Autopsie. Viktor Paskow

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Название Autopsie
Автор произведения Viktor Paskow
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783943941555



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      Aha!

      Ina geht es dort also gut, sie erinnert sich überhaupt nicht daran, dass irgendwo in Mitteleuropa ein Idiot vor sich hinvegetiert, dessen Leben sie zerstört hat?

      Ich erfahre außerdem, dass Benny der Flötist eine eigene Fernsehsendung bekommt. »Ach, diese Fratzen.«

      Aha!

      Also wird Ina sich ihren ehemaligen Stecher anschauen und in seiner ganzen künstlichen, aufgeblasenen, ausgedachten, provinziellen Herrlichkeit baden!

      Und wo bleibe ich in diesem Tumult und weltlichen Leben? Ein Pünktchen in einer anderen Galaxie, mit bloßem Auge unsichtbar? Ein sich selbst verzehrendes und alkoholisierendes degenerierendes Nichts, für das sich niemand mehr interessiert?

      Dort, in Sofia, ist der große Ball.

      Dort ist das Leben, dort sind die Kneipen und die Kneipengeschichten, dort sind die Musik, der Rhythmus und der Sex, die Ina so sehr liebt und die die Grundlage ihres ganzen Lebens bilden.

      Offensichtlich werde ich verrückt.

      Ich weiß, wie sie in allen schwarzen und roten Hüftgürteln mit Strumpfhaltern, in Netzstrümpfen und Reizwäsche aussieht. Ich weiß, wie sie mit dem Finger über ihre Vagina streicht, kenne all ihre professionellen Bewegungen, ihr Stöhnen, ihr Hauchen, ihre Stripshows – ihr ganzes Hurenregister.

      Wieso bin ich nach ihren ersten Geständnissen über Gruppensex zu dritt und zu viert, nach ihren lesbischen Geschichten nicht einfach Hals über Kopf geflüchtet, wieso habe ich nicht gesehen, dass ich es mit einem verkrüppelten, seelenlosen und verwüsteten menschlichen Monster zu tun habe, das mich erbarmungslos ausgebeutet hat?

      Und warum leide ich jetzt so sehr, wo die Dinge klar und offensichtlich sind und keiner Korrekturen und Präzisierungen mehr bedürfen?

      Ich weiß nicht, zum wievielten Mal ich mir sage, dass ich alles stehen- und liegenlassen und arbeiten muss. Zur Musik zurückkehren. Spielen, bis das Instrument birst. Nur darin liegt die Rettung. Nur durch die Musik kann ich sie verletzen, ihr beweisen, auf welch niedrigem Niveau sie sich bewegt, was für ein Nichts sie ist.

      Aber ich kann nicht.

      Ich habe keine Kraft, keine Lust, kein Bedürfnis und höchstwahrscheinlich auch keine Möglichkeit.

      Wie werde ich von jetzt an leben? Ich gehe schließlich auf die fünfzig zu. Was kann mir noch Neues passieren?

      Herr, wie wirst du auf all diese Fragen antworten?

      ... Durch das offene Fenster in der Exarch-Josif-Straße fliegen haarige Pappelsamen herein, und mit langsamen, rotierenden Bewegungen landen sie auf Tisch und Boden.

      Es ist neun Uhr morgens, und draußen sind es schon fast dreißig Grad. Ich bin soeben aus einem zweistündigem Schlaf erwacht. Ich fühle mich aufgemischt wie ein Fruchtshake im Mixer, mein Kopf ist öde wie ein Steinbruch im Mondschein. Trotzdem könnte ich Bäume ausreißen und Konzertflügel schleppen.

      Ich wende den Kopf und beobachte sie durch halbgeschlossene Lider, wie sie neben mir schläft, eine Hand unter dem Kopf, zwischen deren Fingern die dichten, kupferroten Bäche ihrer Haare fließen.

      Ina ist so schön in ihrer schwarzen Reizwäsche. Ich beobachte die sinnlichen Schauer, die durch die ovalen Muskeln ihrer langen, anmutigen Arme gehen, ihre runden, festen Hinterbacken, als gehörten sie zu einer Statue aus Meeresgischt, ihre langen, weißen Beine in den schwarzen Netzstrümpfen und die zärtliche Biegung ihrer violinengleichen Hüfte, eingespannt in einen Hüftgürtel mit Strumpfbändern.

      Ein staubiger Sonnenstrahl landet auf ihren halbgeöffneten Lippen, und sie leckt ihn langsam mit der rosa Spitze ihrer Zunge ab. Ich bin auf diesen Strahl eifersüchtig. Ich habe Schmetterlinge im Bauch. Ich spüre, wie die Erregung erneut wächst.

      Ich denke mir, dass ich nach diesen hundertzwanzig Stunden, die wir gemeinsam im Bett in dieser kleinen, gemütlichen Wohnung verbracht haben, fast genauso wenig über sie weiß wie vorher.

