Philosemitische Schwärmereien. Jüdische Figuren in der dänischen Erzählliteratur des 19. Jahrhunderts. Katharina Bock

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diesem literarisch noch unbeschriebenen und autobiografisch aufgeladenen Ort, der jütländischen Heide, platziert BlicherBlicher, Steen Steensen in seiner Novelle Jøderne paa Hald eine jüdische Familie aus Amsterdam. Die Novelle erschien 1828, doch es ist nicht das erste Mal, dass Blicher über Juden schreibt. Bereits 1813 hatte er sich an der „literarischen Judenfehde“ beteiligt (vgl. Kapitel 1.3). Als Befürworter der Gleichstellung der Juden hatte er in zwei Schriften (Blicher 1983a, 1983b) aktiv Stellung gegen das judenfeindliche Pamphlet Moses und Jesus von BuchholzBuchholz, Friedrich und dessen Übersetzer ThaarupThaarup, Thomas (Buchholz/Thaarup 1813) bezogen. Blichers Novelle Jøderne paa Hald, die 15 Jahre später erschien, wird in der Forschung meist lediglich als literarisierte Version seines politischen Standpunktes interpretiert (vgl. z.B. Kjærgaard 2011, 2013: 49–65; Törne 1980: 13–15; Tudvad 2010: 338–339), der allerdings keineswegs so eindeutig ist, wie die vereinfachende Einteilung in „Gegner“ und „Befürworter“ der Judenemanzipation suggeriert. Die Frage nach Blichers Haltung stellt sich insbesondere im Hinblick auf zwei Artikel, die 1838 und 1839 unter dem Pseudonym „Ø“ erschienen, und in denen der Verfasser sich deutlich gegen das passive Wahlrecht von Juden und somit gegen die weitere und endgültige Gleichstellung ausspricht (Blicher 1928, 1929). Die Verfasserschaft Blichers ist zwar nicht belegt, schien den Herausgebern der gesammelten Werke Blichers 1928/1929 jedoch wahrscheinlich genug, um die Texte in die Gesamtausgabe aufzunehmen (vgl. Albøge 1987: 27). Die scheinbare Widersprüchlichkeit zwischen den emanzipationsbefürwortenden Blicher-Schriften von 1813 und der ablehnenden Haltung, die in den beiden Artikeln von 1838 und 1839 zu Ausdruck kommt, war einer der Gründe für den Literaturwissenschaftler Björn von Törne, die Autorschaft Blichers bei den Ø-Texten anzuzweifeln (Törne 1980: 27). Gordon Albøge, Mitglied der dänischen Blicher-Selskab, reagierte 1987 mit einer akribischen Darlegung, warum Blichers Autorschaft im Falle der Ø-Texte keineswegs unwahrscheinlich sei. Peter Tudvad, der in seiner Monografie zu KierkegaardsKierkegaard, Søren Antisemitismus auch ausführlich Bezug auf das gesellschaftliche und politische Umfeld Kierkegaards nimmt, sieht sich wie Törne „fristet til at identificere [Ø] med biskop (Nicolai Esmark) Øllgaard [versucht, Ø als Bischof (Nicolai Esmark) Øllgaard zu identifizieren]“ (Tudvad 2010: 167), wobei Tudvad nicht mit dem vermeintlichen Widerspruch zu Blichers früheren Texten argumentiert, sondern die Verfasserschaft, da sie sich nicht eindeutig klären lässt, schlicht offen lässt. Kristoffer Kjærgaard wiederum zeigt sich von der Verfasserschaft Blichers überzeugt und sieht wie Albøge keinen Widerspruch zwischen den früheren, emanzipationsfreundlichen Pamphleten Blichers und den späteren Polemiken von „Ø“. Kjærgaard argumentiert, dass eine widersprüchliche oder sich verändernde Haltung genuiner Teil des semitischen Diskurses sei. Damit benennt Kjærgaard den Punkt, der auch bei der Lektüre der Blicher-Novelle, aber auch aller anderen Texte dieser Untersuchung augenfällig ist: die Ambivalenz und das Changieren der ‚philosemitisch‘ zu nennenden Texte, in denen immer auch die Möglichkeit zur Judenfeindschaft und zur Inakzeptanz gegenüber Juden und Jüdinnen mitschwingt. So bezieht Kjærgaard, wie vor ihm bereits Törne und Albøge, auch die Novelle Jøderne paa Hald in seine Arbeit zur politischen Verfasserschaft Blichers ein und liest sie als literarisierte Version von Blichers politischem Standpunkt: „,Jøderne paa Hald‘ har et klart didaktisk sigte og en politisk pointe at formidle, en pointe der først og fremmest åbenbarer sig, når den betragtes i relation til Blichers tekster om den jødiske tilstedeværelse [‚Jøderne paa Hald‘ hat eine klare didaktische Ansicht und eine politische Pointe zu vermitteln, eine Pointe, die sich vor allem dann offenbart, wenn man sie in Relation zu Blichers Texten über die Gegenwärtigkeit der Juden betrachtet]“ (Kjærgaard 2013: 116). Die Literarizität der Novelle wird aus dieser Perspektive jedoch explizit nicht berücksichtigt, der Komplexität und Ambivalenz des literarischen Textes kann so nicht Rechnung getragen werden. Eine vertiefte Auseinandersetzung mit dem Text und seinen verschiedenen Ebenen steht bisher noch aus. Dieses Forschungsdesiderat soll nun geschlossen werden.

