Ein herrlicher Ort für das Unglück. Damir Karakaš

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Название Ein herrlicher Ort für das Unglück
Автор произведения Damir Karakaš
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783943941531



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Augen verpasst. Es ist wünschenswert, die Kommunikation mit den Klienten während des Zeichnens nicht abreißen zu lassen und in diesen fünf bis zehn Minuten zu versuchen, die größtmögliche Nähe herzustellen. Steht die Familie daneben: »Sie haben eine wunderbare Familie.«

      Sitzt auf dem Stuhl ein Kind: »Man kann bereits erkennen, dass aus Ihrem Kind ein guter Mensch wird.«

      Manchmal ist es ratsam, ein wenig zu scherzen: »Wenn Sie die Karikatur Ihrer Frau zeigen, wird sie denken, es ist Mick Jagger, hahaha.«

      Mit Frauen Scherze zu machen, ist nicht empfehlenswert; Männer sind empfindlich, wenn es um ihren Penis geht, Frauen bei allem. Wenn Coca-Cola eine Karikatur von einer Frau zeichnet, ist er immer todernst. Gelegentlich sagt er einer alten Schabracke voller Bewunderung: »Oh la la, was für ein interessantes Gesicht!« Außerdem mögen Frauen keine Karikaturen, sie wollen vor allem Portraits.

      Die Engländerin ist zufrieden.

      Coca-Cola schafft es auch, ihre Freundin zu überreden. Auf eine vornehme Art, die gar nicht zu ihm passt, weist er auf den Stuhl und begleitet jedes Wort mit einem bedeutungsvollen Hochziehen der Augenbrauen.

      »Ein neuer Picasso«, lobt er mich wieder. Ich nehme einen neuen Kohlestift in die Hand, weil der alte so kurz geworden ist, dass ich ihn nicht mehr gut führen kann. Auch die zweite Engländerin treffe ich ganz passabel. Beide habe ich hergerichtet wie ein Schönheitschirurg.

      Coca-Cola klopft mir auf die Schulter und gibt mir die Hälfte des Geldes.

      Hier auf dem Pompidou verdienen nur die Pakistani besser als Coca-Cola.

      Aber sie haben auch die mit Abstand besten Standorte: neben dem riesigen, weißen Abluftrohr. Da ist der Hals des Platzes, da beginnt die erste Reihe. Aber nicht jeder darf an diesem Standort zeichnen: Man muss Pakistani sein, und man muss dem Boss, der diese Standorte verteilt, die Hälfte des Geldes geben.

      Taucht ein Eindringling auf, kann er sich leicht ein Messer im Rücken einfangen.

      Wenn in Paris die Sonne aufgeht, nehmen gleich nach den Pakistani Zeichner aus Russland und der Ukraine ihre Stellungen ein – die sie vermutlich von jemandem aus der Zeit der Oktoberrevolution geerbt haben. Und dann verteidigen sie die Stellungen mit ihrem Leben. Man weiß genau, wo wer steht, wo die Abdrücke der Stühle zu finden sind, man kennt jeden Zentimeter, ja sogar Millimeter, und wenn sich jemand hier breitzumachen versucht, helfen auch die Pakistani, den Eindringling zu vertreiben. Ihnen passt es am wenigsten, wenn sich die Spielregeln ändern.

      In der dritten Abteilung mischen sich Chinesen unter alle anderen Karikaturen- und Portraitmaler.

      Ich liege unter dem Baum, der aus dem Beton wächst.

      Mit hinter dem Kopf verschränkten Armen höre ich dem Georgier Shota zu, der auf der Ziehharmonika »Podmoskovnye vechera« spielt. Er hat unglaublich lange Finger und kann seine Ziehharmonika sogar auf dem Rücken spielen. Das ist für die Touristen eine besondere Attraktion. Jetzt spielt er gerade auf dem Rücken, die Touristen hören ihm voller Bewunderung zu und lassen sich mit ihm fotografieren. Shota verdient das meiste Geld mit diesen Fotos.

      Er beendet sein Spiel und setzt sich mit verschwitztem Gesicht neben mich.

      »Hast du eine Wohnung gefunden?«, fragt er mich auf Englisch und stellt den karierten Koffer ab, in dem die Geldstücke lustig klimpern.

      Ich sage: »Ja, habe ich … Bei Hristo.«

      »Ich habe die alte Frau gefragt, aber es war schon vermietet«, sagt Shota.

      »Jetzt bin ich erst mal bei Hristo«, sage ich, »und dann sehe ich weiter.«

      Shota wohnt kostenlos bei einem Cousin, der in der zweiten französischen Liga Rugby spielt.

