Название | Unrast |
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Автор произведения | Olga Tokarczuk |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783311700449 |
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Es war der 1. März, Aschermittwoch. Als Eryk die Augen aufschlug, sah er das graue Licht und Schneeregen, der auf den Scheiben schmierige Spuren hinterließ. Sein alter Name fiel ihm ein. Er hatte ihn fast vergessen. Er sprach ihn laut aus, und es hörte sich an, als hätte ein Fremder ihn gerufen. Im Kopf verspürte er den wohlbekannten Druck nach dem gestrigen Betrinken.
Wir müssen nun wissen, dass die Chinesen zwei Namen haben. Der eine wird von den Eltern gegeben, mit ihm wird das Kind gerufen, gerügt, zur Ordnung gemahnt und auch in zärtlichen Koseformen angesprochen. Doch wenn das Kind hinaus ins Leben geht, sucht es sich einen anderen Namen aus, einen äußeren, weltlichen Namen, eine Namen-Person. Diesen Namen legt es an wie eine Uniform, wie ein Chorhemd, einen Kampfgürtel, Kleidung für einen offiziellen Cocktailempfang. Dieser Name ist praktisch und leicht zu merken. Von nun an wird er von dem Menschen zeugen. Je weltweiter, universaler, leichter wiederzuerkennen er ist, umso besser. Fort mit der lokalen Begrenztheit unserer Namen. Fort mit Oldrzich, Sung Yin, Kazimierz und Jyrek, fort mit Blazen, Liu und Milica. Es lebe Michael, Judith, Anna, Jan, Samuel und Eryk!
Und heute antwortete Eryk auf den Ruf bei seinem alten Namen: Hier bin ich.
Niemand kennt ihn, deshalb werde ich ihn auch nicht nennen.
Der Mann namens Eryk zog seine grüne Uniform mit den Abzeichen der »Vereinigten Fähren des Nordens« an, kämmte sich mit den Fingern durch den Bart, schaltete in seinem verkümmerten Häuschen die Heizung aus und machte sich auf den Weg an der asphaltierten Straße entlang. Während er in seinem Glaskasten das Beladen der Fähre abwartete, trank er ein Bier aus der Dose und steckte sich die erste Zigarette an. Von oben winkte er Eliza und ihrer kleinen Tochter zu, ganz freundschaftlich, als wollte er sie dafür entschädigen, dass sie heute den Kindergarten nicht erreichen würden.
Als die Fähre vom Ufer abgelegt hatte und schon auf halbem Wege zwischen den beiden Anlegestellen war, zögerte er plötzlich und nahm dann Kurs aufs offene Meer.
Nicht jeder merkte, was los war. Manche waren so an die Routine der geraden Strecke gewöhnt, dass sie abgestumpft und gleichgültig auf den sich entfernenden Küstenstreifen blickten, was mit Sicherheit Eryks alkoholisierte Theorien bekräftigte, dass das Reisen auf Fähren die Gehirnwindungen geradebiegt. Andere merkten nach kurzer Zeit, was geschah.
»Eryk, was machst du da! Kehr sofort um!«, schrie Alfred ihm zu, und Eliza schaltete sich mit hoher kreischender Stimme ein: »Die Leute werden zu spät zur Arbeit kommen!«
Alfred wollte zu Eryk hinaufsteigen, doch der hatte die kleine Pforte vorsichtshalber geschlossen und den Schlüssel in seiner Kabine herumgedreht.
Er sah von oben, wie alle gleichzeitig ihre Mobiltelefone hervorholten und anriefen, empört etwas in den leeren Raum sprachen und dazu aufgeregt gestikulierten. Er konnte sich denken, was sie sagten. Dass sie sich zur Arbeit verspäten würden, dass sie gespannt sind, wer ihnen eine Entschädigung für den seelischen Schaden bezahlen wird, dass man nicht solche Trunkenbolde einstellen dürfte, dass alle wussten, dass es so enden würde, dass es nicht genug Arbeit für die Einheimischen gebe, während hier solche Immigranten eingestellt würden; egal wie gut so einer die Sprache gelernt hätte, es blieb doch immer ein …
Eryk kümmerte sich einfach nicht darum. Befriedigt stellte er fest, dass sie sich nach einiger Zeit beruhigten, sich auf ihre Plätze setzten und zuschauten, wie der Himmel aufklarte und zwischen den Wolken schöne Lichtgarben direkt ins Meer fallen ließ. Nur eines machte ihm Sorgen, und zwar das hellblaue Mäntelchen von Elizas Tochter, das war (wie jeder Seewolf wusste) auf einem Schiffsdeck ein schlechtes Omen. Er kniff die Augen zusammen und versuchte, nicht dran zu denken. Er nahm Kurs auf den Ozean und brachte den Fahrgästen eine Kiste Cola und Salzstangen hinunter, die er schon lange für diesen Anlass besorgt und bereitgestellt hatte. Offensichtlich tat ihnen dieser kleine Imbiss gut, denn die Kinder, den Blick auf die immer ferner entschwindende Küste der Insel geheftet, wurden still, und die Erwachsenen zeigten wachsendes Interesse an der Reise.
