel stärker als die literarischen Texte neben einer philosemitischen auch einer ausdrücklich judenfeindlichen, diffamierenden Semantik bedienen, und die so tatsächlich als Teile eines allosemitischen Diskurses begriffen werden müssen. Durch diese Differenzierung der Diskurse kann Philosemitismus als spezifisch literarisches Phänomen sichtbar gemacht werden. Der Titel der Untersuchung, Philosemitische Schwärmereien, markiert gleichwohl meine eigene Distanziertheit gegenüber einer unreflektierten Verwendung des Begriffs und unterstreicht darüber hinaus den phantasmatischen Objektcharakter,5 den die jüdischen Figuren in allen Erzähltexten dieser Untersuchung haben. Der Philosemitismusbegriff, der mich durch diese Arbeit leitet, ist stets zusammen mit der Schwärmerei gedacht, mehr noch, er ist per definitionem schwärmerisch. Überdies scheint der Gebrauch des Philosemitismusbegriffs nicht nur trotz, sondern gerade wegen der begriffsgeschichtlich bereits angelegten Ambivalenz geeignet, um ein Phänomen zu erfassen, das seinerseits durch Ambivalenz und unscharfe Grenzverläufe gekennzeichnet ist.

      Die erste Textanalyse dieser Arbeit stellt einen Auftakt für die folgenden Kapitel dar. Anhand der Novelle Den gamle Rabbin [Der alte Rabbiner] von Bernhard Severin IngemannIngemann, Bernhard Severin (1798–1862) aus dem Jahr 1827 sollen hier Themen, Motive und Topoi aufgezeigt werden, die für die Untersuchung der darauffolgenden Erzähltexte im weiteren Verlauf der Arbeit notwendig zu kennen sind. Zunächst einmal sind das die Topoi ‚die schöne Jüdin‘ und ‚der edle Jude‘ ebenso wie die Figur des ‚ewigen Juden‘ Ahasverus. Das sind aber auch Fragen nach Religion, jüdischer Emanzipation und Judenfeindschaft, nach der Säkularisierung der Gesellschaft und der Rolle der Kunst und des Künstlers in diesem Diskursgeflecht. Ergänzend werden zwei weitere Erzähltexte in die Analyse einbezogen und dort mit der Novelle in Beziehung gesetzt, wo diese Kontextualisierung zum Verständnis der Novelle beiträgt. Beides sind Texte von Hans Christian AndersenAndersen, Hans Christian: sein fast 30 Jahre später erschienenes Märchen Jødepigen und sein Debütroman Fodreise fra Holmens Canal til Østpynten af Amager i Aarene 1828 og 1829, kurz: Fodreise, der 1829 erschien.

      Bei der Untersuchung von Texten mit jüdischen Figuren ist es kaum vermeidbar, immer wieder Stereotype aufzugreifen, sie explizit zu benennen und dadurch wiederum zu perpetuieren und zwar auch dort, wo Texte analysiert werden, die diese Stereotype selbst zu unterlaufen suchen (vgl. hierzu Sucker/Wohl von Haselberg 2013: 13–17). Dieses Paradox innerhalb der literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung wird seit den 2000er-Jahren selbstreflexiv thematisiert und durch Analysemethoden, die sowohl die Flexibilität von Vorurteilen als auch das Verhältnis zwischen Selbst- und Fremdbild berücksichtigen, zu vermeiden versucht (vgl. Körte 2000: 12–14, 2007: 59–73; Schößer 2009: 32–36; Gutsche 2014: 43; Thurn 2015: 67–68). Jedoch: Um Stereotype zu entlarven, müssen sie benannt werden; jede Benennung verfestigt diese Stereotype wiederum. Ich werde in dieser Untersuchung also Stereotype dort benennen, wo sie für die Untersuchung aufgezeigt werden müssen, weil dies für die Analyse notwendig und fruchtbar ist. Jedoch nehme ich Abstand davon, dort explizit auf sie hinzuweisen, wo dies zu einer reinen Aufzählung führen würde, die über die Motivgeschichte hinaus keinen Erkenntnisgewinn brächte.

