Narzissen und Chilipralinen. Franziska Dalinger

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Название Narzissen und Chilipralinen
Автор произведения Franziska Dalinger
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9783862567423



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seine Gitarre auf dem Schoß. Die Melodie, die er vor sich hinklimpert, klingt traurig.

      »Und die Ärzte wissen wirklich nicht, wann sie wieder aufwacht?«, frage ich, dabei hat er mir das bereits gefühlte tausend Mal erzählt. Seine Mutter übrigens auch schon, als ich hergekommen bin. »Sarah liegt im Koma, sie hatte einen schweren Unfall. Wir wissen noch nicht, wie es weitergeht. Ja, Daniel ist oben, geh ruhig hoch zu ihm.«

      Jetzt bin ich also in seinem Zimmer, und er hält bloß sein blödes Instrument umklammert und bläst Trübsal.

      »Sie übersteht es schon«, sage ich, nur um irgendetwas zu sagen. »Du wirst sehen, alles wird gut.« Ich kann es gar nicht haben, wenn Daniel so still und in sich gekehrt ist. Um ihn aufzumuntern, hätte ich ihm fast erzählt, was Mandy und ich heute in der Fußgängerzone angestellt haben, aber ich beiße mir noch rechtzeitig auf die Lippen, denn irgendwie kann ich mir denken, dass ihm das nicht gerade gefallen wird. Er wird nicht so begeistert sein, dass er mich in die Arme nimmt und küsst. Oh Mann, ich bin echt egoistisch, ich weiß. Statt angemessen um seine Schwester zu trauern, ärgere ich mich, dass er sich nicht um mich kümmert. Aber hallo? Sarah ist schließlich nicht tot, noch nicht, und ich kann doch nichts dafür, dass es ihr schlecht geht.

      »Wollen wir denn heute was unternehmen?«, frage ich.

      »Du, mir ist nicht so danach«, sagt er.

      Ich beginne, mich zu ärgern. »Deine Schwester wird nicht davon gesund, dass du hier rumsitzt«, teile ich ihm mit, falls er nicht daran gedacht hat.

      Er hebt den Kopf und schaut mich an. Wieder einmal reicht ein Blick, und meine Haut prickelt überall. In meiner Brust macht mein Herz ein paar wilde Hüpfer. Daniel ist einfach so ... süß. Vielleicht könnte ich tatsächlich damit zufrieden sein, hier zwei Stunden zu sitzen und ihn anzuschmachten.

      Vielleicht.

      Aber andererseits ist heute Samstag und wir haben schon die letzten Wochenenden damit verbracht, im Zimmer zu hocken.

      »Gib dir einen Ruck und komm mit«, sage ich.

      Eine Falte bildet sich zwischen seinen Augenbrauen. Die ist mir sonst noch nie aufgefallen. »Glaubst du wirklich, ich hab jetzt Lust, irgendwo hinzugehen? Ich mache mir echt Sorgen!« Er versucht zu lächeln, was ziemlich kläglich aussieht. »Wollen wir für sie beten?«

      »Wie, laut?«

      »Warum nicht?«

      Ich bin nicht gut darin, laut zu beten. Überhaupt nicht. Eigentlich bin ich überhaupt nicht gut im Beten. Das heißt, ich sage Gott schon zwischendurch, was ich denke und was ich mir wünsche und so. Aber das ist ein Gespräch zwischen ihm und mir, das ist privat. Abgesehen davon, dass ich mir manchmal gar nicht sicher bin, ob es ihn wirklich gibt.

      Daniel weiß allerdings nicht, dass ich so viel zweifle, das behalte ich für mich. Ich habe nämlich die heimliche Befürchtung, dass ihm das nicht reicht. Bestimmt möchte er eine Freundin, die genauso wie er glaubt: hundertprozentig. Daniel ist der Glaube unheimlich wichtig. Aus diesem Grund bemühe ich mich darum, in seiner Gegenwart Miriam aus der Gemeinde zu sein, die zwar kritisch über vieles nachdenkt, aber dennoch unerschütterlich an Gott glaubt. Das ist keine Heuchelei, oder? Denn zwischendurch glaube ich ja tatsächlich ganz fest. Nur eben nicht immer.

      Trotzdem finde ich es unfair, dass ich mein Wochenende mit Beten verbringen soll. Deshalb schicke ich Mandy eine SMS und frag sie, was sie heute vorhat. Wenn überhaupt nichts läuft, kann ich ja immer noch beten.

      Aber ihre Antwort kommt prompt: Sie geht wieder mal auf eine Party. Gibt es überhaupt einen Samstagabend, an dem sie nicht auf einer Party ist? Gibt es eine Feier hier in der Stadt, zu der sie nicht eingeladen ist? Wohl kaum. Ein scharfer Stich des Neides durchfährt mich. Sie hat zwar keinen Freund, aber dafür kann sie nach Herzenslust flirten und tanzen, während ich mit einem todtraurigen Daniel in dieser Bude hocke und beten soll.

