Letzte Tage. Matthias Eckoldt

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Название Letzte Tage
Автор произведения Matthias Eckoldt
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783943941487



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erste Runde lief noch ganz gut. Rico hielt die Fäuste geschlossen. Mit dem Oberkörper pendelte er geschickt. Nur die Beinarbeit gefiel Toni nicht. Rico stand zu eng. Die Füße fast auf gleicher Höhe. Sein Gegner war einen halben Kopf größer und drei Kilo schwerer. Er schlug auf Ricos Handschuhe ein wie ein Verrückter auf die Wände der Gummizelle. In der ganzen ersten Runde war er nicht ein einziges Mal durchgekommen. In der Pause stürzte der Schweiß aus seinem Gesicht, während sein Trainer auf ihn einschrie.

      Toni blieb ganz ruhig: »Gut, mein Junge. Gute Deckung. Achte auf die Grundstellung. Breitere Beine. Rechter Fuß vor. Du bist jetzt Rechtsausleger. Greif an! Und nur Rechtsauslage. Hast du verstanden?«

      Ricos Gegner schien deutliche Order von seinem Trainer bekommen zu haben. Er ging rückwärts und schlug kaum noch. Rico machte jetzt den Kampf, vornweg immer seine rechte Führhand. Der Gegner ließ seine Fäuste fallen und wich den Schlägen aus. Als Rico seine linke Schlaghand brachte, wischte der Ältere sie arrogant mit dem Handschuh weg. Die erste, die zweite und die dritte. Unter der vierten tauchte er durch und schoss seine Rechte ab. Direkt aufs Kinn. Rico taumelte. Als noch eine Rechts-Links-Rechts-Kombination einschlug, unterbrach Toni den Kampf.

      »Alles okay, mein Junge? Kannst du mich sehen?«, Toni ließ das Handtuch kreisen. »Pass besser auf die Deckung auf. Und jetzt musst du weiterboxen!«

      Rico nickte abwesend.

      »Du schaffst das!« Toni schubste Rico in die Ringmitte, doch der boxte mit angezogenen Schultern. Prompt fing er sich noch zwei Kombinationen und ging zu Boden. Der gegnerische Trainer schrie: »Wenn der noch mal hochkommt, hack ihm die Rübe vom Stamm!«

      Es ging weiter. Rico wechselte die Auslage und knallte seinem siegessicher heranstürmenden Gegner eine rechte Gerade auf die Nase. Ansatzlos. In der Schrecksekunde schob Rico noch einen Kinnhaken nach, der dem anderen die Beine fortriss.

      »Du sollst in Rechtsauslage boxen, verdammt. Rechtsauslage!«, schrie Toni.

      Rico stellte seinen Gegner in der Ringecke. Der versuchte, sein blutendes Gesicht hinter den Handschuhen zu verstecken, aber Rico schlug ihm die Fäuste weg. Da flog das Handtuch. Rico jubelte, bis ihm klar wurde, dass Toni es geworfen hatte.

      »Noch zwei Schläge, und der Typ wäre fertig gewesen.« Rico rüttelte an den Ringseilen.

      »Ich habe gesagt, dass du den ganzen Kampf in Rechtsauslage boxen sollst.«

      »Aber …«

      »Nichts aber! Nur der schwere Weg führt zum Erfolg! Morgen ist Sondertraining. Und jetzt geh rüber und gratulier’ deinem Gegner.«

      Als Toni die Haustür aufdrückte, hörte er seine Frau kichern. Wahrscheinlich spielte Irina mit Rico Backgammon. Er verschwand gleich in seinem Zimmer im Souterrain. Seine Höhle. Die Fenster zu ebener Erde, mit schweren Vorhängen. Hier schrieb er die Trainingspläne, hier las er neueste Studien zum Muskelaufbau und zur Entwicklung der Schnellkraft, hier errechnete er die Nahrungszusammensetzung für seine Boxer, und hier schlief er auch. Es war einer der beiden Räume, die sie eigentlich für Kinder vorgesehen hatten, aber es war keins gekommen. Ihre Kinderlosigkeit war so bitter wie ein Niederschlag im Ring. Der Mannschaftsarzt redete ihm noch zu, er solle die Hoffnung nicht aufgeben. Ein paar Jahre ohne das harte Training, und schon wäre er glücklicher Vater.

