Auslöschung. Anthony J. Quinn

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Название Auslöschung
Автор произведения Anthony J. Quinn
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783948392277



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Idee, wer so was mit ihm tun könnte?«

      »Nein. David stand sich mit allen gut. Bevor er krank wurde.«

      Daly ging auf einen zweiten Blick in das karge Schlafzimmer. Offenbar hielt das Alter wenig Trost und angenehme Überraschungen bereit. Vielleicht hatte der alte Mann das Fortschreiten seiner Krankheit und den Tod gefürchtet und war davor abgehauen? Daly erinnerte sich, wie oft er schon überlegt hatte, ob es nicht besser wäre, sich aus seinem Leben zu verabschieden, zumindest für eine Weile.

      Eliza Hughes blieb in der Küche, als Daly hinaus in die Dunkelheit ging. Zwischen den niedrigen Schuppen strich der Strahl seiner Taschenlampe über verrostetes Gerümpel, ein umgedrehtes Ruderboot und allerlei landwirtschaftliche Geräte. Aus einem Korb Saatkartoffeln flitzte eine Mäusekolonie, und aus dem Schatten starrte ihn ein schwarzes Augenpaar an, das einer Ratte gehören musste. In der Luft hing Terpentingeruch. Er entdeckte nichts, was ihm bei der Suche nach dem Vermissten weiterhelfen würde.

      Im Hof stieß er auf Officer Harland und Officer Robertson, die in den umliegenden Feldern gesucht hatten.

      »Bisher nichts Auffälliges, Sir«, sagte Harland.

      »Rufen Sie die Nachbarn an und informieren Sie sie, dass David Hughes vermisst wird«, sagte Daly. »Fragen Sie, ob jemand was gesehen oder gehört hat. Und bitten Sie sie, in ihren Schuppen und Scheunen nachzusehen. Es ist kalt heute Nacht. Wenn er da draußen unterwegs ist, sucht er bestimmt einen Unterschlupf.«

      Wenn sie ihn nicht in der nächsten Stunde fänden, dachte Daly, müssten sie einen Spürhund anfordern und dazu einen Hubschrauber, der den weiteren Umkreis abflog. Mit seiner Taschenlampe untersuchte er die Hecke, die den Garten hinter dem Haus begrenzte. Dabei entdeckte er zwischen dicken Ästen eine Lücke, durch die der Wind ungehindert blies. Hier waren die Äste sauber herausgeschnitten worden, die Wunden noch frisch. Von dieser Stelle bot sich ein fast freier Blick auf die Hintertür.

      Auf dem Rückweg zum Haus war die reglose Silhouette von Eliza Hughes im Küchenfenster zu sehen. Daly fühlte sich zu größerer Eile angespornt. Er lief mit der Taschenlampe in der Hand hinaus in das wellige Weideland, wo er immer wieder in schlammige, eisige Löcher trat. Der Mond kam hinter den Wolken hervor, und sein Licht, das durch die Bäume fiel, war so blau und kalt, dass Daly meinte, es in der eisigen Luft schmecken zu können.

      Als er in einem verborgenen Graben umknickte, stürzte er kopfüber in ein Schlehdorndickicht. Rasch drehte er das Gesicht weg, um einem knorrigen Ast auszuweichen, und für den Bruchteil einer Sekunde sah er im Strahl seiner Taschenlampe etwas Weißes aufblitzen. Es flog an seinen Augen vorbei und war im nächsten Moment verschwunden, nur ein paar gefrorene Wassertropfen fielen von höheren Ästen herab. Deutlich hörte er ein Flattern zwischen den schwankenden Ästen. In dem Dickicht musste sich etwas verfangen haben. Aber was immer es war, es gab keinen Hinweis auf den alten Mann oder seine mutmaßlichen Kidnapper. Er kam sich vor wie ein Hund, der einer verflüchtigten Fährte folgen sollte.

      Er arbeitete sich tiefer in das Schlehdorndickicht hinein. Als er auf einen versteckten Hohlraum stieß, schnappte er überrascht nach Luft. Etwas Gelbes winkte ihm zu, riesig wie zwei Clownshände. Erschrocken wich er zurück und tastete nach der Taschenlampe. In ihrem Schein sah er, dass jemand ein Paar Haushaltshandschuhe auf Zweige gesteckt hatte. Zum ersten Mal seit seinem Eintreffen fühlte er sich verunsichert. Er riss sich zusammen und untersuchte den Rest der Hecke. An den Zweigen hingen noch weitere Gegenstände – ein Wecker, eine alte Batterie, Tüten mit Nägeln und Draht. Als er die Taschenlampe auf den Boden richtete, streifte der Strahl über winzige, kaum wahrnehmbare Erhebungen. Er kniete sich auf den Boden und legte die Taschenlampe auf einen Stein. War das wirklich, wofür er es hielt? Dann sah er auf jeder Erhebung plumpe Kreuze mit einer Beschriftung. Namen und Daten: OLIVER JORDAN gest. 1989, BRIAN UND ALICE MCKEARNEY gest. 1984, PATRICK O’DOWD, gest. 1985.