      Es gibt doch diese Cartoons, wo jemandem ein Engelchen und ein Teufelchen auf den Schultern sitzen. Das Engelchen will die Seele dazu bringen, das Richtige zu tun. Aber was wäre hier das Richtige? Kann Gott wollen, dass ich betend auf dem Teppich hocke, während draußen eine Party steigt? Mann, ich bin sechzehn und nicht sechzig, und als ich das letzte Mal in den Spiegel geschaut habe, ist mir auch kein Nonnengewand aufgefallen.

      »Das wird dich ablenken«, versuche ich Daniel zu überreden. »Man kann doch auch zwischendurch immer mal wieder beten. Wenn du jede Minute ein Stoßgebet zum Himmel schickst, sind das sechzig Gebete in der Stunde. Sagen wir, wir bleiben vier, fünf Stunden da, dann sind es schon dreihundert Gebete. Das müsste doch reichen. Oder, falls du meinst, dass du es vergisst, könnte man ja auch immer dann, wenn ein neuer Song aufgelegt wird, beten. Dann wären das, wenn ein Lied drei Minuten lang ist, immerhin noch zwanzig Gebete pro Stunde.«

      Daniel hat einen komischen Ausdruck im Gesicht, den ich nicht so recht deuten kann. Vermutlich hat ihm noch niemals jemand ausgerechnet, wie viele Gebete pro Stunde man hinkriegt, wenn man nicht durchgehend betet, sondern im Intervall.

      Vielleicht könnte ich mal einen Kurs durchführen, Thema: »Intervall-Beten. So kriegst du Gott garantiert rum«. Klar, ich weiß, dass man Gott nicht durch Gebete rumkriegt. Aber warum sollte das dann mit einem Marathon-Gebet die ganze Nacht durch anders sein? Das wäre auch ein prima Kurs-Thema: »Marathon-Beten contra Intervall-Beten. Insider berichten aus der Praxis. Mit aktueller Gebetserhörungs-Statistik«.

      Ich grinse vor mich hin und vergesse dabei ganz Daniels kranke Schwester.

      »Geh ruhig«, sagt er. Seine Laune hat sich nicht wirklich gebessert.

      Wahrscheinlich wäre es meine Pflicht als gute Freundin, neben ihm auf dem Teppich zu knien und mit ihm die Hände im Gebet auszustrecken. Bei ihm zu sein.

      In guten und in schweren Tagen, denke ich. Ja, das würde ein Mädchen tun, das es verdient, seine Freundin zu sein. In mehr als einer Hinsicht komme ich mir heute wie eine Betrügerin vor. Denn ich habe nicht die Absicht, hierzubleiben. Das würde mich so deprimieren, dass ich irgendwann völlig durchdrehe. Zumindest in einem Streit würde das hier enden.

      Also bin ich in gewisser Weise sogar besonders nett, weil ich mich jetzt aus dem Staub mache.

      Partys im Winter sind tückisch. Weil man ständig friert. Man friert auf dem Weg dahin. Man friert, wenn man zwischendurch rausgeht, um frische Luft zu schnappen. Der Rock ist zu kurz, die Strümpfe zu dünn, das Oberteil zu knapp. Zu einer Party kann man ja schlecht einen Angora-Pullover, Jeans und Stiefel anziehen. Ja, auch die Füße frieren, wenn man sich aus dem Gedränge löst und durch den Schnee stolpert, um kurz einen Moment aus dem Trubel zu entkommen. Dann bleibt mein rechter Schuh auch noch in einer Schneewehe stecken. Mist, jetzt habe ich die Strümpfe im Schnee, sie sind sofort nass und kalt. Ich will gerade zu meinem Schuh zurückhumpeln, als jemand ihn aus dem Schnee fischt. Ein Jemand, den ich kenne.

      »Hi«, sagt Tom. »Dich sieht man ja auch immer seltener.«

      Dies wird garantiert nicht eine dieser dämlichen Geschichten, in denen die oberblöde Tussi sich nicht zwischen zwei Typen entscheiden kann. Ich bin mit Daniel zusammen. Definitiv. Dass ich jahrelang in Tom verknallt war, dass ich ihn angehimmelt habe, wenn er über den Schulhof ging, dass ich in meiner Schreibtischschublade ungefähr hundertzwanzig Gedichte lagere, die alle mit seinem Namen betitelt sind, das ist Vergangenheit. Genauso wie der Kuss, den er mir in angetrunkenem Zustand gegeben hat, in jener schrecklichen Sturmnacht, die Daniel fast das Leben gekostet hätte.

      Nein, ich werde ganz bestimmt nicht mit Tom flirten und alten Gefühlen die Chance geben, wieder an die Oberfläche zu kommen.

      »Hallo Aschenputtel«, sagt er und reicht mir den Schuh. »Wo hast du denn deinen Ritter gelassen?«

      »Kreuzritter« ist Daniels Spitzname. Er kann ihn nicht ausstehen, aber irgendwie ist er an ihm hängengeblieben, dagegen lässt sich nichts machen.

      »Der hatte keine Lust«, antworte ich, denn wenn ich lüge und behaupte, dass Daniel drinnen im Saal ist, wird Tom mir das bestimmt nicht abnehmen. Es wäre für uns beide