»Wohin hast du Kurs genommen?«, fragte der Jüngere der Brüder T. und musste von der Cola aufstoßen.
»Wie lange brauchen wir, bis wir aufs offene Meer kommen?«, fragte die Kindergärtnerin Eliza.
»Haben Sie auch an einen Vorrat an Treibstoff gedacht?«, erkundigte sich der alte Herr S. mit den kranken Nieren.
Zumindest kam es Eryk so vor, als sagten sie das und sonst nichts. Er bemühte sich, sie nicht anzuschauen und nicht nervös zu werden. Er hatte den Blick schon auf die Linie des Horizonts gerichtet, der bis jetzt seine Augen in zwei Hälften geschnitten hatte: eine, die vom Wasser dunkel, und die andere, die vom Wasser hell war. Die Passagiere hatten sich ja auch beruhigt. Sie drückten sich die Mützen in die Stirn, banden ihre Schals enger. Man könnte sagen, sie fuhren in völliger Stille dahin, bis das Knattern eines Hubschraubers und das Heulen von Polizeibooten diese durchschnitt.
»Es gibt Dinge, die geschehen von selbst, es gibt Reisen, die beginnen und enden im Traum, und es gibt Reisende, die antworten auf den gestammelten Ruf ihrer eigenen Unruhe. Ein solcher steht nun vor Ihnen …« Mit diesen Worten begann der Verteidiger seine Rede bei Eryks kurzem Prozess im Gericht. Leider hatte diese bewegende Rede des Verteidigers nicht die gewünschte Wirkung, und unser Held geriet wieder für eine gewisse Zeit ins Gefängnis, ich hoffe, zu seinem Vorteil. Denn für ihn gibt es ohnehin nichts anderes mehr als das dem Meer mit seinen unerforschten Gezeiten entlehnte wogende Auf und Ab.
Doch damit werden wir uns jetzt nicht befassen.
Doch was, wenn mich nun am Ende dieser Geschichte jemand fragen wollte, wenn dieser seine Zweifel ausführen wollte, ob diese die Wahrheit und nichts als die Wahrheit ist. Wenn er mich an der Schulter fasste, mich ungeduldig schüttelte und schrie: »Ich beschwöre dich, sag mir doch aus tiefster Überzeugung, ob diese Geschichte wirklich wahr ist? Bitte mir zu verzeihen, wenn ich zu aufdringlich bin –«, dann würde ich ihm verzeihen und antworten: »So wahr mir Gott helfe, und auf meine Ehr, die Geschichte, welche ich Euch erzählt, Meine Damen und Herren, ist im Kern und in ihren wesentlichen Punkten wahr. Ich weiß, dass sie wahr ist; es geschah auf diesem Erdenrund; ich selbst betrat diese Fähre«.
Expeditionen an den Pol
Ich erinnere mich an das, woran sich Borges einmal erinnert hat, nämlich dass er irgendwo gelesen hatte: Die dänischen Fürsten sollen während des Aufbaus des dänischen Reichs in den Kirchen haben verkünden lassen, dass man durch die Teilnahme an einer Expedition zum Nordpol eine leichtere Erlösung der eigenen Seele bewirken könne. Da sich nicht viele Freiwillige meldeten, erklärten sie, ja, es sei eine lange und beschwerliche Unternehmung, nicht etwas für jedermann, eben nur für die besonders Kühnen. Doch immer noch fanden sich nicht mehr Leute dazu bereit. Um sich nun ohne Gesichtsverlust aus der Affäre zu ziehen, modifizierten die Fürsten ihre Anzeige: Eigentlich könnte man jeden Ausflug als eine Expedition an den Pol bezeichnen, sogar eine kleine Reise, ja, sogar eine Fahrt mit der städtischen Kutsche.
Heutzutage wahrscheinlich sogar eine Fahrt mit der Untergrundbahn.
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