      »Einige werfen mir immer noch Francs in den Koffer«, sagt er, während er ein Geldstück hochhält und betrachtet.

      Er greift in den Koffer, man hört das Geld klimpern, dann lässt er es durch die Finger rieseln. Er zählt seine Einnahmen: siebenundfünfzig Euro in Münzen, fünfzehn Euro in Banknoten, eine Creme zur Entfernung von Make-up und fünf Zigaretten.

      »Willst du die Creme haben?«, fragt er mich.

      Ich frage zurück: »Was soll ich damit?«

      Er legt sie neben einen Papierkorb.

      Dann fragt er mich: »Willst du eine Zigarette?«

      Ich nehme eine und stecke sie mir hinter das Ohr. Vielleicht kann sie ja irgendjemand gebrauchen.

      »Stell dir vor«, sagt Shota, »heute Morgen hat mir ein Holländer ein Päckchen Gras in den Koffer geworfen, fein säuberlich verpackt, stell dir mal vor, was passiert wäre, wenn die Polizei das in meinem Koffer gefunden hätte.«

      »Und was hast du damit gemacht?«

      »Weggeworfen. Ich bin zum nächsten Papierkorb gelaufen und habe es weggeworfen.«

      Ich sage: »Hm.«

      Obwohl ich wirklich selten einen Joint rauche, tut mir es doch leid, dass dieses Gras im Papierkorb gelandet ist. Vermutlich war es gut.

      »Schade.«

      Er schaut mich an.

      »Lass gut sein«, sagt er, »das hätte echt Probleme geben können.«

      Dann zieht er seinen Geldbeutel heraus und verstaut die Banknoten darin. Für einen Moment holt er ein Farbfoto mit einem Mädchen mit langen, schwarzen, glatten Haaren aus dem Beutel. Sie heißt Kathaven. Im letzten Monat ist Shota durch die Straßen von Paris gestreift und hat von jedem verlangt, in seiner jeweiligen Sprache aufzuschreiben: Ich liebe dich, Kathaven. Ich habe es auf Kroatisch geschrieben. Er hat »Ich liebe dich, Kathaven« in siebenunddreißig Sprachen zusammenbekommen, und das hat er ihr dann nach Tiflis geschickt. Sie war angeblich völlig hin und weg.

      »Gib Hristo diese zwanzig Euro«, sagt er. »Soviel schulde ich ihm, und du wirst ihn vor mir treffen.«

      Ich verstaue die Geldstücke in meiner Tasche.

      »Ich gehe jetzt ein wenig am Saint-Germain spielen«, sagt Shota.

      Mit einem Schulterklopfen verabschiedet er sich von mir.

      Shota ist eine Art Freund, so könnte man es nennen. Wir unternehmen nichts gemeinsam, wir treffen uns nur manchmal auf der Straße. Viele gemeinsame Themen haben wir nicht, aber es freut mich immer, ihn zu treffen. Wäre ich allerdings in Kroatien, würde ich mit der Mehrheit der Menschen, mit denen ich hier in Paris befreundet bin, kein einziges Wort wechseln, von Freundschaft ganz zu schweigen. Aber um es klar zu sagen – ich habe auch in Kroatien nicht viele Freunde. Es wird immer dunkler, nur noch ein paar chinesische Zeichner sind da. Sie haben sich in dem Lichtschein versammelt, der durch die riesigen Fenster des Pompidou fällt. Ich stehe auf und gehe rein, zur Toilette. Ein Geschäftsmann in Anzug und Krawatte und mit Laptop steht vor dem Spiegel, gibt sich selbst Ohrfeigen und weint gedämpft vor sich hin.

      Ich pinkle und beobachte ihn: Er hat seinen Kopf in die Hände gelegt und schluchzt immer mehr.

      Ich schüttle meinen Schwanz ab, wasche mir die Hände und sage: »Mein Herr, kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

      Er zuckt zusammen, als erwache er aus einem hässlichen Traum, taxiert mich von Kopf bis Fuß und sagt: »Kümmere dich um deinen eigenen Kram, du Penner.«

      Er wäscht sich schnell das Gesicht, schnappt seinen Laptop und schaut mich noch einmal voller Verachtung an.

      »Du kannst mich mal«, sage ich auf Kroatisch, während er die Toilette verlässt.

      Dann stelle ich mich vor den Spiegel und sehe mich genauer an. Dieses »Penner« hat mich getroffen, ich gebe es zu.

      Warum hat er mich Penner genannt?

      Ich bin rasiert, meine Kleidung ist sauber.

      Ich rieche an meinem Ärmel und an meinen Achseln, um zu prüfen, ob ich stinke, aber ich stinke nicht. Vielleicht hat mich dieser Idiot draußen dabei