      2.1 Den gamle Rabbin – Kontext und Einstieg

      IngemannIngemann, Bernhard Severin wird oftmals als als einer der progressiven Autoren seiner Zeit bezeichnet, als derjenige, der „indfører tysk romantiks fantastik i Danmark [die Phantastik der deutschen Romantik in Dänemark eingeführt hat]“ (Lundgreen-Nielsen/Harding 2017). Insbesondere Ludwig Tieck und E. T. A. HoffmannHoffmann, E. T. A. waren prägend für sein Schreiben, aber auch die zeitgenössische englische Literatur beeinflusste ihn stark, vor allem Sir Walter ScottsScott, Sir Walter neue Gattung des historischen Romans und die Gothic Novel, beziehungsweise der Schauerroman (vgl. hierzu Müller-Wille 2016: 153–182). Dabei überschritt Ingemann in seinem eigenen Schreiben Gattungsgrenzen, er experimentierte mit Neumodischem, Populärliterarischem und Autofiktivem, dichtete auch etliche religiöse Psalmen und gilt nicht zuletzt als einer der einflussreichsten Autoren für den eine knappe Generation jüngeren Hans Christian AndersenAndersen, Hans Christian, mit dem Ingemann freundschaftlich verbunden war (vgl. Kofoed 1992). Im Gegensatz zu Andersen ist Ingemann jedoch recht wenig beforscht. In den 1980er und 1990er-Jahren sind einige Aufsätze erschienen, die sich mit Ingemanns Schreiben und den literarischen Einflüssen befassen, die in seine Dichtung Eingang fanden (vgl. z.B. Albertsen 1989; Eriksen 1999; Glauser 1987; Lundgreen-Nielsen 1989; Rossel 1990). Seit Beginn der 2000er-Jahre hingegen ist es in der literaturwissenschaftlichen Forschung stiller um Ingemann geworden, eine Biographie über ihn erschien gar zuletzt 1949 (Langballe, C. 1949). Hier nun soll es um eine Novelle gehen, die 1827 veröffentlich wurde und die erste in einer Reihe von Texten ist, in denen jüdische Figuren Eingang in die dänische Erzählliteratur finden.

      Die Novelle Den gamle Rabbin von IngemannIngemann, Bernhard Severin scheint auf den ersten Blick wenig bemerkenswert. Dem Auge der heutigen Leserin stellt sich eine Figurenkonstellation dar, die stereotyper und klischeehafter kaum sein könnte. Ein alter Jude, der tiefreligiöse Rabbiner Philip Moses, und seine wunderschöne, fromme, duldsame und fürsorgliche Enkeltochter Benjamine haben bei den säkularisierten und zum Teil bereits fast vollständig assimilierten Juden ihrer Hamburger Gemeinde keine Heimat mehr. Sowohl geistig als auch räumlich sind sie innerhalb der jüdischen Gemeinde heimatlos. Benjamine hat weder Vater noch Mutter. Ihre Onkel, die beiden Söhne des alten Philip Moses, sind ein skrupelloser und reicher Juwelenhändler (Samuel) und ein in der bürgerlichen Ehe mit einer Christin assimilierter Kleiderhändler (Isaak), die ihre Herkunft und Religion weitestgehend abgestreift haben. Als Retter in mehrfacher Hinsicht erweist sich ein junger Christ und Künstler, Veit, der die beiden Heimatlosen bei sich aufnimmt, und den Benjamine mit dem posthumen Segen ihres Großvaters, der auf dem Totenbett endlich vom Heiligen Geist heimgesucht wird, ehelichen darf und dessen Religion sie im Herzen bereits längst angenommen hat.

      So zusammengefasst stellt die Novelle tatsächlich eine idealtypische Anhäufung von Klischees dar, die kaum den Ruf IngemannsIngemann, Bernhard Severin als progressivem und experimentierfreudigem Autor zu rechtfertigen scheinen. In ihrer Schablonenhaftigkeit erscheint die Novelle vielmehr altbacken, bieder und vorhersehbar. Betrachtet man die literarische Landschaft der Zeit aber genauer und sucht nach den literarischen Vorgängern und Vorgängerinnen des alten Rabbiners und seiner schönen Enkelin in der dänischen Literatur, findet man – fast nichts. So verdient der Text als erster seiner Art in Dänemark eben doch Beachtung.

      2.2 Prototypen

      Obwohl die Novelle eine Neuerung in der literarischen Landschaft Dänemarks darstellt, sind die Topoi, auf die sie zurückgreift, keineswegs unbekannt. In der deutschsprachigen und auch der englischen Literatur finden sich literarische Vorbilder, die über die Landes-, Gattungs- und Epochengrenzen hinaus wirksam sind. In den folgenden beiden Abschnitten sollen die Topoi vorgestellt werden, die in allen hier untersuchten Novellen