Название | Die Gleichschaltung der Erinnerung |
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Автор произведения | Eike Geisel |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862872367 |
So beliebig und nichts der Einzelne, der sich folgerichtig auch abgewöhnt hat, Ich zu sagen, so einerlei und banal auch die Schauplätze: jede Familie eine kriminelle Vereinigung, jedes Büro ein geeignetes Schlachthaus, jeder Stempel ein potenzieller Mord, jeder Anruf ein beiläufiges Verbrechen.
»Die Reihe der Angeklagten folgte den Ausführungen der ersten drei Zeugen … zum größten Teil mit verkniffenen Mienen, ohne ein Zeichen besonderer Rührung … das stimmt überein mit dem Bild, das die Zeugen von ihm [gemeint ist Kramer – EG] entworfen haben, als sie ihn in seinem Büro in Belsen vernahmen. Er hatte nicht das mindeste Empfinden von Schuld, eine absolute Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der Häftlinge, die er alle als Berufsverbrecher, Schwerverbrecher und Homosexuelle bezeichnet hatte, zeichnete ihn aus. (Nr. 14, 21.9. 45)«
Genauso unschuldig wie die Opfer fühlen sich die Henker. Hannah Arendt führt in ihrem Essay über Sozialwissenschaften und Konzentrationslager4 die Bedingungen dieser makaberen Assimilation weiter aus: die völlige Gleichgültigkeit gegenüber der tödlichen Realität auf Seiten der Opfer, und die kalte Indifferenz, welche das Lagerpersonal ausgezeichnet (auch noch vor Gericht, obwohl sie doch mit einer Geste der Selbstanklage besser vor den Tribunalen dran gewesen wären), leitet sie her von der auf verschiedenen Stufen verlaufenden Desintegration der Persönlichkeit im Laboratorium KZ.
»›Muselmänner‹ wurden die armen Teufel in der Lagersprache genannt, die sich um den Abfall aus Küchen, auf dem Misthaufen selbst, noch rissen, die mager und abgezehrt zu keiner Arbeit, selbst nicht zum Tragen der Toten mehr fähig waren. Erstaunlich nur, dass jemand diese Tiefen der Entwürdigung und Vertierung überlebt hat. (Nr. 15, 25.9. 45)«
Günter Anders berichtet in seinem Tagebuch »An die Wand geschrieben«, wie, entsprechend dem heimlichen Wunsch, der aus diesen Zeilen spricht, in Polen einige der Überlebenden genau mit dem Vorwurf, daß sie überlebt haben, erschlagen worden seien. Ähnliches erzählt Marian Rogowski in seinem dokumentarischen Roman »Gewonnen gegen Hitler«. Schon die Nazis hatten peinlich genau darauf geachtet, das keiner davonkommen sollte, aber auch, das keine Zeugnisse der Vernichtung und keine Berichte nach draußen dringen sollten. Vergeblich auch die verzweifelte Hoffnung der Lagerinsassen, die Welt möchte zur Besinnung kommen, wenn sie davon erführe. Dass man einige nachträglich noch erschlagen hat, ist nunmehr offen gewalttätiger Ausdruck der Fortsetzung nationalsozialistischer Politik: der Politik der verbrannten Erde folgt die Politik des verbrannten Gedächtnisses. Zur erwähnen wäre, daß sich vice versa die Opfer, die überlebt haben, mit Schuldvorwürfen quälen, weil sie vom Preis des Davongekommenseins bis ins Innerste zernichtet sind.
»Durch die Gaskammern von Auschwitz, eingerichtet wie Baderäume mit Brausen, nur ohne Wasserabfluß am Boden, sind ungefähr 4 Millionen Juden gegangen. Hatte das Gas seine Wirkung getan, so wurden Klappen im Boden geöffnet, die Leichen vielen in Loren und rollten ins Krematorium. (ibidem)«
»Hatte das Gas seine Wirkung getan« – noch in der Berichterstattung über das Morden bedient sich die kapitulierende Sprache der nazistischen Sprachregelung. Aber es handelt sich nicht bloß um eine Verdinglichung, in welcher eine von Menschen begangene Handlung als Tätigkeit eines Dinges erscheint (dies ist nur der extreme Ausdruck dem Faschismus vorausgegangener objektiver Momente, die in der Warenproduktion wurzeln und subjektiver Formen, die sich bis weit zurück in die Anfänge protestantischer Doppelmoral verfolgen lassen, etwa bei Luther – also zur Trennung von Personal und Praxis), sondern man muß auch das Moment von Wahrheit zur Kenntnis nehmen, das in dieser Sprache widergespiegelt wird: Ohne diesen kostspieligen Maschinenpark wäre das alles gar nicht möglich gewesen. Die Gaskammern, einmal etabliert, machten die Zufuhr von menschlichem Rohstoff zur Herstellung von Leichen zu einer absoluten Notwendigkeit. Dieser Logik folgt, wie wir wissen, die gesamte Kriegsindustrie seit dem zweiten Weltkrieg.
