Название | Die Gentlemen-Räuber |
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Автор произведения | Marianne Paschkewitz-Kloss |
Жанр | Языкознание |
Серия | Lindemanns |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783963081002 |
Sie musterte die Umgebung zu ihren Füßen. Vom hübsch bepflanzten Innenhof des Häuserquartiers unter ihr schweifte ihr Blick über die weitläufige Stadt. Irgendwo da unten, mutmaßte sie, hielten sich all diese Personalleiter versteckt, von denen sie einen Anruf, wenn möglich eine Zusage, ersehnte. Dabei hatte sie bis gestern noch von einer Punktlandung in Karlsruhe geträumt. Ankommen und losarbeiten, so hatte sie es sich in ihrem grenzenlosen Vertrauen auf ihre Heimatstadt ausgemalt, als sie ihre Bewerbungen vor drei Wochen von Hamburg aus losgeschickt hatte. Karlsruhe schien ihr der sichere Hafen, in den zu retten es sich lohnte. Die Stadt war ihr in allen Facetten vertraut und als Residenz des Rechts der optimale Wirkungskreis für eine Polizei- und Gerichtsreporterin. Nach 20 Jahren wieder hier zu leben, gliche einem Déjà-vu, stellte sie sich vor. Jetzt, im Morgenlicht, sah sie ihre Felle davonschwimmen. Vermutlich traf zu, was sie allen Adressaten inzwischen insgeheim unterstellte: Sie war ihnen zu alt.
Wiebkes Fantasie spielte verrückt. Immer tiefer verstrickte sie sich in ihren Argwohn. Was, wenn sie ihr überhaupt nicht antworten durften, überzeichnete sie, wenn in den Büros der Ressortchefs Piktogramme, Verbots- oder Tabuschilder aufgestellt waren, auf denen ein silberhaariges Strichmännchen oder -weibchen mit einem dicken roten Querbalken abgebildet war? Neue Mitarbeiter ab 55 nicht erlaubt!
Sie schalt sich selbst, weiße Mäuse zu sehen. Wie kam sie dazu, ihren potentiellen Arbeitgebern eine derartige Albernheit anzudichten? Altersdiskriminierung bei Medien, deren vordringlichste Aufgabe es war, kritische Aufklärer zu sein? Würde dadurch nicht jeder Artikel, der gegen die Altersproblematik auf dem Arbeitsmarkt anschrieb, ad absurdum geführt, journalistischer Berufsethos nicht sogar in den Grundfesten erschüttert? Andererseits, so führte sie entschuldigend ins Feld, hatte sie das Leben gelehrt, dass es nichts gab, was es nicht gab.
Sie drückte die heruntergebrannte Zigarette in ihren runden, aufklappbaren Taschenaschenbecher, wischte eine Ascheflocke vom Emaildeckel, den ein Bar-Motiv aus den Fünfzigerjahren zierte, und ging durch den hellen Wohn- und Schlafraum zurück in die Küche. Die provisorische Schlafstätte auf dem Fußboden und den Wust unausgepackter Kartons übersah sie geflissentlich.
Auf der kurzen Esstheke, die in den schmalen Schlauch ihrer hochglänzenden, weißen Einbauküche hineinragte, lag ein Stapel Zeitungen, den sie in Allerherrgottsfrühe an einem
Kiosk in der Nähe des Rathauses besorgt hatte. Den Weg dorthin schaffte sie zu Fuß in weniger als fünf Minuten. Sie wohnte zentral an der vierspurig ausgebauten Kriegsstraße, der wichtigsten Ost-West-Achse der Stadt. Über eine Fußgängerbrücke konnte sie diese problemlos überqueren.
Wiebke rutschte auf das lederne Polster des Barhockers. Unwillkürlich fuhr sie sich mit der rechten Hand unters T-Shirt, um den Hosenknopf unterhalb ihres eingeschnürten Bauchs zu öffnen. Gelöst nippte sie an ihrem Kaffee und griff nach der Zeitung, die obenauf lag. Ihre Augen huschten über die Schlagzeilen. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren. Versonnen sah sie aus dem Fenster, das über die gesamte Breite der Küchenzeile reichte, und verweilte an den prächtigen, alten Bäumen im gepflegten Park des Bundesgerichtshofs. Intuitiv suchte sie das Fenster im Erbgroßherzoglichen Palais, hinter dem bis in die Nacht hinein Licht gebrannt hatte. Ihr kam der Pförtner in den Sinn, der ihr damals stets die neuesten Urteile in dicken Kuverts ausgehändigt hatte. Immer einen lustigen Spruch auf den Lippen, dieser Charmeur. Damals, dachte sie. Damals war ihr die Arbeit zugeflogen.
