Название | An den Rändern |
---|---|
Автор произведения | Peter Weibel |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783906907482 |
Die Meerbucht, wo man Rucksack, Schreibheft und Kleiderturm gefunden hat, ist schwer zugänglich, abgeschirmt hinter Steinbrocken und Ufergras, man findet die Sachen erst nach Tagen.
Muss ein Zerbrechlicher nicht irgendwann zerbrechen? Er ist an den Rändern gegangen, sagt Jonas, immer an den äussersten Rändern, dort hat er Antworten gefunden, aber kann man nur immer an den Rändern gehen? Auch ein anderer ist an den Rändern gegangen, hämmert es in meinem Kopf, Büchners Lenz, über den Ralph geschrieben hat, den er bewundert hat, könnte man diesem Büchner das Wasser reichen, der aus einer Krankengeschichte eine gewaltige Erzählung geformt hat. Der Sog des Textes hat Ralph gepackt, und im Text die Verwundbarkeit vor der Welt, diese brennenden Linien von Lenz zu Büchner und von Büchner zu allen Lenz-Nachfahren, es sind viele, zu Ralph. Der ruhelose Rebell hat Ralph gepackt, bei ihm ist er auf etwas gestossen, vielleicht auf die eigenen Grenzzonen, innen und aussen, Luft und Erdkraft, Macht und Ohnmacht. Bei Lenz hat er gesehen, dass sich die Welt plötzlich weit öffnen kann und wieder verschliesst. Dass schwarze Nacht werden kann, wo vorher Licht war. Die paar Lenz-Zitate in seiner Arbeit haben jetzt ein anderes Gewicht; aber ich, wär ich allmächtig, ich könnte das Leiden nicht ertragen, ich würde retten, retten.
Wörter / halten mich fest / wenn ich kein Land mehr sehe. Das Schlimmste ist, das wir nichts wissen, sagt Sara, auch wenn wir glauben, etwas zu wissen von einem Menschen. Dass da einer neben uns geht und lacht und uns umarmt und wir nicht wissen, was gilt, ob er hier ist oder auch dort, an einem entfernten Ort. Dass wir nicht wissen, ob wir etwas hätten verändern können. Und ob er uns die Chance dazu gegeben hätte. Dieser Schmerz, draussen zu bleiben, zu spät zu kommen, und dabei zu wissen, dass er das vielleicht gewollt hat. Dass er gewollt hat, dass keiner wirklich weiss, was er selbst offengelassen hat, was er nur zwischen die Zeilen geschrieben hat. Zu spät / kehren die Kraniche zurück / sind die Delfine aufgebrochen / zu spät / haben die Wörter / ihre Häuser verlassen. Früher, später, nicht früh genug, sagt Jonas und wirft die Hände in die Luft, lässt sie fallen, wer zurückbleibt, hat immer verloren, er bleibt zurück mit der Gewissheit, zu wenig begriffen zu haben.
Wir müssten das Meer fragen, sagt Luzia, das Meer weiss alles. Vielleicht wollte er nur einfach weit hinausschwimmen und hat die Kraft nicht mehr gehabt, wieder an Land zu kommen. Oder er wollte so weit hinausschwimmen, dass man gar kein Land mehr erreichen kann. Oder er hat die Entscheidung dem Meer übergeben, er wollte einen Grenzbereich berühren, wo alles Eindeutige zerfliesst, vielleicht ist das Leben stärker, vielleicht nicht.
Meine Wehrhäute / um wieder / festen Boden zu betreten – Wörter als Fluchtraum in einer feindseligen Welt. Ich sehe wieder Ralphs Schreibheft vor mir neben dem halb leeren Rucksack am Strand, die ersten Manuskriptseiten in genauen, entschiedenen Schriftzügen, sehe ihn in den Fluss springen und schwerelos davonschwimmen wie ein Delfin, wie einer, den kein Wellengang beunruhigen kann. Müssen wir alles wissen? Ich weiss nicht, ob Wissen besser ist als Nichtwissen, ob Wissenwollen nicht Anmassung ist, Vereinnahmung.
Ralph hat sich nie vereinnahmen lassen. Auch nicht durch Fotografien aus seinem Leben, die jetzt noch einmal über eine weisse Wand flimmern: Fragmente. Man kann sie zusammenlegen, aber sie ergeben keine gerade Linie, die innere Lebenslinie liegt zwischen den Bildern. Unzugänglich und kaum fassbar. Er steht auf einem Felsturm, über wilden Berghängen, und breitet die Arme aus. Er schreibt auf einer Steinplatte am Flussufer und schaut unwillig hoch. Er sitzt gedankenverloren vor einer Alphütte und raucht. Er rennt einer Kuhherde hinterher und reisst das Handy hoch, um zu filmen. Er tanzt in Pflegemontur mit einer Hundertjährigen, die strahlend zu ihm hochblickt. Auf dem letzten Bild, einer Grossaufnahme, schaut er mit unergründbarem, mit ruhigem und prüfendem Blick direkt in die Kamera. Er sieht nicht aus wie einer, der sich von der Welt abwenden möchte. Er sieht aus wie einer, mit dem man lange über die Rätsel der Welt reden möchte.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.