Название | Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen |
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Автор произведения | Emile Zola |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788075835802 |
Miette und Silvère blieben lange stumm; sie suchten in ihren unruhigen Gedanken zu lesen und in dem Maße, wie sie sich zusammen in die Angst und in das Unbekannte des kommenden Tages versenkten, ward ihre Umarmung fester und inniger. Das Mädchen konnte indes nicht länger an sich halten; sie drohte zu ersticken und sprach in einem Satze den Gedanken aus, der beide beunruhigte.
Du wirst wiederkehren, nicht wahr? stammelte sie, indem sie sich Silvère an den Hals warf.
Silvère fand keine Antwort; die Kehle war ihm wie zugeschnürt, und er fürchtete in Tränen auszubrechen wie sie. Er küßte sie wie ein Bruder, der keinen anderen Trost findet. Sie lösten sich aus der Umarmung und versanken wieder in das frühere Stillschweigen.
Nach kurzer Zeit fuhr Miette fröstelnd zusammen. Sie lehnte sich nicht mehr an die Schulter Silvère's; sie fühlte ihren Körper zu Eis erstarren. Noch am vorhergehenden Abend würde sie nicht so gefroren haben in dieser verlassenen Allee auf diesem Grabstein, wo sie schon seit einigen Jahren, in der Stille des alten Kirchhofes, so glücklich ihrer Liebe lebten.
Mich friert's! sagte sie, und schlug die Kapuze ihres Mantels herauf.
Wollen wir einen Gang machen? fragte der junge Mensch. Es ist noch nicht neun Uhr; wir können einen Spaziergang auf die Straße machen.
Miette dachte, daß sie vielleicht lange Zeit nicht wieder die Freude eines Stelldicheins haben werde, einer jener Abendplaudereien, die sie tagelang ersehnte.
Ja, gehen wir, sagte sie lebhaft; gehen wir bis zur Mühle. Ich bleibe die ganze Nacht bei dir, wenn du willst.
Sie stiegen von der Bank herab und verbargen sich hinter einem Bretterhaufen. Hier öffnete Miette ihren wattierten, mit rotem Wollstoff gefütterten Mantel und warf einen Flügel dieses breiten und warmen Kleidungsstückes über die Schulter Silvères, ihn so ganz einhüllend und in einem und demselben Kleidungsstücke an sich schließend. Sie legten sich wechselseitig einen Arm um den Leib, um so nur eins auszumachen. Als sie dergestalt zu einem Wesen verschmolzen waren, als sie dermaßen in die Falten des Mantels eingehüllt waren, daß sie jede menschliche Form verloren, setzten sie sich mit kurzen Schritten in Gang, wandten sich nach der Heerstraße und durchschritten furchtlos die mondhellen Räume des Werkplatzes. Miette hatte Silvère eingehüllt und dieser hatte sich dem Beginnen in einer ganz natürlichen Weise gefügt, als ob der Mantel ihnen jeden Abend den nämlichen Dienst geleistet habe.
Auf der Straße nach Nizza, zu deren beiden Seiten die Vorstadt erbaut war, standen noch im Jahre 1851 hundertjährige Ulmen, alte Riesen, großartige, mächtige Ruinen, welche die weise Stadtverwaltung seither durch kleine Platanen ersetzt hat. Als Silvère und Miette unter den alten Bäumen angelangt waren, deren knotige, unförmlich verschränkte Zweige ihre Schatten auf den vom Monde beleuchteten Fußweg warfen, begegneten sie zwei- oder dreimal dunklen Massen, die sich eng an den Häusern vorwärtsbewegten. Es waren Liebespärchen wie sie, dicht eingeschlossen in den Zipfel eines Überwurfes, im Dunkel des Schattens ihre stille Liebe spazieren führend.
Die Liebenden in den Städten des Südens haben diese Art spazieren zu gehen. Die Burschen und Mädchen aus dem Volke, die eines Tages Mann und Frau werden sollten, aber gern geneigt sind, sich auch schon vorher zu umarmen und zu küssen, wissen nicht, wohin sie flüchten sollen, um ungestört ein Küßchen auszutauschen, ohne sich allzusehr dem Klatsch auszusetzen. Obgleich die Eltern ihnen volle Freiheit lassen, würden sie doch, wenn sie in der Stadt ein Zimmer mieten wollten, um da allein zu sein, schon am nächsten Tage der Gegenstand des allgemeinen Ärgernisses sein; anderseits haben sie nicht jeden Abend Zeit, die Einsamkeit im Freien zu suchen. Da nehmen sie denn zu einem Auskunftsmittel ihre Zuflucht; sie gehen in die Vorstädte auf die leeren Flecke, in die Alleen der Heerstraße, kurz an alle Orte, wo es wenig Leute und viele Schlupfwinkel gibt. Und da sich alle Leute gegenseitig kennen, tun sie ein übriges an Vorsicht und machen sich unkenntlich, indem sie sich in ihre weiten Mäntel einhüllen, in denen eine ganze Familie Platz fände. Die Eltern dulden diese Spaziergänge im nächtlichen Dunkel; die Sittenstrenge der Gegend scheint darüber nicht entrüstet zu sein. Man weiß, daß die Verliebten in keinem Winkel stehen bleiben, auf den verlassenen Wiesengründen sich nicht niederlassen, und das genügt, um die Besorgnisse der Züchtigen zu beschwichtigen. Während des Spazierganges können sie sich höchstens küssen. Indessen kommt es doch manchmal vor, daß eine Dirne fällt. Dann weiß man, daß das Liebespärchen sich gesetzt hat.
Es gibt in Wahrheit nicht Reizenderes als diese Liebes-Spaziergänge. Da äußert sich voll und ganz die einschmeichelnde und erfinderische Einbildungskraft des Südens. Es ist ein wirklicher Mummenschanz, ergiebig an kleinen Freuden, die selbst dem Ärmsten zugänglich sind. Die Geliebte braucht nur den Mantel zu öffnen und bietet dem Liebhaber einen fertigen Zufluchtsort; sie birgt ihn an ihrem Herzen, in der Wärme ihrer Kleidung, wie die kleinen Bürgersfrauen ihre Liebhaber unter ihren Betten oder in den Schreinen verstecken. Die verbotene Frucht hat einen besonders süßen Geschmack. Man genießt sie im Freien inmitten von gleichgültigen