      Die Erhebungen waren sehr klein und sahen danach aus, als hätte ein Kind Friedhof gespielt, und nicht nach einer echten Gedenkstätte. Als Daly mit bloßen Händen darin grub, fand er nichts außer verrottenden Blättern und Erde. Ihm schien, als würde kurz ein Vorhang zur Seite gezogen, um das unheilvolle Bild eines kranken Geists aufscheinen zu lassen. Beim Aufsehen entdeckte er, dass alte Zeitungsausschnitte auf Dornen gespickt waren, wie Votivgaben für eine heidnische Gottheit. Die meisten Zettel waren durchnässt und vom Wind zerfetzt. Er nahm einen ab. Es war ein alter Bericht über eine Bombe, die nicht hochgegangen war. Ein anderer Ausriss war ein Artikel über eine Detonation, die ein sechsjähriges Mädchen und eine Nonne getötet hatte.

      Plötzlich war er wie elektrisiert. Als hätte er in einem Lift die Aufwärts-Taste gedrückt und wäre mit der Kabine direkt in Hughes’ verwirrten Verstand gefahren. Plötzlich war er sicher, dass die Gedanken des alten Manns den engeren Kreis seines Gartens und seiner Felder verlassen hatten und weiter hinausgewandert waren.

      Wieder im Cottage, übergab er Eliza Hughes die gelben Haushaltshandschuhe.

      »Ich nehme an, die gehören Ihnen. Sie waren an einer Art Gedenkstätte in der Hecke, mit improvisierten Gräbern und Kreuzen.«

      Sie ließ sich auf einen Stuhl sinken. »Du meine Güte, David und seine verrückten Spiele.«

      Mit müdem Blick sah sie ihn an. »Inspector Daly, die Demenz hat den Kopf meines Bruders zu einem Rummelplatz gemacht, auf dem er den ganzen Tag Achterbahn fährt. Er vergisst nicht nur immer mehr und vergisst, wo er ist. Seit er diese Krankheit hat, hat er auch eigenartige Marotten, unter anderem hängt er alte Zeitungsausschnitte in der Hecke auf. Immerzu redet er von der Vergangenheit und behauptet, er sieht Geister. Seit ein paar Wochen bastelt er aus allem, was er in die Finger kriegt, Kreuze. Aus Bändern, Stöcken, Blumen oder Seilen. Ich versuch, alles wegzuräumen, wenn Besuch kommt, aber ich kann ihm ja nicht permanent hinterherlaufen. Und dann schreibt er immerzu irgendwelche Botschaften. Wirklich schreckliche Sachen, die ich lieber nicht wiederhole. Voller Flüche und Verwünschungen.«

      Daly beschloss, nicht nachzuhaken. Die Frau war offenkundig in einer schrecklichen Situation. Ohne Beistand musste sie miterleben, wie der bröckelnde Verstand ihres Bruders tagtäglich weiter verfiel. Er rieb sich die Augen und stand auf.

      »Wir tun unser Bestes, um Ihren Bruder zu finden, Miss Hughes«, versprach er. Schweigend und ihren Morgenmantel eng um sich ziehend, sah ihm Eliza nach, als er ging.

      Draußen war es noch dunkel, und die Äste des Schlehdorns krallten sich an den Wind. Die umherhuschenden Lichtkegel zeigten ihm an, wo seine Officer die Felder absuchten, die sich bis zum unsichtbar daliegenden Seeufer erstreckten. In wenigen Stunden würde es dämmern. Wenn sie Hughes nicht bald fänden, würde er an Unterkühlung sterben. Nur Gott wusste, was im Kopf des alten Manns vor sich ging.

      Auf dem Weg zurück zum Auto begann das Handy in Dalys Tasche zu klingeln. Er kannte die Nummer nicht und ging ran.

      »Wo ist dein schwarzer Anzug, Celcius?«, fragte eine vertraute Stimme.

      »Anna«, rief er überrascht und ließ sich auf den Fahrersitz fallen. »Wo bist du?«

      »In deinem Haus. Ich hab den Ersatzschlüssel unter dem gebrochenen Pflasterstein gefunden. Im Schrank und in der Kommode ist der Anzug nicht.«

      »Was machst du denn da?«

      »Der Schwiegervater meiner Schwester ist am Donnerstag gestorben, und heute Vormittag ist Beerdigung in Dublin. Ich wollte, dass du mich begleitest, aber jetzt ist es zu spät. Ich hab deinen Traueranzug nirgends gefunden.«

      »Der ist in der Reinigung.«

      »Ich denke oft an dich, Celcius. Das wollte ich dir längst sagen. Aber ich muss jetzt los.«

      »Ich bin mit einem Fall beschäftigt. Kannst du nicht noch eine Stunde warten?«

      Die bisherige Zärtlichkeit in ihrer Stimme wurde von der bekannten Entschiedenheit verdrängt. »Nein. Ich muss sofort los. Meine Schwester wartet auf mich. Und du bist ja immer mit irgendeinem Fall beschäftigt.«

      »Einen Moment noch. Kannst du mir einen Gefallen tun?«

      Sie seufzte. »Was denn?«

      In