Название | Transformativer Realismus |
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Автор произведения | Marc Saxer |
Жанр | Зарубежная публицистика |
Серия | |
Издательство | Зарубежная публицистика |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783801270339 |
In der Not riefen die strauchelnden Südländer ihre europäischen Partner zu Hilfe. Doch die »Austeritäts-Ayatollahs« des Nordens wollten von der »Vergemeinschaftung der Staatsschulden« nichts wissen. Den »faulen Südländern«, die »jahrelang über ihre Verhältnisse gelebt« hätten, wurden derartig drakonische Strukturanpassungsprogramme auferlegt, dass der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis von »wirtschaftlichem Waterboarding« sprach. Italien und Griechenland haben sich von dieser Dekade der Austerität nie erholt.
Die Coronakrise hat weite Teile Europas in eine tiefe wirtschaftliche Rezession mit verheerenden sozialen Folgen gestürzt. Um die Wirtschaft wiederaufzubauen, müssen die Staaten kräftig investieren. Was im Norden Europas möglich ist, können sich die hoch verschuldeten Südeuropäer aber nicht leisten. Im Gegenteil, Italien, Spanien und Griechenland drohen in einem Teufelskreis aus Rezession, Schulden und Arbeitslosigkeit zu versinken.
Aus den Hilferufen nach Eurobonds wurden daher erbitterte Forderungen nach Coronabonds. Moralisch ließen sich diese Solidaritätsappelle nun nicht mehr durch den Verweis auf Eigenverschulden abtun. Politökonomisch blieb die Streitfrage jedoch dieselbe: Lassen die fiskalisch gesunden Nordeuropäer ihre europäischen Partner an ihrem privilegierten Zugang zu den Finanzmärkten teilhaben? Oder umgekehrt: Wie hoch ist der Preis für den europäischen Zusammenhalt?
Hier zeigt sich, dass die Staatsschuldenkrise nur ein Teil der Solidaritätskrise ist, die Europa seit geraumer Zeit entzweit. In der Ukrainekrise war Westeuropa nicht solidarisch mit Osteuropa, in der Eurokrise verweigerten die Nordeuropäer den Südeuropäern die Solidarität und in der Flüchtlingskrise waren es die Osteuropäer, die sich nicht solidarisch zeigten. Brexit-Großbritannien wendet sich ganz von der Europäischen Union ab, und erhält dafür Beifall aus Warschau und Budapest. In der Coronakrise setzten die Mitglieder zunächst auf nationale Alleingänge. Der serbische Präsident sprach offen aus, was auch viele EU-Mitgliedsländer denken: Die europäische Solidarität sei eine Fantasie – in der Not könne man sich nur auf China verlassen.
Ausgerechnet die Währungsunion, die doch zur Konvergenz der Wohlstandsniveaus führen sollte, spaltet die Europäer. Hier zeigt sich nun, dass der Kuhhandel um den Euro eine nicht lebensfähige Konstruktion hervorgebracht hat. Aus Sicht vieler Europäer wurde der Gesellschaftsvertrag des europäischen Integrationsprojektes, für Frieden und Wohlstand auf nationale Souveränität zu verzichten, gebrochen.
Vor allem die Italiener sehen sich als die Verlierer der Gemeinschaftswährung. In Umfragen zeichnen sich bereits Mehrheiten dafür ab, die drittgrößte Volkswirtschaft Europas aus dem Euro, oder gar das Gründungsmitglied Italien aus der Europäischen Union zu führen.* Wenn die Einhaltung der Maastricht-Kriterien weder demokratisch durchsetzbar noch ökonomisch möglich ist, ist der Euro-Stabilitätspakt gescheitert. Das bedeutet politisch, dass die Verfassung der Gemeinschaftswährung auf eine neue, solidarischere Basis gestellt werden muss.
* In einer SWG Umfrage im April 2020 bezeichneten 45 Prozent der befragten Italiener Deutschland als »Feindesland«, während 52 Prozent China und 32 Prozent Russland als Freunde bezeichneten; in einer Tecnè-Umfrage vom April 2020 sprachen sich 49 Prozent der Italiener sich für den Austritt aus der Europäischen Union aus.
Langfristig funktioniert die EU nicht ohne Angleichung der Lebensverhältnisse
Seit der Eurokrise halten die Anlagenkäufe der Europäischen Zentralbank die verschuldeten Südeuropäer über Wasser. Auf Dauer ist den Südeuropäern aber mit Krediten nicht geholfen.
