Liebende. Ema Engerer

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Название Liebende
Автор произведения Ema Engerer
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783864103179



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übermannte sie bleierne Müdigkeit und die Anstrengung der durchwachten Nacht fiel von ihr ab. Sie lebte, das war genug. Nebelschwaden zogen den Berg hinauf, Feuchtigkeit hing in der Luft und Morgentau an den Gräsern. Sie verstaute Glocke und Damaru im Sack, rollte sich zusammen und fiel sofort in traumlosen Schlaf. Als sie die Augen wieder aufschlug, sah sie Meister Norbu in einem Reisigfeuer stochern und trockene Zweige hineinlegen, so als wäre nichts geschehen; neben ihm hockte die schwarze Krähe.

      »Guten Morgen, Özel Li«, lächelte er, »komm, du hast dir Buttertee verdient.«

      Sie betrachtete den Mann am Feuer, er war ihr vertrauter, als es der Vater jemals gewesen war. Alles an ihm atmete Einfachheit, spontane Direktheit. Sie setzte sich zu ihm auf einen Baumstamm. Wie damals nach der ersten Nacht in der Hütte reichte er ihr eine Schale Buttertee mit Tsampa.

      »Sag, Özel, was hast du behalten von den kostbaren Erklärungen des Meisters?«

      »Ich glaube, vergangene Nacht bin ich einigen Dämonen in meinem tiefsten Inneren begegnet, Meister«, begann sie nachdenklich. »Einer davon war der Dämon der Form. Bisher glaubte ich felsenfest, ich wäre mein Körper. Doch da befand ich mich plötzlich in dieser rabenschwarzen Dunkelheit und konnte rein gar nichts mehr sehen. Jede äußere Gewissheit verlor sich im Nichts und mich packte namenlose Panik. Doch dann, mittendrin im Sturm, blieb etwas unverrückbar. Immer gleich. Ruhig. Unangetastet. Wie ein Fels in der Brandung. Es war ich und doch nicht ich. Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Mein Gewahrsein bleibt, wie es immer war. Frei vom Körper. Groß und grenzenlos.«

      Norbu goss frischen Tee in zwei Schalen, schweigend tranken sie. Die Krähe hüpfte um den Baum herum.

      »Auch Dämonen der Anhaftung sind mir begegnet. Zu Anfang der Nacht haben mir meine Sinne schreckliche Ängste und Trugbilder vorgegaukelt. Die Geister, die ich rief, schienen mich zu zermalmen, ich verzweifelte schier. Doch dann erschuf der bergende Klang der Trommel einen Raum, in dem mich die Erkenntnis wie ein Blitz durchfuhr: ich bin ganz allein die Schöpferin all dessen. Meine Phantasie, meine Angst erschafft alles selbst. Sie ist die große Schöpferin. Und mit einem Wimpernschlag löste sich alles auf.«

      Zufrieden nickte Norbu.

      »Du hast viel gelernt in dieser Nacht! Sich an furchterregenden Plätzen aufzuhalten ist der äußere Chöd. Der innere Chöd ist das symbolische Opfer unseres Körpers. Der absolute Chöd ist die Erkenntnis der Leerheit aller Dämonen. Mancher Schüler gibt schon vor der ersten Schwelle auf. Manch einer gerät in einer solchen Nacht außer sich vor Angst. Doch vieles liegt noch vor dir, Özel. Mach dir keine Illusionen. Manchmal wird dein Geist verwirrt sein, du wirst keinen Halt finden und niemand wird da sein, um über dich zu wachen.«

      Die Krähe flog davon. Norbus Blick war ruhig auf seine Schülerin gerichtet:

      »Bald wirst du in die Welt ziehen. Deine Waffen sind Glocke und Damaru, dein Zuhause die Natur, die Friedhöfe und Verbrennungsstätten, und dein Meister die Praxis des Durchschneidens allen Festklammerns.«

      Da wurde Özels Herz schwer, das bedeutete nahen Abschied. Norbu Legpa verlor nicht viele Worte. Seine Antworten trafen den Kern des Problems. Wieder und wieder führte er sie zurück auf das Wesentliche, das Eine. Nicht an den Illusionen des eigenen Geistes zu hängen, sie nicht als die Wirklichkeit zu begreifen, sondern das dahinter Verborgene zu erkennen. Sie würde eine Chödpa sein, eine Wanderyogini, sie würde durch das Land ziehen, Tote begraben, Menschen beistehen. So wie sie es immer gewollt hatte. Wie viele dunkle Nächte mochten vor ihr liegen?

      In den folgenden Wochen übte sie in dunklen Wäldern und an verlassenen Orten. Die Melodie tauchte ihren Geist in große Leere. Im Geist verwandelte sie sich in eine zornvolle Dakini. Ihren Körper mitsamt dem Herzen bot sie allen bedürftigen Wesen als Nahrung dar. Manchmal versuchte die Angst wie ein Wurm in sie hineinzukriechen und ihr Herz zu umklammern, doch nach und nach gewöhnte sich Özel Li an die einsamen Nächte in der Wildnis. Auch dem letzten Dämon, dem Vergnügen und der Anhaftung, begegnete sie auf Augenhöhe. Ob leckeres Tsampa oder eine wichtige Erkenntnis, sie genoss alles Gute und Schöne, das sie erlebte, hatte Freude daran und war dafür dankbar, doch sie brauchte es nicht mehr. Ihr Herz wurde stark und frei, freier als je zuvor.

