Jockele und seine Frau. Max Geißler

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Название Jockele und seine Frau
Автор произведения Max Geißler
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711467749



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nach einem Rahmengestell. Daran hefteten sie das Zeichenpapier. Der grosse Bruder begann sein Werk. Zuerst zeichnete er Gwendolin Vogelgesang — eins, zwei, drei ... und schon war sie fertig. Jedermann sah, dass sie es war. Er überreichte ihr das Bild mit komischer Eleganz. Er zeichnete schöne Mädchen und alte Fischer, wie sie da umhersassen. Und zuletzt brachte der Kleine einen Riesenrahmen geschleppt, den stellte er vor dem Eingange der Sandbahn auf und rief: „Ha, du bist ein grosser Maler, mein Bruder — du bist ein so grosser Maler, dass ich deine Hosentasche als Schlafstelle gemietet habe! Aber du kannst nicht das grosse Meer malen.“

      „Kleinigkeit!“ sagte Henrik Tofte.

      „Das ganze Meer? Mit dem Sturme? Und mit Schiffen in Not? Und alles auf dies kleine Papier? Ha!“

      „Kleinigkeit!“ sagte Henrik Tofte und begann zu malen. Die Fläche mass zehn Geviertmeter. Er sprang um das Papier, als wäre er aus Gummi: bald kroch er in sich zusammen, bald schnellte er empor, als hätte er eine Feder aus Stahl im Leibe. Und aus seinen bunten Kreiden schuf er das Meer. Wozu der liebe Gott einen Tag gebraucht hatte — oder tausend Jahre ... Henrik Tofte machte das in sieben Minuten. Und der kleine Bruder sass auf dem Sand und heulte den Sturmwind darüber.

      „Fertig!“ schrie der Kleine.

      Henrik Tofte aber lief an die andere Seite der Arena, als wolle er sich die Sache aus der Ferne betrachten — da! Mit ungeheuerem Anlauf flog er über den Sand, mit einem Gewaltschwung sprang er mitten hinein in das gemalte Meer. Und blieb verschwunden.

      „Oh,“ sagte der Kleine — „jetzt ist er ertrunken!“

      Die Menge tobte. Aber Henrik Tofte kam nicht mehr.

      Drei Minuten später schaukelte der „Seelenverkäufer“ mit Gwendolin und Nane Thord aus dem Hafen von Elde. Die anderen suchten nach Henrik Tofte bis gegen Abend. Sie fanden ihn nicht.

      Da zogen sie mit raschen Ruderschlägen Gwendolin nach. „Was nützt es uns, wenn wir uns um ihn sorgen oder uns grämen?“ fragte sie. „Auf dies Herz kann man nun einmal keine Häuser bauen — und er selbst getraut sich das am wenigsten.“

      Hanna von Fellner wohnte nun im Turm — es war ein lustiger Name für den kleinen Aufbau, auf dessen Dache der Sommerrasen schon wieder blühte.

      „Eure Tage in diesem abwendigen Weltwinkel sind ewig bewegt wie die hohe See,“ sagte Hanna.

      „Es ist in der Tat so,“ bestätigte Do, „wir haben genau die gleiche Wahrnehmung gemacht: als wir nach unserer Ankunft kaum zwei Stunden am runden Tische gesessen hatten, war uns, wir wären durch die Erlebnisse aufgeregter Wochen gewirbelt.“

      Seit Henrik Toftes Verschwinden war fast ein Monat verstrichen. Der Wanderzirkus war längst fortgezogen.

      Einmal segelten die von der Insel nach Elde, um über den Freund etwas zu erfahren. Da hörten sie viele widersprechende Meinungen über das Reiseziel der Truppe — es lag offenbar eine Verabredung vor, dir Neugier irrezuführen. Henrik Tofte wollte seine Spur für die Sturmschwalben verwischt sehen. Nur das eine ward ihnen zur Gewissheit: sein Boot hatte er in Elde verkauft. Daraus war zu schliessen, dass er sich nicht mit der Absicht einer baldigen Rückkehr trug.

      „Er will dich durch dies Mittel reuig und gefüge machen,“ sagte Hanna zu Gwendolin. „Ich denke, in ein paar Tagen geht das grosse Licht uns wieder auf.“

      Über das „grosse Licht“ lachten sie. Und damit war ein Name für Henrik Tofte gefunden, der nun unter ihnen blieb, wie das freundliche und sorgende Gedenken, das sie ihm bewahrten.

      Jockele war tief betrübt über den zwar nicht ruhmlosen, aber unwürdigen Abgang, den sich Tofte gesichert hatte. „Vielleicht hätte ich mich mehr um ihn kümmern sollen,“ sagte er.

