Название | Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen |
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Автор произведения | Hermann Stehr |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788075831040 |
In den Sätzen glühte das verheimlichte Feuer eines einsamen Grüblers. Die müde Gelassenheit, mit der er diese Rebellion aussprach, wirkte direkt tragisch. Mir schnürte es die Brust zusammen, und ich rief mitten in seine Worte ein lautes »Bravo«, nur um mich innerlich zu entlasten. Denn das alles berührte mich weniger als Sache, sondern als das Bekenntnis eines Mannes, an dessen Ringen ich in so vielen Gesichtern der Nacht hatte Anteil nehmen dürfen. Ich sah kaum, wie Dr. Pfister seine Hand vom Gesicht nahm und mit mißbilligendem Erstaunen nach mir schaute, mir ging der folgende Hauptteil des Vortrages fast spurlos verloren, der von der Benutzung der Phrenologie, der Handkunde und noch anderen Hilfsmitteln für die Erkenntnis der Wesensart des Kindes handelte, ich saß da und starrte versunken in das Wesen dieses Mannes, das sich mir auftat wie ein geheimnisvoller, tiefer Gang. Plötzlich stockte der Redner. Ich schrak aus dem sinnenden Hinschwinden auf und bemerkte, wie Faber seine Blätter mit zitternder Hand senkte und mit einer tiefen Traurigkeit über uns hinsah. Doch nur einen Augenblick dauerte diese Unentschlossenheit. Eine trotzige Falte grub sich zwischen die Brauen, und mit erhobener Stimme las er die kurzen unvergeßlichen Schlußworte: »Die Freiheit der Menschheit gibt es nicht. Wir sollen die Kinder nicht von sich, sondern zu sich, – von uns erlösen. Seien wir demütige Diener, daß jeder Mensch zu seiner Freiheit gelange, die der unzerbrechliche Zwang und der Halt in aller Not ist. Vermögen wir uns zu der Ehrfurcht vor diesem ihrem Gott nicht hindurchzuringen, dann ist unsere Erziehung eine Gefahr, und wir sollten als Hinberufene von bannen gehen.«
Er verbeugte sich. Keine Hand, sein Mund rührte sich zur Anerkennung. Voll Galle rief ich mein »Bravo!« Faber warf mir einen verweisenden Blick zu, und indem er die wenigen Schritte an seinen Platz tat, faltete er bedächtig die Blätter zusammen und ließ sie in seine Seitentasche gleiten. Die Erwartung eines Strafgerichtes erfüllte den Raum.
Dr. Pfister drehte lächelnd den Bleistift zwischen Daumen und Zeigefinger, genoß eine Weile den Schrecken kleiner Seelen, dankte dann mit seiner Wöchnerinnenstimme dem »jungen Herrn« für seine Mühe und stellte den Vortrag zur Diskussion.
Alles blieb still.
»Da sich niemand zum Wort meldet,« fuhr er dann in weinerlicher Milde fort, »so möchte ich einiges erwähnen, was ich mir aufgeschrieben habe. Der Herr Vortragende hat mit viel Fleiß und Mühe vieles zusammengelesen und uns dargeboten, und wenn die Gesamtwirkung eine andere war, als er wohl erwartete, so habe ich nicht nötig, ihm daraus einen Vorwurf zu machen. Denn das hieße ihm das Vorrecht seiner Jugend verargen. Auch Ausdrücke wie »Tugendbold« und ähnliche sind wohl auf nichts als auf eine vorübergehende Vorliebe für Extravaganzen zurückzuführen. Nein, was mich schmerzlich berührt hat, das ist allein die Tatsache, daß in der Arbeit, die doch von der Erziehung der Kinderseele handelte, mit keinem Worte Jesu Christi, unseres einzigen Vorbildes gedacht worden ist.« Und nun gab er die Gallerte gewohnter Phrasen von sich, um zu schließen: »Alles Menschenstreben hat in alle Ewigkeit die Erkenntnis zum Ausgang, daß wir zum Wissen kommen, nichts zu wissen. Wir christ-katholischen Lehrer haben diesen langen Irrweg nicht notwendig, wenn wir uns bei Anfechtungen der Eitelkeit mit den Worten zu Gott wenden: Führe uns nicht in Versuchung!«
Der spitzbübische Slave am Protokolltisch verzeichnete mit eifrigem Wohlgefallen die zerreibenden Sätze des guten Hirten.
Franz Faber erhob sich und erklärte mit unsicherer und gepreßter Stimme, daß sein Thema laute: »Hilfsmittel der Erziehung«, daß aber Jesus Christus einem katholischen Lehrer doch mehr als ein Hilfsmittel sein müsse, und er habe es vermeiden wollen, die Anwesenden mit Beweisen eines Axioms zu langweilen.
Trotz des starken Hiebes gegen Dr. Pfister waren seine Worte nichts als eine vollkommene Unterwerfung.
In Scham starrte ich auf seinen Rücken, der sich ruhig gegen die niedrige Bank preßte.
Der Vorsitzende nahm keine Notiz von Fabers Entgegnung; eine böse Falte legte sich quer über seine gut gepolsterte Stirn, und mit unterdrücktem Widerwillen in seiner Kastratenstimme lud er die Anwesenden ein, Erfahrungen und Fragen aus dem Amtsleben zum Besten zu geben. Niemand fühlte den Mut, Erfahrungen gehabt zu haben, und so erhob sich nach einer gewaltigen Prise der Slave zur Verlesung des Protokolls.
Er hatte die Absicht des geistlichen Rates nur zu gut verstanden und dem Protokoll eine Fassung gegeben, die eine nur leicht verkappte Denunziation Fabers wegen unchristlicher Gesinnung enthielt, denn die Entgegnung des Vortragenden war unterschlagen worden.
»Ich denke, es ist gut so?« fragte der Slave nach Beendigung der Vorlesung zu Dr. Pfister hinauf, und dieser lächelte zurück.