Название | Die Gleichschaltung der Erinnerung |
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Автор произведения | Eike Geisel |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862872367 |
Adorno hat über das Scheitern der Theorie vor dem Nationalsozialismus gesagt, dass, wer nicht subjektiv dem Wahnsinn verfallen wolle, der objektiv herrscht, sich immer wieder aufs Begreifen des nicht zu Begreifenden zurückgeworfen sehe. Dieser fast tröstlichen Formulierung hat er vergessen hinzuzufügen, dass man dabei noch immer auf der Schwelle zum Wahn sich befindet, den man bekämpft. Das ist die objektive Situation einer Welt, in welcher noch die prospektiven Opfer, aus Angst vor der angemessenen Angst, mutig aufs Denken verzichten, anstatt aus dem Rahmen zu fallen.
Die Unversöhnlichkeit dieses Zustandes versetzt das Individuum schon längst nicht mehr in den Zustand der Unversöhnlichkeit. Unpässlichkeit ist die Grenze des Erlaubten und macht schon Literatur. Gefragt sind Artisten, die es sich auf dem Hochseil gemütlich machen. Gedanken sind krumm. Die Abweichung kommt vor dem Fall.
Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein. Und freischwebend sind bloß die Engel.
Um wieviel die Welt ärmer geworden ist
Erinnerungen eines jüdischen Revolutionärs
Memoiren sind gefragt, wenn es auf das Individuum zu allerletzt ankommt. Je weniger die gesellschaftliche Objektivität noch Raum läßt, »Ich« zu sagen, desto größer der einträgliche Geständniszwang der Zeitgenossen, die ihr Seelenleben entblättern, oder was sie dafür halten. Wie die Gesellschaft auf den universellen Gedächtnisverlust mit Gedenkfeiern antwortet, so reagiert das autistische Etwas, das an seiner Gleichschaltung leidet, auf die objektive Gedankenlosigkeit mit subjektiver Bedenkenlosigkeit. In der gegenwärtigen Befindlichkeitsliteratur kommt endlich jener unsägliche Satz Rilkes zu seiner vollen Wahrheit: »Armut ist ein stiller Glanz von innen«, oder wie es die Großstadtflüchtigen von heute den Alternativen von damals nachzwitschern: »Der Reichtum kommt von innen her.«
Wenn man über den Verlust der Erinnerung redet, der marktgängig mit so vielen Memoiren kaschiert wird, wenn das Ende der Geschichte sich mit so zahlreichen Geschichtchen geltend macht, dann müssen wir uns jenseits aller Augurenschau auf Theorie besinnen. Vom jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn, der gegenwärtig überall gefeiert und deshalb nirgendwo gelesen wird, stammt die Bemerkung, daß die Menschen in Kindertorheiten verfielen, sobald die Theorie vulgär werde. Er fügt hinzu: »Dann will man lieber von toten Gespenstern umgeben sein, als in einer toten Natur zwischen lauter Leichnamen wandeln.« Er hat damit nicht den Nationalsozialismus meinen können, aber wir müssen es. Denn die anthropologischen Leerstellen der Gegenwart, der Gedächtnisverlust und die nicht mehr poetische, sondern wörtliche Gedankenverlorenheit sind vom Nationalsozialismus zwar nicht erfunden, wohl aber in einem Ausmaß zur Grundlage moderner Herrschaft geworden, daß noch die übernächste Regierung davon profitieren könnte. Der Nationalsozialismus hat auf eine zuvor nie gekannte Weise mit der Drohung ernstgemacht, daß den Menschen Schlimmeres als der Tod widerfahren könne. Den sicheren Tod vor Augen, sollten die Opfer schon vor ihrer Vernichtung aufgehört haben, noch irgend an Menschen zu erinnern. Zu jenem Bild gemodelt, das die Nazis davon hatten, sollte spurlos verschwinden, was kein Recht auf Erinnerung hatte, denn die Opfer waren nicht jemand, sondern etwas. Wie um den Nazis recht zu geben, hat die Welt nach dem Krieg die einzige Hoffnung der Ermordeten gründlich verhöhnt und sie noch um ihren schlimmsten Fluch enteignet: Das »Nicht gedacht soll deiner werden« steht über den Massengräbern und nicht über dem gemütlichen Lebensabend der Henker.
Weil Erinnerung und Eingedenken ein gnadenloses Strafgericht heraufbeschwören könnten, vor dem keiner bestehen würde, weil ohne Gedächtnis allein sich überleben läßt, deshalb darf der Einzelne in seiner fensterlosen Biographie stochern und anderen Einzelnen versichern, daß er von vergleichbarer Trivialität sei. Das gilt für Albert Speer wie für Hildegard Knef, für Helmut Schön wie für Henriette von Schirach. Sie reden viel, aber zu sagen haben sie nichts. Ungewollt gleicht ihnen darin die aufblühende Entblößungsliteratur der »Neuen Sensibilität« Beide eint eine leutselige Selbstdarstellung armseliger Verhältnisse, der geschwätzige Ausdruck eines stummen Zwangs.
