Hundert Geschichten. Quim Monzo

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Название Hundert Geschichten
Автор произведения Quim Monzo
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783627021467



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sich Gehorsam verschaffen. Stell dir vor: in unserem Alter, jetzt, wo jeder von uns selbst der kleine Chef einer kleinen Wahrheit ist. Mach nicht diese blöde Visage. Merkst du nicht, dass sich alle für den Nabel der Welt halten? Neulich hat mir Tèbia erzählt . . .

      A hatte Durst. Er winkte einem Kellner, der so tat, als würde er ihn nicht sehen. B redete wie ein Wasserfall:

      – . . . und Riba hat Geld (und Geld ist für ihn das Allerwichtigste auf der Welt: das einzig Wichtige), und Joan vögelt jede Nacht mit einer anderen (denn für ihn gibt es nichts Wichtigeres als jede Nacht eine andere im Bett, und nach seiner Meinung ist jeder, der seine Zeit mit anderen Dingen vergeudet, etwas beschränkt), und Marcel isst viel (und kann nicht verstehen, wie jemand länger ohne gut gedeckte Tafel auskommen kann) und . . .

      A stellte sich vor, wie ein Blitz die Rambla hinunterzurasen und sich ins Wasser zu stürzen. Der Kellner bediente drei Tische weiter.

      – . . . liest unheimlich viel, und Manel ist derjenige, der in unserer Clique am meisten Amphetamine nimmt (am meisten; also: die Nummer eins), und Marta ist blöd (die Blödste im ganzen Haus: die Nummer eins), und Pere und Núria lieben sich innig (weil sie viele Filme mit Doris Day gesehen haben und, was feste Beziehungen angeht, brechen sie eindeutig den Rekord in unserem Viertel), und Xavier ist introvertiert (vielleicht der einsamste Introvertierte im Land) und Maria die Extrovertierteste . . .

      A senkte den Kopf. Er stellte sich vor, wie das Auto dem Bordstein des Kolumbusdenkmals ausweichend auf die Treppen zuraste, wie B kreischte, das Auto, außer Kontrolle, sich überschlug, umkippte und sanft in das schmierige, öltrübe Hafenwasser fiel.

      – . . . und Eugeni ist derjenige, der in der ganzen Gegend am meisten vor dem Fernseher hockt (der absolute Regionalrekord), und Herr Pere arbeitet viel (mehr als alle anderen in der Werkstatt), und Octavi säuft wie ein Loch (und ist ungemein stolz darauf, der größte Säufer in seiner Familie zu sein), und Tomàs ist ein Filmfanatiker und Manolo gehört zur Avantgarde der Arbeiterklasse und Ignàsia ist Possibilitistin und Eulàlia radikal und Artur schwul und Herr Jaume glücklich und heterosexuell und Andreu Dichter und Fina eine Frostbeule. Alles geht gut, weil jeder sich selbst ist: Jeder hat sein eigenes Verhaltensmuster: Jeder nach seiner Fasson.

      In dem Augenblick, in dem B kurz schwieg, holte A schnell Luft:

      – Wir könnten irgendwohin gehen, wo man uns bedient. Sie standen auf, als der Kellner sich endlich entschlossen hatte, ihren Tisch zu beachten. Er schaute sie empört an und schimpfte vor sich hin. Sie stiegen ins Auto. Sie fuhren um den Platz herum und bogen in die Ronda Universitat ein. Ecke Balmes bremste A. Nach den Straßenlaternen stürzten jetzt auch noch die Gebäude ein.

      Er bog rechts ab, fuhr also die Balmes hoch, das Gekreisch von B, ihr Gekicher und ihre Warnschreie vermengten sich mit den Beschimpfungen der wenigen, aber umso streitlustigeren Passanten auf der Straße. A fiel auf, dass es keine Ampeln gab, wenn man eine Straße in die Gegenrichtung fuhr. Nach der Gran Via kam ihnen das erste Auto entgegen; die drinnen schauten sie ziemlich verdutzt an. Bis zur Diagonal waren es sieben weitere (und keinem der sieben fiel es schwer, die Spur zu wechseln). Ab der Via Augusta war es wieder legal, die Balmes hochzufahren, und die Ampeln zeigten sich wieder von vorne. Sie fuhren die Avinguda del Tibidabo hoch, und als sie oben ankamen, wo die Straßenbahn endet, waren die Bars schon geschlossen. A dachte, es sei Betrug, die Balmes mitten in der Nacht hochzufahren, wenn kaum Autos auf der Straße waren. Sie parkten und schauten, an ein Geländer gelehnt, das über dem Nichts hing, auf die Stadt, die sich zum grenzenlosen Meer hin ausdehnte (und zugleich zusammenzog). Drei Stunden später ging langsam die Sonne auf.

      Globus

      Die ersten zwanzig Jahre seines Lebens verbrachte er beim Zirkus, zog von einem Ort zum anderen und hatte in all den Jahren keine Stadt zweimal betreten. War jemals ein anderer Zirkus so maßlos herumgeirrt ? Als Akrobatenkind war sein Leben eine Folge von neuen Landschaften, und alle paar Wochen freundete er sich mit neuen Zwergen und Clowns, Dompteuren und Löwen, Ponys, Trapezkünstlern, Seiltänzern, Kanonenmännern und Elefanten an. Er kannte drei Buffalo Bills und zwei Indianerinnen, die sich ihre Körperumrisse mit Messern markieren ließen. Mit vierzehn verliebte er sich in ein Mädchen, das an drei Abenden hintereinander auf dem selben Platz in der zweiten Reihe saß. Am dritten Abend (er assistierte der Dame mit den dressierten Schoßhündchen) zwinkerte das Mädchen ihm zu, und er wurde rot. Er wusste nicht, wie reagieren, und als ihm schließlich etwas einfiel, war es zu spät: Er befand sich wieder auf der Landstraße in einer Karawane von Zirkuswagen auf dem Weg in die nächste Stadt.