      Als sie nach einer Vollmondnacht unter freiem Himmel zur Hütte zurückkehrte, saß Norbu Legpa auf einem Holzschemel unter der Esche und schälte Nüsse. Er winkte ihr.

      »Die Zeit ist gekommen, Özel Li, du musst dich wieder auf den Weg machen. Bei mir hast du alles gelernt, was du dazu brauchst. Dein Platz ist nicht an meiner Seite, dies war nur der Anfang.«

      Özel senkte den Blick, betrachtete nachdenklich ihre Hände und schwieg. Schon längst hatte sie begriffen, dass ein Schüler selbst für sein Leben Verantwortung trug, vom Meister unabhängig werden musste. Trotzdem, sie war traurig über den bevorstehenden Abschied. Niemals zuvor hatte ein Mensch ihre innersten Wünsche, ihr Sehnen so ernst genommen, ihr so zugehört wie er.

      »Wandere bis zum friedvollen, blauen See Manasarovar und steige auf den Berg, der das Antlitz einer Frau trägt«, fuhr er fort. »Es ist ein weiter Weg, aber wenn dein Schicksal es so will, wirst du dort deiner wahren Meisterin begegnen. Verliere unterwegs nicht das Ziel aus den Augen!«

      Norbu Legpa lächelte. Er wusste, sie war eine Einsame, eine, die in ihrem Herzen mit sich allein sein konnte, und sie war eine Einsgerichtete, eine, der es gegeben war, aus sich heraus in einem einzigen Leben vollständige Erleuchtung zu erfahren. Für ihn war es gleichgültig, in welchem Körper ein Bewusstsein wohnte, wenn der Mensch nur mit all seiner Kraft dem Wunsch in seinem Inneren folgte. Weil nämlich das tiefste Sehnen in einer Menschenseele geradewegs aus dem Herzschlag der Wirklichkeit floss. Doch war sie auch jung und unerfahren und er zögerte, sie so allein in die Welt hinauszuschicken. Und doch musste es geschehen. Ein Schüler muss vieles durch eigene Erfahrung herausfinden, ein Lehrer sollte möglichst sparsame Anweisungen geben, den Schüler anspornen, auf sein Herz zu hören und dem zu folgen, was ihn bewegt und seine Aufmerksamkeit fesselt, beharrlich wie ein Tiger auf der Fährte des Wildes.

      »Schau dir diesen Bergkristall an«, Norbu hielt einen durchsichtigen Kristallstein in der geöffneten Hand, die feine Fältchen durchzogen. Das Sonnenlicht brach sich in dem Edelstein und versprühte bunte Funken.

      »Beim Chöd beruhigt sich der Geist und die Gedanken sinken wie Kiesel auf den Grund eines Sees. So bleibt nach geduldigem Üben und Stillwerden nur leere Bewusstheit des Geistes übrig, und das Wasser wird so klar wie dieser Kristall. Genauso ist unsere wahre Natur, leer, durchscheinend und voller grenzenloser Möglichkeiten.« Er schloss seine runzlige Hand um den Bergkristall und steckte den Stein wieder in die Falten seines Gewandes.

       Auf dem Weg

      Versonnen lief Özel den Berg hinunter. Ein Bildnis der blauen Simhamukha, das Abschiedsgeschenk des Meisters, verwahrte sie sorgsam im Beutel und auch einen Zettel hatte ihr der Meister zuletzt noch in die Hand gedrückt. Die zornvolle Schützerin mit dem Löwenkopf war ihr immer fremd geblieben, wenngleich sich der Traum jener ersten Nacht auf dem Berg tief in sie eingebrannt hatte. Bei der ersten Rast faltete sie den Zettel auseinander und las in der krakeligen Handschrift des Meisters: »Andere mögen zum Kloster gehen und Lampen opfern. Ich folge dem Yogipfad und entzünde die Butterlampe der angeborenen Seligkeit, die im Herzen wohnt.«

      ›Milarepa‹ stand darunter, der Name des berühmten Yogis. Der, unter dessen Statue sie in dem geheimnisvollen, runden Tempelchen der Klosterstadt eingenickt war. Ja, die Butterlampe in ihrem eigenen Herzen wollte sie entzünden, der Satz war ihr Auftrag fürs Leben.

      Sie wanderte durch Dörfer und schlief auf Friedhöfen. Nach der zufriedenen Lehrzeit bei Meister Norbu war das neue Leben ungewohnt, das erste Mal war sie ganz allein auf sich gestellt. Menschen erkannten an ihrer äußeren Erscheinung die Chödpa und erbaten Hilfe und Rat. Dafür erhielt sie eine warme Mahlzeit und gelegentlich einen Schlafplatz. Manchmal versuchten Familien sie zum Bleiben zu bewegen, doch dann machte sie sich umso eiliger wieder auf den Weg. Niemandem wollte