Vergleicht man die heutige Lokalzeitung mit den Ausgaben von damals – ein Viertel Jahr nach dem Sieg der Alliierten – so fällt zu allererst ins Auge die erschreckende Ähnlichkeit in Aufmachung und Inhalt. Als wäre die Nummer von vorgestern, lese ich (auf S. 4 von Nr. 15, 25.9.45) folgende Artikelüberschriften: Umgangsverbot aufgehoben / Energieversorgung im Rheinland / Riesendefizit im Berliner Haushaltsplan / Rektor in Marburg ernannt / Respektloses Verhalten strafbar / Vieh schwarzgeschlachtet / Dr. Eckener wird Verleger / Strafen für Verkehrssünder / Monotonie des Grauens, Fortsetzung von Seite 1 / Sport vom Sonntag usw. Eine beliebige Seite, mit vielleicht einem kleinen Unterschied: in den Familienanzeigen, welche fast die Hälfte der Seite einnehmen: Geboren / Vermählt / Gestorben / G e f a l l e n. Eine beliebige Anzeige herausgegriffen:
»WILHELM MOHRMANN, Soldat. In den schweren Kämpfen für sein Vaterland starb den Heldentod unser heißgeliebter, guter, hoffnungsvoller ältester Sohn, Bruder, Großsohn, Neffe und Vetter im blühenden Alter von 18 Jahren. In tiefer Trauer etc. pp«
Solche Überschriften und solche Anzeigen noch im September 1945.
»Heute vormittag traf Josef Kramer in eigener Sache als Zeuge auf. Er wurde auf die Bibel vereidigt und erklärte, in seinem Gewissen daran gebunden zu sein … ›Wollen sie als Zeugen unter Eid aussagen?‹ fragte der Richter. Alle Angeklagten erklärten: ›Ja!‹. Kramer rief ein lautes ›Jawoll!‹ (Nr. 19, 9.10. 45)«
Jetzt, wo der Führer und Himmler tot sind, braucht der kleine Mann wieder seinen Herrgott, denn »ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und Jedermann untertan« (Luther). Kramer gibt zu Protokoll, daß er deshalb die Vernichtung in den Gaskammern in Auschwitz bestritten habe, weil er »ehrenwörtlich« verpflichtet gewesen sei, darüber zu schweigen. Erst als er im Gefängnis von Celle gehört habe, »Hitler und Himmler seien nicht mehr vorhanden«, fühlte er sich von seiner Schweigepflicht entbunden. »Ob das richtig war und ob derjenige, der ursprünglich alles angeordnet hat, es verantworten kann, weiß ich nicht« (ibidem). Sollten die sich bei Gott verantworten, er hat seiner Christenpflicht genügt. Marx schreibt an irgendeiner Stelle über die moderne Religiosität, daß an die Stelle der Knechtschaft aus Devotion, die Knechtschaft aus Überzeugung getreten sei.
»Auch über das Lager Neuengamme, das in der Luftlinie nur dreißig Kilometer von Lüneburg entfernt liegt, ist uns ein umfassender Bericht zugänglich gemacht worden. Bekanntlich war es dieses Lager, das bisher wenig in der Öffentlichkeit genannt wurde, aus dem die Häftlingstransporte nach Belsen und Sandbostel gingen. Häftlinge aus Neuengamme haben vor anderthalb Jahren Deckungsgräben in Lüneburg ausgehoben. Ihre Zebra-Uniformen wurden damals viel erörtert. (Nr. 19, 9.10.45)
›Muselmänner‹ – Dieser Ausdruck ist in allen deutschen Konzentrationslagern verbreitet gewesen. Er ist entstanden durch einen Zufall. Irgend jemand nannte einen stark abgemagerten Kameraden in Erinnerung an Bilder von Arabern, einen Muselmann. Damit begann dieser Begriff, der sogar in die Amtssprache der Lager überging, seinen Lauf. Er bezeichnete später präzise nicht mehr voll arbeitsfähige, abgezehrte, abgehetzte Menschen. Es gab besondere Arbeitskommandos für Muselmänner. Muselmann konnte auch ein Hohnwort sein. Jedenfalls, war jemand erst einmal zum Muselmann geworden im Lager, so war in den meisten Fällen das Tor zur Freiheit ewig gesperrt. Für den Muselmann gab es nur noch den Ausweg ›durch den Schornstein‹ (ibidem).«
Abgezehrt waren sie, bis auf ganz wenige Ausnahmen, alle, und das Tor, über dem der preußische Wahlspruch stand »Suum cuique«, oder »Arbeit macht frei«, wurde erst durch den Sieg der Alliierten zum Tor einer doch für immer beschädigten Freiheit. Die Beobachtungen Bettelheims im KZ Buchenwald geben genauer Auskunft über den Abrichtungserfolg totalitärer Herrschaft, wobei mit dem der Kolonialromantik entlehnten Begriff »Muselmann« jener psycho-physische Habitus der Häftlinge bezeichnet wird, der als oberstes Ziel des KZ-Experiments gilt: die wandelnde Leiche oder die allseitig reduzierte Persönlichkeit. Sie sollten nur noch existieren, ehe man ihnen die Existenz nahm. So waren sich die Nazis sicher, keine Menschen mehr umzubringen. In vielen Fällen vollendete sich dieser aufgezwungene Verfall ganz automatisch, mechanisch – außerhalb jedes Zusammenhanges verloschen sie einfach, ihr Tod nur Verenden.
Bettelheims präzise Beobachtung dieses Zerfallsprozesses