Vielleicht zermarterte sie ihr Hirn völlig umsonst, versuchte sie sich zu beruhigen. Es gab banalere Gründe für die Nichtbeantwortung von Bewerbungen. Formfehler, Zeitdruck, Krankheit, weiß der Teufel was. Wieder waren da die nagenden Zweifel. Hatte sie sich womöglich zu uninteressant oder ungeschickt beworben? Verwunderlich wäre es nicht, zog sie selbstkritisch in Erwägung, denn während sie ihre Bewerbungsmappen zusammengestellt hatte, befand sie sich in miserabler Verfassung. Es war in der Endphase ihrer Hamburger Ära, da lebten Martin und sie bereits getrennt von Tisch und Bett in der gemeinsamen Wohnung. Betrachtete sie diese Zeit rückblickend, stellte sie sich vor, dass sich so das schleichende Siechtum eines Sterbenden anfühlen musste. Wiebke fand den Vergleich angemessen, denn in all den Wochen war sie vollkommen abgestumpft. Sie fühlte nichts mehr. Nicht den Sonnenschein, nicht den kühlen Wind, nicht die pulsierende Lebendigkeit der Weltstadt, nicht sich selbst. Ihr Leben war nichts mehr als eine leere Hülse.
„Ich habe mich verliebt.“ Wie pubertär dieses Geständnis aus Martins Mund im ersten Moment geklungen hatte! Und doch steckte es am Ende wie eine Klinge in ihrem Herzen, zerstörend, zutiefst verletzend.
Konzentrier dich auf deine Bewerbungen!, ermahnte sie sich und richtete sich mit einem Ruck auf. Gewiss hatte sie eine der vielen Warnungen in den Jobratgebern nicht ernst genug genommen und etwas formuliert, das sie besser nicht so formuliert hätte. So manche Empfehlung war ihr zugegebenermaßen gegen den Strich gegangen, auch einige dieser neunmalklugen Binsenweisheiten. Durfte sie dem Ganzen Glauben schenken, müsste es gerade ihr besonders leicht fallen, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren und Ablenkendes zu ignorieren. Diese Fähigkeit, so wurde an einer Stelle allen Ernstes versichert, nehme im Alter zu. Wie lachhaft. Dennoch führte Wiebke den unbefriedigenden Stand der Dinge auf ihr Unvermögen zurück. Ihre Hoffnung auf einen Ehemaligenbonus, gewissermaßen der Strohhalm, an den sie sich klammerte, konnte sie vermutlich auch knicken. War sie wirklich so naiv zu glauben, dass sich in den heutigen Führungsriegen noch irgendjemand an die Polizei- und Gerichtsreporterin Wiebke Wolant von vor 20 Jahren erinnerte? Sachlich betrachtet lag eine ganze Generation dazwischen.
Eine Stunde später hatte sie den Zeitungsstapel durchgearbeitet. Alle Blätter titelten an diesem Morgen mit der Eilentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, das die Entlassung eines Straftäters aus der Sicherungsverwahrung erneut abgelehnt und damit einmal mehr die Sicherheit der Allgemeinheit über die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gestellt hatte. Wiebke verfolgte das juristische Tauziehen mit beruflicher Neugier, es tangierte ihren Themenkreis um Kriminalistik und Strafjustiz.
In diesem Zusammenhang war sie auch auf einen Banküberfall gestoßen, der am Vortag in Karlsruhe verübt worden war. Am ausführlichsten berichtete die Oberrheinische Tageszeitung als auflagenstärkste Regionalzeitung darüber. Neuer Coup der Gentlemen-Räuber bei alter Bank / Phantome wieder aktiv, titelte sie. Nach der Lektüre aller Berichte in verschiedenen Ressorts war Wiebke klar, dass es sich um Wiederholungstäter handeln musste. Einem Mann und einer Frau. Betroffen war eine kleine Bankfiliale, Menschen waren nicht zu Schaden gekommen, die Beute belief sich auf einige tausend Euro. Bemerkenswert fand sie, dass es sie noch gab: Bankräuber des alten Schlags, die sich zeigten und Barkasse bevorzugten. Sich obendrein wie Bonnie und Clyde gerierten, aber allem Anschein nach unblutig. Trotzdem riskant. Soweit sie wusste, lag die Aufklärungsquote bei diesen Raubdelikten doch recht hoch. Waren ein paar Tausender das wert? Im Cyberspace ließ sich das Geschäft doch längst eleganter über die Bühne bringen. Moderne Bankräuber operierten geräuschlos im World Wide Web, bei weitaus geringerem Risiko und potentiell höherer Beute. Offenbar lebten diese Gentlemen-Räuber außerhalb der modernen Computerwelt. Wie alt wurden sie geschätzt? Wiebke fand dazu keine Angaben.
Am späten Vormittag rang sie sich endgültig durch. Wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, entschied sie, muss der Berg eben zum Propheten. Die Redaktionsliste steckte zusammengefaltet und griffbereit in ihrer Brieftasche neben Personalausweis und Führerschein. Sie behandelte das Papier wie eine Eintrittskarte in eine geschlossene Gesellschaft. Jeden dieser Ignoranten würde sie jetzt behelligen. Schuldeten sie ihr nicht schon aus Höflichkeit eine Antwort?
Wiebke hielt inne. Da war er wieder, dieser schleichende Anfall von innerer Hitze, der ihr vom Oberkörper bis unter die Haarwurzeln kroch, ihr den Schweiß ins Gesicht trieb. Die Unberechenbarkeit