      Mit dem Zirkus war Schluss, als er zwanzig wurde. Als Grund gab man die alte Geschichte an: Die Konkurrenz von Film und Fernsehen habe dem Zirkus den Todesstoß versetzt. Wer konnte, wechselte in einen anderen Zirkus, aber es gab nicht genug Stellen für alle. Jung wie er war, hätte er Arbeit gefunden (und es nicht nur seinen Erzeugern, sondern den besten Akrobaten der Welt nachtun können), doch er entschied sich anders, er wollte wissen, ob an der berühmten Sesshaftigkeit irgendetwas interessant war.

      Er wurde Beamter bei einer Eisenbahngesellschaft. Er verließ in zwanzig Jahren nicht ein Mal die auserwählte Stadt. Jeden Tag legte er Fahrpläne fest, prüfte und korrigierte sie, ohne dass beim Lesen der Orte auf den Fahrkarten nur ein Funken Sehnsucht aufgekommen wäre. Er, der vor seinem zwanzigsten Lebensjahr den halben Planeten bereist hatte, verbrachte nun weitere zwanzig Jahre eingesperrt zwischen einem ruhigen Heim und einem Eisenbahnerbüro und nahm Tag für Tag den selben Weg. An den ersten Abenden, an denen er gelangweilt daheim saß, erinnerte er sich noch an die Orte aus einer Vergangenheit, die sich jeden Tag weiter entfernte. Er glaubte, nur sesshaft könne er Geschmack an der Sesshaftigkeit finden: Vielleicht brauchte er einfach Zeit, um sich daran zu gewöhnen. Doch bald verlor er nicht nur die Fähigkeit, sich gegen den Alltagstrott zu wehren, der ihn allmählich auffraß, sondern war auch (was viel schlimmer war) am Tage nicht mehr in der Lage, die Erinnerungen wachzurufen. Stattdessen träumte er nun mit einer meisterlichen Präzision jede Nacht ein paralleles Leben, das nichts anderes war als die Wiederholung seines bisherigen Lebens mit zwanzig Jahren Verspätung. So kam es (er träumte ja in jeder Nacht den Tag von vor zwanzig Jahren), dass er an seinem vierzigsten Geburtstag träumte, wie der Zirkus dichtmachte und er beschloss, sesshaft zu werden. Der Albtraum weckte ihn, er war schweißgebadet, hastig atmend starrte er mit weit aufgerissenen Augen an die Decke, als würde sie ihm gleich auf den Kopf fallen. Erwacht aus einem Traum, der zwei Jahrzehnte gedauert hatte, packte er die Koffer. Am Bahnhof nahm er den ersten Zug.

      Er reiste von Land zu Land. Gleich zu Beginn hatte er beschlossen, die verlorene Zeit aufzuholen: Er vermied alle Orte, in denen er bereits in seiner Jugend gewesen war, und betrat keine Stadt zweimal. Zehn Jahre später, mit einem halben Jahrhundert Leben hinter sich, hatte er die Hälfte der Hälfte der Welt gesehen, die er in seiner Kindheit und Jugend nicht bereist hatte. Jedes Mal, wenn er einer Stadt Lebewohl sagte, wusste er, es war für immer. Jeder erste Blick auf eine Landschaft war zugleich der letzte.

      Nach weiteren zehn Jahren hatte er den ganzen Planeten gesehen. Es war ihm unmöglich, ein Stück Erde zu betreten, wo er nicht schon einmal gewesen war. Schon Jahre zuvor war ihm aufgefallen, dass er, je mehr er reiste, desto weniger träumte. Nun, wo er die ganze Welt gesehen hatte, träumte er fast gar nicht mehr. Sogar das Erinnern fiel ihm schwer. Er durchforstete sein Gedächtnis: In welcher Stadt hatte er zum ersten Mal ein Mädchen, seine seiltanzende Cousine, geküsst? War der Kuss in Berlin oder Danzig gewesen? Ihm kamen Zweifel, ob er sich wirklich alles eingehend angesehen hatte. Wenn ja, gäbe es keine Entschuldigung für eine derart große Ungewissheit. Es fiel ihm ganz offensichtlich schwer, sich an Landschaften und Bauten zu erinnern: Einige Plätze verflüchtigten sich, und der Lauf der Flüsse überraschte ihn immer aufs Neue. Er fragte sich, was es ihm letztendlich gebracht hatte, die ganze Welt zu bereisen, wenn er sich nun nicht mehr erinnern konnte.

      Seine Unruhe riss ihn in einen Strudel. Jetzt, er wartete gerade auf den Zug nach Parma (die erste Stadt in seinem gigantischen Inventar: die, an die er sich am wenigsten erinnerte, weil es seine Geburtsstadt war), merkte er, dass er sich kaum noch an das Bild seiner Mutter erinnern konnte, das einem Spiegelbild im Wasser glich und sich auflöste, wenn die Wasseroberfläche in Bewegung geriet. Er saß auf der Holzbank und