Название | Autopsie |
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Автор произведения | Viktor Paskow |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783943941555 |
Seit Jahren schon lebte ich dieses Leben, mit Ausnahme kleiner Unterbrechungen, wenn ich im Urlaub war, und es gefiel mir. Ich hasste Veränderungen. Sie machten mir Angst.
Genau um sieben tauchte die rötliche Explosion ihrer Haare den kleinen Hof in grelles Licht. Mein Atem blieb stehen, und aus meinem Kopf verflüchtigten sich augenblicklich alle Musiker, Philippinen, Unter den Linden und zweihundertundfünfzig Jahre alten Kneipen.
Die Schenkel anmutig wiegend, ging Ina mit kleinen stakkatoartigen Schritten über den Gehsteig, sie glitt eher dahin wie eine venezianische Gondel. Ihre olivgrüne Seidenbluse harmonierte elegant mit der Farbe ihrer Augen und war bis zum dritten Knopf aufgeknöpft, so dass jeder die metronomgleiche Bewegung ihrer birnenförmig runden Brüste sehen und hören konnte – tak-tak ... tak-tak ... tak-tak ...
Ein kurzer, ebenfalls grüner Rock umspannte ihre Schenkel zwei Handbreit über den Knien ihrer nackten, sinnlichen und nicht enden wollenden Beine. Sicherlich hatte ich sie dümmlich angestarrt, weil Ina trocken und fast mit einem Zischen fragte:
»Na, was ist los, Mister Parker? Willst du mich nur anstarren, oder bietest du mir einen Platz an?«
»Natürlich ...« Ich stand unbeholfen auf, und zum ersten Mal sah ich, dass sie fast so groß war wie ich. »Bitteschön. Was willst du ...«
»Das Gleiche.«
Während wir darauf warteten, dass man ihr das Getränk brachte, betrachteten wir einander wie zwei Schwergewichtsboxer, die auf den Gong warten. Ihre geschürzten Lippen waren zu einem leicht spöttischen Lächeln verzogen. Ihre Pupillen hatten sich zu ganz kleinen Pünktchen verengt, wenn das überhaupt möglich war. Für einen Augenblick tauchte in meinem Bewusstsein die Erinnerung an Arthur Taube auf – ein riesenhafter Chorsänger und mein Freund aus dem Theater, der einen schizophrenen Anfall während der Vorstellung bekommen hatte. Als ich ihn zwei Wochen später in der Psychiatrie besuchen ging, hatte er die gleichen Pupillen.
»Gefällt es dir hier?«, fragte sie nonchalant.
»Reizend.«
»Josi und ich kamen oft hierher.«
Der Schlag traf mich unvorbereitet. Ich musste angezählt werden.
»Welcher Josi?« Selbst in meinen Ohren klang die Frage falsch, wie durch das bedauernswerte Rohrblatt eines verzogenen Fagotts.
»Derselbe, über den du gestern mit Svetljo geredet hast. Derselbe, mit dem du eine Jamsession in Hamburg hattest. Ich weiß viele Dinge über dich, Mister Charlie! Und schließlich derselbe, mit dem ich ein ganzes Jahr zusammengelebt habe und der aus dem siebten Stock gesprungen ist.«
Ach Svetljo, du verfluchter Bastard! Fuck you!
»Weißt du was, mein Herr? Niemand außer mir selbst kann dir genaue Informationen darüber geben, mit wem ich geschlafen habe. Bis ins kleinste Detail. Das Vergnügen liegt nämlich im Detail. Deines genauso wie meines.« Sie nahm mit sichtlichem Vergnügen einen Schluck von ihrem Whisky, hob das Glas und betrachtete blinzelnd mein Gesicht durch es hindurch. »Also los, frag schon! Deswegen bin ich hier.«
»Gut.« Ich beschloss, dass ich zum Angriff übergehen müsste, trotz des Gefühls, dass mir die Situation langsam entglitt. »Habe ich einen Freund, mit dem du nicht geschlafen hast?«
»Hast du überhaupt Freunde?«, konterte sie.