Hersch Mendel hingegen redet in seinen »Erinnerungen eines jüdischen Revolutionärs« darüber, um wieviel die Welt ärmer geworden ist. Nicht von der Verarmung im Wohlstand ist darin die Rede, jenem beliebten Thema, das von wirklicher Armut nichts mehr wissen will. Hersch Mendel schreibt über Fehlendes, über eine unheilbare Wunde des 20. Jahrhunderts, über Bedeutendes, was vernichtet, was buchstäblich zu Nichts geworden ist: Die Kultur des osteuropäischen Judentums und ihr virulentes Subjekt, die jüdische Arbeiterbewegung. Der Massenmord der Deutschen ging einher mit der Zerstörung der jiddischen Kultur; Genozid plus Ethnozid würden die Experten in einer Fernsehrunde beiläufig und mit professioneller Kühle sagen und damit die allgemeine Unfähigkeit dokumentieren, trotz und wegen »Holocaust«, die Zahl der Opfer als ausgelöschte Möglichkeiten einer menschenwürdigen Geschichte zu begreifen.8
Die Erinnerungen von Hersch Mendel sind weder eine dokumentarische Sozialreportage, noch eine sentimentale Reise in die Vergangenheit, weder sektiererische Rechthaberei, noch erbauliche Sozialkritik. Sie sind vor allem, vorgetragen in einer eigentümlichen Mischung aus Pathos und Ironie, eine unerbittliche Chronik des Scheiterns der traditionellen Arbeiterbewegung, ohne daß der Autor jenem allgemeinen Verhängnis, in welches sich Nationalsozialismus und Stalinismus teilen, verständnisvoll oder gar von einer gesicherten Position aus begegnete.
»Ich habe die ganze Tragödie jener Tage aus tiefstem Herzen mitempfunden«, schreibt Hersch Mendel am Schluß seiner Erinnerungen über den Hitler-Stalin-Pakt; »fast 30 Jahre meines sozialistischen Kampfes gingen verloren. Im Namen dieses Kampfes hatte ich alles gegeben, was ein Mensch nur zu geben vermag. Ich habe mich niemals zur Spitze gedrängt. Wenn ich von Zeit zu Zeit in die höheren Ebenen der Bewegung aufstieg, dann nur, weil bestimmte historische Ereignisse mich ohne eigene Anstrengung und oft gegen meinen Willen aus den Reihen heraustreten ließen. Für mich war der Kampf für den Sozialismus alles. An andere Dinge hatte ich nie gedacht, und nun wurde ich Zeuge eines furchtbaren Sturms, der alles zerstören würde. Ein ganzes Leben voll Kampf und Hoffnung ging verloren. Das war die Tragödie, die ich erlebte – eine persönliche und gesellschaftliche Tragödie in einem.«
Vor allen Dingen aber sind die Memoiren ein mehr als hundertfacher Vorwurf gegen jeden möglichen Leser, der schon als Kind eher von den Helden der Marlboro-Reklame geträumt hat als davon, das Staatsoberhaupt zu verprügeln wie Hersch Mendel. Als Jugendlicher steht man heute kaum, wie der Zwölfjährige im jüdischen Elendsviertel von Warschau, vor der Alternative, sich zwischen der Laufbahn eines Kriminellen und dem nicht minder gefährlichen Leben eines Revolutionärs zu entscheiden. Der Aufstieg in die gehobene Unterwelt, den Mittelstand, wird einem heute schon in die Wiege gelegt; Hersch Mendel hingegen wuchs mit dem durch keinerlei Gratifikationen oder politische Ämter domestizierbaren Instinkt heran, daß nämlich Recht und Gerechtigkeit verschiedene Dinge sind.
In einer Geschichte der deutsch-jüdischen Literatur von 1913 heißt es ironisch: »Man findet heute schon Juden, die sozusagen noch die Spur eines Magens von der Größe eines Eies haben, und man darf wirklich hoffen, daß die Juden mit der Zeit die Gewohnheit des Essens abschaffen.«
Gerade dieses kreatürliche Motiv, der Hunger, durchzieht die gesamten Erinnerungen von Hersch Mendel, aber in einer den satten Zeitgenossen ganz fremden Weise, denn es ist der Auslöser einer davon völlig verschiedenen politischen Phantasie und revolutionären Aktion. »Man hat mir oft vorgeworfen, daß ich mich niemals um mein persönliches Leben, um meine eigene Existenz gekümmert hätte«, schreibt er und fügt hinzu, daß es in der jüdischen Arbeiterbewegung undenkbar gewesen sei, sich im Privatleben einzurichten. Genau diesem Umstand verdanken wir eine individuelle, unverwechselbare Autobiographie.
Im Unterschied zu den handgestrickten Lebensläufen und der alternativen Seelenschau hat Hersch Mendel immer in dem Bewußtsein gehandelt, daß die Vermenschlichung des Individuums sich allein im Maße des Kampfes gegen die Barbarei der Verhältnisse verwirklicht. Umso mehr hat er das Recht, von sich zu sprechen. Jakob Moneta,