      3.2 Jøderne paa Hald – Aufbau und Rahmen

      BlichersBlicher, Steen Steensen Novelle spielt auf zwei Zeitebenen. Die Rahmenhandlung ist auf das Erscheinungsjahr 1828 festgelegt. Die Stimme des autodiegetischen Erzählers vermischt sich mit der des Autors – weshalb im Folgenden der Erzähler der Rahmenhandlung als Autor-Erzähler bezeichnet werden soll –, nimmt schließlich sogar direkt auf ihr eigenes Publikationsorgan Bezug, die von Blicher selbst herausgegebene literarische Monatsschrift Nordlyset [Nordlicht]. Die Novelle spielt hier mit ihrer eigenen Literarizität und erweckt den Anschein einer exklusiven Enthüllungsgeschichte. Der Autor-Erzähler schildert seine Kindheitserinnerungen an das Schloss und an drei geheimnisvolle Porträts, die „eksisterer endnu og kan af enhver behagelig tages i Øjesyn [noch immer existieren und von einem jeden bequem in Augenschein genommen werden können]“ (Blicher 2007: 71). Vor Kurzem sei er in den Besitz eines Tagebuchs gekommen, das er nun der Öffentlichkeit zugänglich machen wolle. Dieses Tagebuch stellt die Binnenhandlung dar. Sie spielt im Spätherbst eines Jahres im späten 17.Jahrhunderts. Der fiktive Verfasser des Tagebuchs und Ich-Erzähler ist ein junger Mann mit Namen Johan, der sich eingemauert im Kellergewölbe des Schlosses befindet. Er erzählt von den jüdischen Brüdern Salamiel und Joseph Lima und von der schönen Sulamith, die das Schloss Hald eine kurze Weile lang bewohnen und die er noch aus seiner Jugendzeit in Amsterdam kennt.

      Das Herrenhaus Hald, das in der Novelle oft auch als Schloss bezeichnet wird, gibt es tatsächlich, ebenso wie es eine jüdische Familie de Lima gab, denen das Herrenhaus 1664 vom dänischen König Frederik III.Frederik III. übereignet worden war und in deren Besitz es bis 1703 blieb (vgl. Blüdnikow/Jørgensen 1984: 20). Der Leser erfährt die historischen Einzelheiten in der einleitenden Rahmenhandlung, er erfährt dort auch, dass es auf Hald spukt und dass dieser Spuk begann „straks efter at Jøderne var rejst [kurz nachdem die Juden abgereist waren]“ (BlicherBlicher, Steen Steensen 2007: 70). Daraus muss er schließen, dass der Spuk in irgendeiner Weise mit den Juden, die damals auf Hald lebten, zu tun hat. Doch am Ende der Novelle gibt es keine Erklärung für den Spuk, keine Toten, niemanden, der Schuld auf sich geladen hat, niemanden, dessen Seele ewig unerlöst umherwandern muss. Aus der anfänglichen Spukgeschichte wird eine Liebesgeschichte mit Happy End, die sich bekannter Stereotype über Jüdinnen und Juden bedient und als Lösung für die unmögliche Liebesbeziehung zwischen einer Jüdin und einem Christen nur die Konversion der jüdischen Figuren zum Christentum anbietet. Erstaunt bleibt die Leserin zurück und fragt sich, warum die Geschichte so verheißungsvoll schaurig beginnt, wenn sich alle Konflikte, Missverständnisse und scheinbar grausamen Schicksalsfügungen am Ende in Wohlgefallen auflösen. Warum handelt die Novelle überhaupt von Juden, und was macht das Jüdischsein dieser Juden so bedeutsam, dass sie der Novelle den Namen geben?

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