      Doch es kam anders. Toni trainierte ab, indem er schubkarrenweise Steine und Zement auf das Grundstück fuhr. Das Wohnungsbauprogramm der Regierung hatte ihnen zwar ein kleines Stück Land in die Hände gespielt, doch Bauleute für Privathäuser bekam man nur schwarz an den Wochenenden. Diese Art des Schuftens empfand Toni als erholsam. Wie er am Tag auch rackerte, er war nicht ein einziges Mal so schläfrig und zerschlagen wie in den Zeiten, als er noch am Boxsack trainiert hatte. Doch bei Irina tat sich trotzdem nichts. Erst als der Staat plötzlich unterging, dämmerte es Toni, dass nicht das Training, sondern die üblen Tablettencocktails seinen Spermien wohl die nötige Durchschlagskraft genommen hatten. Im Leistungssportzentrum hieß es immer nur, sie bekämen einen besonderen Mix, damit sie nicht krank würden. Alle schluckten das Zeug. Toni hatte überlegt, ob er sich den Sammelklagen gegen DDR-Sportfunktionäre anschließen sollte. Aber wozu? Jede Menge Zeit wäre dabei draufgegangen, und zum Schluss hätte er Recht und vielleicht tausend Mark bekommen. Oder zehntausend. Aber was hätte das geändert? Irina hätte er dadurch nicht zurückgewonnen. Für sie zählte nur ein Kind. Niemals würde ein hilfloses Wesen »Mama!« zu ihr sagen und seine Ärmchen nach ihr ausstrecken. Niemals könnte sie mit ihrem Enkelkind auf den Spielplatz gehen. Das sah Toni ständig in ihrem Blick, in den Kräuselungen zwischen ihren Augenbrauen, die unterdessen wohl eingewachsen waren. Aber Toni konnte nichts dafür. Irina verstand das einfach nicht, und so hauste er lieber hier unten, wo ihm nicht immer wieder dieselben Fragen gestellt wurden. Er sagte einfach, er müsse noch arbeiten, dann wartete er, bis Irina die Schlafzimmertür zugezogen hatte, schüttelte sein Kissen auf und sah wahllos fern, bis er einschlief. Bei Sonnenaufgang lief er sich die Müdigkeit aus den Beinen.

      »Jetzt willst du mich alleine lassen?« Irina hatte ihm damals im Morgenmantel die Haustür versperrt.

      Toni schulterzuckend: »Der Trainerlehrgang fängt an!«

      »Na und?«

      »Was ›na und‹? Ich muss den Lehrgang machen. Sonst kriege ich meinen Trainerschein nicht!«

      »Du denkst immer nur an dich!« Irina stiegen vom Hals her rote Flecken ins Gesicht.

      »Das stimmt doch nicht. Freitag in drei Wochen bin ich wieder da.«

      »Und ob das stimmt. Für dich gibt es nur deinen Sport. Ich dachte immer, wenn du nicht mehr boxt, haben wir wieder Zeit für einander.« Irina zog den Morgenmantel fester um ihren Körper. »Aber jetzt musst du unbedingt Trainer werden, und wie es mir geht, ist dir völlig egal!«

      »Ich liebe dich doch!« Toni nahm seinen Seesack und ging einen Schritt auf die Tür zu, doch seine Frau trat nicht zur Seite.

      »Dann beweis es mir!«

      »Jederzeit! Aber jetzt muss ich los.«

      Irina lachte hysterisch: »Jetzt muss er los!«

      »Ja, ich muss. Der Zug fährt in zwanzig Minuten.«

      »Dann fährst du halt einen Zug später und nimmst dir mal die Zeit, mit mir zu sprechen!«

      »Wenn ich zu spät komme, kann ich den ganzen Lehrgang vergessen.«

      »Wenn du mich wirklich liebst, kann dir das egal sein!«

      »Aber wieso denn? Wir können doch auch noch sprechen, wenn ich zurückkomme!«

      »In drei Wochen, ja?«

      »Ich meine, ich weiß gar nicht, worüber du eigentlich reden willst.«

      »Du weißt es nicht?« Irina senkte ihren Kopf.

      »Nein!« Toni schaute auf seine Uhr. Dann nahm er den Seesack vor den Bauch.

      Irina zog die Tür auf: »Geh! Aber sag nie wieder, dass du mich liebst!«

      Wahrscheinlich hatte sie Recht, dachte Toni, als er im Zug Richtung Schwerin saß. Boxen war ihm wirklich das Wichtigste. Aber Irina war ihm doch auch wichtig. Sehr wichtig sogar. Was sollte das? Boxen und Irina, das konnte man einfach nicht vergleichen. Er hätte nicht sagen können, woran man merkte, ob man jemanden liebte, aber er wusste, dass er Irina liebte. Er hatte für sie geboxt. Selbst diesen Trainerlehrgang machte er doch für sie. Ohne Irina würde er viel ruhiger leben, viel einfacher, müsste nicht ständig raus in die Welt und sich beweisen. Jede seiner Medaillen gehörte ihr, und ihr würden auch seine Erfolge als Trainer gehören. Er liebte sie. Punkt. Aus. Er würde ihr Blumen mitbringen. Als Beweis seiner Liebe und als Entschuldigung dafür, dass sie keine Kinder haben würde. Wenn andere Windeln wechselten, Schlaflieder sangen und die Hausaufgaben kontrollierten, musste seine arme Frau vorm Fernseher sitzen. So hatte er zumindest gedacht damals, auf dem Weg zur Trainerschulung im Boxleistungs-Zentrum Schwerin und auch später noch, bis er eines Abends allein zu Hause war und ihr Tagebuch auf dem Tisch lag.

      Er schob es zur Seite, um Platz für seinen