      Das, was sie mir bruchstückhaft und widerwillig erzählt hat, ist, dass sie vor zweiunddreißig Jahren am Donauufer in der aristokratischen Stadt Ruse geboren wurde. Ihr Vater war ein Kollege – Klarinettist in der örtlichen Philharmonie. Im Unterschied zu mir, der nur das Altsaxophon beherrscht, konnte er all seine Varianten spielen – Tenor, Sopran und Bariton. Er war erst vierzig, als ihm die Parodontose, der Alptraum eines jeden Bläsers, die Vorderzähne kaputtmachte. Er eröffnete eine Reparaturwerkstatt für Holz- und Blechblasinstrumente. Kundschaft hatte er im Überfluss, nur die Musik fehlte ihm schrecklich. Er konnte nicht mehr spielen und noch weniger aus seiner Tochter eine Musikerin von Format machen. Klarinette und besonders Saxophon sind keine Instrumente für Frauen. Sie hatten es mit Klavier probiert, später mit Gitarre, aber Ina verspürte keinerlei Bindung zu diesen Instrumenten.

      Dafür vererbte er ihr seine ganze Liebe zum Handwerk und alles, was er über die verschiedenen Stile in der Klassik und im Jazz wusste. Soweit ich es beurteilen konnte, wusste er eine Menge.

      Am Ende, ohne je eine Musikschule oder das Konservatorium besucht zu haben, wurde Ina zu einem Vollblutmusiker, der nicht musiziert.

      Sie würde einen kompetenten Kritiker abgeben, wenn sie nicht der Meinung wäre (und hier bin ich ganz ihrer Meinung!), dass Kritiker wie unfruchtbare Frauen sind, die zwar wissen, wie man Kinder zur Welt bringt, selbst aber keine gebären können. Über ihre Mutter erfuhr ich nur, dass sie Englischlehrerin war und die Familie und die kleine Ina verließ, als ihr Vater seine Arbeit in der Philharmonie verlor. Sie lebte mit einem Professor in Sofia, und Ina hatte sie fast fünfundzwanzig Jahre lang nicht gesehen.

      Mein Flug nach Berlin ging am folgenden Tag, Samstag, um halb sieben abends. Den Audi wollte ich bei Stefan unterstellen, der eine Garage außerhalb der Stadt hatte. Mein Gepäck – ein mittelgroßer Koffer – war noch nicht gepackt, aber ich hatte keine Lust, daran zu denken.

      Ich drehte den Kopf und sah erneut aus dem Fenster.

      Ina.

      Diese Frau zog mich an und saugte mich ein wie ein Schwarzes Loch, aber im Gegensatz zu den Schwarzen Löchern war ihr Inneres strahlend und berauschend. Am folgenden Tag würde ich nach Berlin aufbrechen, doch bis zu jenem Augenblick kein Wort, wann wir uns wiedersehen würden, wie und wo wir uns wiedersehen würden und ob diese seltsame Geschichte überhaupt weitergehen oder nur eine spätsommerliche Episode bleiben würde.

      Ina streckte sich und gähnte geräuschvoll.

      »Ich habe Hunger«, murmelte sie. »Haben wir was zu essen? Gibt es Kaffee?«

      Ich stand auf und öffnete den Kühlschrank. Es war nur ein trockenes Stück Käse übriggeblieben, ein Ei und eine halbe Tomate. Innerhalb von fünf Tagen und Nächten hatten wir all ihre Vorräte vernichtet. Schau an, Kaffee war noch da. Fast ein halbes Paket »Jacobs«.

      »Du wirst mich irgendwohin ausführen und füttern müssen, mein Gebieter«, schnurrte Ina. »Die Leute kümmern sich um ihre Haustiere!«

      Ich schlug den Kühlschrank zu und warf mich auf sie. Sie kicherte und wälzte sich vom einen Ende des Bettes zum anderen. Ich hielt sie unter mir fest und begann, ihr Kinn, ihren Hals und ihre nackten, warmen Brüste zu küssen. Sie lachte, aus ihrem Hals sprudelten muntere, kristallene Arpeggios wie von einem Xylophon.

      Das Telefon auf dem Schränkchen klingelte.

      Wir schenkten ihm keine Aufmerksamkeit.

      Es klingelte weiter. Wieder und wieder. Am Ende schob sie mich beiseite, hob den Hörer ab und setzte sich aufs Bett.

      »Ja? Hallo. Was? ... Wie? ... Mein Gott ... Ja, natürlich ... hier ist er ...«

      »Für dich«, flüsterte sie. »Svetljo ...« Ihre Augen waren dunkler geworden, fast violett, und die Pupillen konnte man überhaupt nicht mehr sehen.

      Ich weiß