Um die politischen Fliehkräfte zu mildern, die die Eurozone auseinanderreißen könnten, müssen sich die Europäer auf die Angleichung der Lebensverhältnisse verpflichten. In Bundesstaaten wie den Vereinigten Staaten von Amerika und der Bundesrepublik Deutschland greifen die reicheren den ärmeren Ländern finanziell unter die Arme. Um die großen Unterschiede in den Lebensbedingungen auszugleichen, bräuchte es einen Umverteilungsmechanismus zwischen den europäischen Partnern.
Die europäischen Verträge haben aber peinlich genau darauf geachtet, dass eben das nicht möglich ist. In der Coronakrise konnte der Ausbruch einer neuerlichen Eurokrise, und damit wohl das Ende des Euro, nur verschämt durch die Hintertür in Form von Zentralbankgarantien verhindert werden.
Immerhin wurde nach langem Streit im Juli 2020 ein Rettungspaket verabschiedet, das erstmalig in der Geschichte der Europäischen Union die gemeinsame Aufnahme von Schulden erlaubt. Berlin gibt damit zumindest temporär seinen Widerstand gegen die »Vergemeinschaftung von Schulden« in der »Transferunion« auf. Das europäische Wiederaufbauprogramm »Next Generation EU« ist ein wichtiger erster Schritt in die richtige Richtung. Ein substanzieller Teil des europäischen Budgets von knapp 2 Billionen Euro fließt in die Förderung des European Green Deals, der die digitale, soziale und ökologische Transformation vorantreiben soll. Der Finanzierungshebel sorgt zudem dafür, dass ein wichtiger Wachstumsimpuls in die europäischen Volkswirtschaften gesendet wird. Ob dafür die gerade einmal 6,1 Prozent des europäischen Bruttoinlandsproduktes ausreichen, wird sich zeigen.
Das europäische Dilemma
Ob der Durchbruch bei der gemeinsamen Finanzierung des Konjunkturpaketes schon einen »Hamilton-Moment« markiert, wie viele Europhile jubelten, bleibt allerdings abzuwarten. Denn der Weg in eine politische Union ist lang und steinig. Der Blockadeversuch des Wiederaufbauprogramms durch Polen und Ungarn zeigte, wie weit die Vorstellungen der Mitgliedstaaten selbst in Grundsatzfragen wie der Rechtsstaatlichkeit auseinanderliegen. Hinter dem Gezerre um die Transferunion steht jedoch nicht nur nationalistischer Egoismus. Wenn die Steuerzahler zur Unterstützung ihrer europäischen Mitbürger zur Kasse gebeten werden, haben die demokratischen Souveräne ein Recht darauf, dass ihnen Rechenschaft darüber gezollt wird, wofür ihr Geld ausgegeben wird. Auf dem Spiel steht also nichts weniger als der älteste Grundsatz des Parlamentarismus: No taxation without representation. Das Beharren auf demokratischen Prinzipien ist keineswegs anti-europäisch. Ganz im Gegenteil kann die stärkere parlamentarische Kontrolle der europäischen Finanzen genau das Gegengift gegen die grassierende Angst vor dem Kontrollverlust sein, die einer tieferen Integration Europas im Wege steht.
Ohne die Billigung der demokratischen Souveräne ist eine echte Fiskalunion, also ein Umverteilungsmechanismus in Form eines gemeinsamen Budgets unter parlamentarischer Kontrolle, nicht machbar. Der Einstieg in die politische Union bedarf also eines gemeinsamen Gründungsaktes. Wer die Vereinigten Staaten von Europa vollenden will, müsste also nicht weniger als 27 nationale Referenden für sich entscheiden. Allerdings erscheint es im gegenwärtigen Klima der Revolten gegen Brüssel nur schwer vorstellbar, dass die Völker Europas einer solch einschneidenden Übertragung von Souveränität zustimmen würden. Auch die Ausrufung einer Europäischen Republik erscheint in einem politischen Klima, das nach mehr nationaler Souveränität in einer scheinbar außer Kontrolle geratenen Welt dürstet (»Take back control«), unrealistisch.
Hier liegt das eigentliche Dilemma Europas. Die Fehlkonstruktion der Währungsunion macht die Lösung der Eurokrisen innerhalb der bestehenden Verträge unmöglich. Solange die europäischen Bürger das europäische Projekt jedoch als Bedrohung empfinden, sind weitere Integrationsschritte politisch nicht durchsetzbar. Da der Status quo wirtschaftlich und sozial unhaltbar ist, öffnet der politische Stillstand Verteilungs- und Identitätskonflikten Tür und Tor, die die Europäische Union auseinanderzureißen drohen.
Kapitel 6
Billiges Geld treibt die soziale Ungleichheit
Seit geraumer Zeit schafft neues Wachstum kaum noch neue Beschäftigung. Die digitale Automatisierung führt dazu, dass in der Krise verlorene Arbeitsplätze nicht durch neue ersetzt