»Das ist keine Antwort. Aber ich werde es dir sagen. Ja, ich habe Freunde. Alle bekannteren Musiker in dieser Stadt sind meine Freunde.«
»In diesem Falle habe ich mit all deinen Freunden geschlafen.«
»Aber warum?« Ich war ehrlich erstaunt. »Aus Sammelleidenschaft? Aus Snobismus?«
»Vielleicht ist es ja nur Leidenschaft, was denkst du? Falls du es nicht bemerkt hast, ich bin eine Frau. Zu hundert Prozent. Eine leidenschaftliche Frau. Oder haben solche keinen Platz in deinem deutschen Wertesystem?«
»Vergiss mein deutsches Wertesystem.« Ich wurde wütend. »Warum immer Musiker?«
»Ich werde es dir sagen.« Sie betrachtete die Nachbartische, beugte sich vor und flüsterte mir zu: »Bist du mal auf den Gedanken gekommen, die Frau als Musikinstrument zu betrachten? Eine Geige, eine Harfe, ein Saxophon, eine Oboe, eine Orgel, ein Violoncello? Na! Das bin ich. Manchmal bin ich eine Geige, manchmal eine Harfe, ein andermal eine Oboe, ziemlich oft ein Violoncello und ganz selten eine Orgel. Du weißt, dass ich ein gutes Instrument bin. Was du allerdings nicht weißt, ist, dass ich edel bin. Ein Meisterinstrument. Ich bin ein Meisterwerk, Charlie. Wenn ich eine Geige bin, bin ich eine Stradivari. Wenn ich ein Saxophon oder eine Trompete bin, bin ich von Selmer. Wenn ich das Glück habe, eine Orgel zu sein, bin ich eine Silbermann-Orgel. Wer kann, oder eher noch, wer hat das Recht, auf solch edlen Instrumenten zu spielen, mein Herr? Na, kommst du drauf? Ganz genau: nur die besten Musiker. Die Virtuosen. Aber ich muss dir etwas über die Virtuosen anvertrauen, mein Lieber! Größtenteils sind das Menschen ohne Gehör. Sie verfügen über eine unglaubliche Technik, aber sehr selten sind sie in der Lage zu hören, wie das Instrument klingt, auf dem sie spielen. Wenn es Geiger sind, wissen sie nicht, wo die Seele der Geige sitzt. Sind es Klarinettisten oder Saxophonisten, dann denken sie nur daran, wie das Mundstück in den Mund zu nehmen ist, aber sie denken nicht an das Schilfblatt, das den Ton erzeugt. Und macht nicht der Ton die Musik, mein Herr? So dass ich ein unglaubliches Instrument bin, das einen unglaublichen Instrumentalisten sucht. Ist es dir jetzt klar?«
Auch wenn es mir nicht klar gewesen wäre, ich war beeindruckt. Diese Frau verstand etwas von Musik, und der Raum unter ihrem roten Vlies war alles andere als hohl.
»Hast du etwa Musik studiert?«
»Nur soweit der Sex Musik ist.«
»Ich frage dich ernsthaft.«
»Und ich antworte ernsthaft. Aber weil ich sehe, dass du dir den Kopf über unnötige Fragen zerbrichst, ich bin in einer Musikerfamilie groß geworden.«
»Hast du ein Instrument gespielt?«
»Ich habe es schon gesagt«, entgegnete sie gelangweilt. »Ich selbst bin ein Instrument.«
»Was für ein Instrument warst du bei Josi?«
»Eine 68er ›Fender Stratocaster‹ «, kam es wie aus der Pistole geschossen. »Für Josi war nur das Beste gut genug.«
»Was ist eigentlich passiert? Warum ist er gesprungen?«
»Ihm riss eine Saite. Er zog eine neue auf, und auch sie riss. Sooft er auch versuchte zu spielen, so oft rissen ihm Saiten. Am Ende begriff er, dass das Instrument nichts für ihn war.«
»Das ist grausam. Ich habe dich ganz normal gefragt, und mal sprichst du wie Menuhin mit mir, mal wie Eric Clapton oder wie ein Lehrbuch über Instrumentenkunde. Und soweit ich weiß, bist du Anzeigenverkäuferin. Verkauf mir etwas! Zeig mir deine professionelle Seite, nicht nur die dilettantische!«
»Ich soll dir etwas verkaufen? Du willst, dass ich dir etwas verkaufe?«
»Ganz genau! Ich will dich in Aktion sehen!«
Wir sahen uns wütend über den Tisch an, und ihre Augen versprühten grüne Blitze. Danach entspannte sich ihr Gesicht, es wurde engelsgleich wie bei Botticelli, und sie schnurrte in der dritten Lage:
»Gib mir dein Zippo, Charlie!«
Verblüfft reichte ich ihr das gelbe Zippo über den Tisch. Sie stand auf, trank ihr Glas auf einen Zug aus und sagte:
»Ich bitte den Kunden höflichst um einen Augenblick Geduld!« Sie warf mir einen Luftkuss über den Tisch zu, nahm ihre Handtasche und