      „Nein,“ sagte Gwendolin, „denn dann hätte ich gegen euch beide kämpfen müssen und wäre wohl besiegt worden. Möchtest du, dass es so gekommen wäre?“

      Jo zog die Achseln: „Es ist eine zu ungewöhnliche Sache gewesen mit euch. Und Do und ich, wir haben uns gesagt: wir wollen uns da nicht hineinmischen. Du hast so klare Augen, Gwendolin, und du hast ein so aufrechtes Herz — einem Menschen, der nicht aus eigener Klugheit erwägen kann, was er wagen darf, wird auch durch den Rat anderer nicht geholfen. Aber es wäre mir doch leid um das grosse Licht, wenn, er sich selbst aus den Händen fiele.“

      Den tiefsten Eingriff bewirkte Toftes Flucht in das Leben der „Glasgow Boys“ James und Johnny. Auch dieser Name stammte von der erfinderischen Hanna. Doch brachte sie ihn der Kürze halber nur zur Anwendung, wenn sie von beiden sprach. Meinte sie nur James, so nannte sie ihn den „Karauschenteich“ — nach einem Wasser auf dem Fjeld, zu dem sie mit Jakobus Sinsheimer um diese Zeit manchmal auszog. Es war wegen der grünen Wasserfrösche. Der Karauschenteich war ein Tümpel wunderlich verhaltenen Lebens. Algen wuchsen drin; Moosinseln trieben auf seinem Spiegel; er wimmelte von Molchen, Fröschen und Wasserkäfern; und es standen ein paar würdige Karauschen in der Nacht seiner Gründe, die hatten sich bereits Mooshauben angeschafft. Es konnte kein Blick recht erspähen, was in diesem Auge zwischen den Bergen sein verschwiegenes Dasein pflag — genau so ging es dem forschenden Blicke Hannas vor Mister James King; da erfand sie für ihn den Namen: der Karauschenteich. Aber weder das eine noch das andere Kosewort hatte seine Ursache in einer besonderen Hochachtung Hannas vor James und Johnny. Doch — sie unterschätzte die beiden; und Jockele musste sie eines Tages belehren, dass die „Glasgow Boys“ ihre Staatsstipendien keineswegs zur Pflege ihrer Talentlosigkeit empfangen hätten. Sondern die Dinge lagen so: Henrik Tofte war im Vergleich zu ihnen allerdings ein Genie — aber das war er gegenüber jedem anderen Malmenschen auch. Und da hatte die Gelegenheit Diebe gemacht: James und Johnny waren seine Schüler, sie kopierten ihn, sie übernahmen seine Malweise, und über allem war dann der grosse Bluff zustande gekommen: aus einer weitgehenden Bequemlichkeit und Leichtherzigkeit auf beiden Seiten.

      Nun sassen James und Johnny am Rande des Verderbens. Oder sie mussten sich den Ruhm, den sie im Traum errungen hatten, erwerben, um ihn zu besitzen.

      Johnny hatte dazu die ernstliche Absicht. Er ging also ans Werk; aber er schleppte Lasten. Zu allem erfuhr er von dem Kunsthändler Watson, dass nach seinen Bildern eine noch grössere Nachfrage ware als nach denen von James King ... Das war eine neue unfassbare Überraschung; denn Henrik Tofte hatte für Johnny nicht etwas Ausgezeichneteres gemalt als für James. Einige Tage später stellte es sich heraus, dass dies auf die Meinung Watsons zurückzuführen war: weil Johnny ihn damals angelogen hatte, ein dänischer Kunstfreund habe seinen gesamten Bestand an Bildern ausgekauft, war Herrn Watson das Licht aufgegangen, John Williams wäre der stärkere von den beiden „Jöttern“.

      So kam es, dass Johnny für die Leute auf der Insel nahezu unsichtbar ward. Es hiess, er feiere seine Auferstehung in der Romantik der Berge. Mister James dagegen hatte nach dem Vorbilde seines entschwundenen Meisters ein weit grösseres Vertrauen zu seinem guten Stern als zu seiner Arbeit und Mühe. Ganz im geheimen erwog er, ob es nicht ratsamer sei, die sonnige Hanna von Fellner und ihre Wohlhabenheit sich gewogen zu machen — trotz dem „Karauschenteich“. Diesen Traum träumte er bald aus und zog der Leuchte Gwendolins nach. Aber auch das war ein Irrlicht.

      Do hatte sich über allem mit heissem Eifer in das Studium der norwegischen Sprache gestürzt. Eines Tages fand sie bei Ibsen das Gedicht von der „Sturmschwalbe“. Dabei hatte sie eine Offenbarung. Sie übersetzte es in ihrer klaren Einfühlungskraft und ihrer freien Art:

      Draussen, wo sich den Klippen die Wildsee vermählt,

      Wohnt die Sturmschwalbe. Ein Seemann hat mir erzählt:

      Sie schneidet den Schaum der Wogen, ein geflügeltes Schiff,

      Sie tritt das brandende Meer und zerschellt nicht am Riff.

      Mit den Wellen sinkt sie, mit den Wellen steigt sie zur Höh’,

      Mit der Stille schweigt sie, und sie schreit mit der kreischenden Bd.

      Sie fliegt nicht, sie schwimmt nicht: wo Himmel und See sich mischt,

      Geht ihre Fahrt, zwischen Sonne und wogendem Gischt.

      Zu