Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen. Emile Zola

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Название Gesammelte Werke von Emile Zola: Die Rougon-Macquart Reihe, Romane & Erzählungen
Автор произведения Emile Zola
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788075835802



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aufzustellen.

      Am Abende des Begräbnißtages entführte Sidonie ihren Bruder nach der Rue Papillon, wo sie ihr Halbgeschoß bewohnte. Hier wurden große Entschlüsse gefaßt. Der Magistratsbeamte beschloß, die kleine Klotilde zu einem seiner Brüder, Pascal Rougon zu bringen, der in Plassans als Arzt thätig war und aus Liebe zu seiner Wissenschaft als Junggeselle lebte, sich aber schon wiederholt erbötig gemacht hatte, seine Nichte zu sich zu nehmen, um ein wenig Heiterkeit in sein stilles Gelehrtenhaus zu bringen. Ferner erläuterte ihm Frau Sidonie, daß er nicht länger in der Rue Saint-Jacques wohnen könne. Sie wird ihm für einen Monat ein elegant möblirtes Heim in der Nähe des Stadthauses miethen und dieses Heim in einem bürgerlichen Hause zu finden suchen, damit es den Anschein habe, als gehörten die Möbel ihm. Was die Einrichtung seiner bisherigen Wohnung betrifft, so wird dieselbe verkauft werden, um die letzten Spuren der Vergangenheit verschwinden zu machen. Den Erlös für dieselbe wird er zum Ankaufe eines Vorraths seiner Wäsche und Kleider verwenden. Drei Tage später befand sich Klotilde in der Obhut einer alten Dame, die gerade nach dem Süden abreiste, und triumphirend, mit glänzenden Backen, gleichsam verjüngt und gestärkt durch diese drei Tage, in welchen ihm das Glück zuzulächeln begann, hatte Aristide Saccard in einem im Marais, Rue Payenne gelegenen Hause von strengem, achtunggebietendem Äußeren eine aus fünf Räumen bestehende Wohnung inne, die allerliebst eingerichtet war und in welcher er mit gestickten Pantoffeln umherging. Es war das die Wohnung eines jungen Abbés, der plötzlich nach Italien hatte reisen müssen und dessen Magd Weisung erhalten hatte, einen Miether zu suchen. Diese Magd war die Freundin der Frau Sidonie, die ein wenig dem Pfaffenthum ergeben war. Sie empfand für die Priester dieselbe Liebe wie für die Frauen: eine instinktive Liebe, die vielleicht eine gewisse Verwandtschaft zwischen der Soutane und seidenen Frauenkleidern entdeckt hatte. Nun war Saccard bereit; mit vollendeter Kunst bereitete er seine Rolle vor und sah ohne mit den Wimpern zu zucken, den Schwierigkeiten der Situation entgegen, die er angenommen.

      Während der schrecklichen Nacht, da Angèle in den letzten Zügen lag, hatte Frau Sidonie die Lage der Familie Béraud in knappen Worten wahrheitsgetreu geschildert. Das Oberhaupt derselben, Herr Béraud du Châtel, ein stattlicher Greis von sechszig Jahren, war der letzte Sproß einer alten Bürgerfamilie, deren Ahnen weiter zurückreichten, als die gewisser adeliger Familien. Einer der Vorfahren war der Gefährte Etienne Marcel's gewesen. Im Jahre 1793 endete sein Vater auf dem Blutgerüst, nachdem er die Republik mit dem ganzen Enthusiasmus eines Pariser Bürgers, in dessen Adern revolutionäres Blut rollte, begrüßt hatte. Er selbst war einer jener spartanischen Republikaner, die von einer aus lauterer Gerechtigkeit und vernünftiger Freiheit bestehenden Regierung träumen. Nachdem er als Richter alt geworden und als solcher eine berufsmäßige Strenge angenommen hatte, nahm er im Jahre 1851, zur Zeit des Staatsstreiches, seinen Abschied als Gerichts-Senatspräsident, nachdem er sich geweigert hatte, an einer jener gemischten Kommissionen theilzunehmen, welche die französische Rechtspflege entehrten. Seit jener Zeit lebte er einsam und zurückgezogen in seinem Hotel auf der Insel Saint-Louis, welches sich an der Spitze der Insel, dem Hotel Lambert beinahe gegenüber befand. Seine Gattin war noch in jungen Jahren gestorben. Ein geheim gehaltenes Drama, welches eine noch immer blutende Wunde geschlagen, verdüsterte das Antlitz des alten Mannes noch mehr. Er hatte bereits eine achtjährige Tochter, Renée, als seine Frau bei der Geburt einer zweiten Tochter starb. Letztere, die den Namen Christine erhielt, wurde von einer Schwester des Herrn Béraud du Châtel aufgenommen, die an den Notar Aubertot verheirathet war. Renée dagegen kam in's Kloster. Frau Aubertot, die keine Kinder hatte, faßte eine mütterliche Zuneigung zu Christine, die an ihrer Seite heranwuchs. Nachdem ihr Gatte gestorben, brachte sie die Kleine zu ihrem Vater zurück und sie selbst lebte fortan in Gesellschaft des schweigsamen Greises und des lächelnden Blondkopfes. An Renée in ihrer Pension dachte Niemand. Wenn sie während der Ferien nach Hause kam, erfüllte sie das Hotel mit solchem Lärm, daß ihre Tante einen Seufzer der Erleichterung ausstieß, wenn sie sie endlich in das Kloster zur Heimsuchung Mariä zurückführen konnte, wo sie seit ihrem achten Jahre lebte. Sie verließ das Pensionat erst im Alter von neunzehn Jahren und da sollte sie gleich die schöne Sommerzeit bei den Eltern ihrer guten Freundin Adeline verbringen, die im Nivernais-Lande einen wunderbaren Landsitz ihr eigen nannten. Als sie im Oktober zurückkehrte, war Tante Elisabeth ganz erstaunt, das Mädchen sehr ernst, ja tief traurig zu sehen. Und eines Abends überraschte sie Renée, wie diese sich in krampfhaftem Schluchzen auf ihrem Bette wand und die Thränen eines wahnsinnigen Schmerzes zwischen den Kissen zu ersticken suchte. Eine Beute tiefster Verzweiflung beichtete ihr die junge Dame eine erschütternde Geschichte: ein reicher, verheiratheter Mann von vierzig Jahren, dessen reizende junge Frau gleichfalls zu Besuch anwesend war, hatte ihr auf dem Lande Gewalt angethan, ohne daß sie Widerstand zu leisten vermocht oder gewagt hätte. Das Geständniß schmetterte Tante Elisabeth zu Boden; sie klagte sich an, als wäre sie eine Mitschuldige gewesen; ihre Vorliebe für Christine erschien ihr als ein Verbrechen und sie sagte sich, daß wenn sie auch Renée bei sich behalten hätte, das arme Kind nicht unterlegen wäre. Um diese brennende Gewissenspein, deren Stachel ihre empfindliche Natur noch verschärfte, zu bannen, leistete sie der Schuldigen fortan Beistand; sie beschwichtigte den Zorn des Vaters, dem sie gerade durch das Uebermaß ihrer Vorsicht den traurigen Sachverhalt verriethen und ersann in ihrem Bestreben, ihre vermeintliche Schuld wettzumachen, dieses absonderliche Heirathsprojekt, welches ihrer Ansicht nach Alles in Ordnung bringen, den Vater versöhnen und Renée in die Reihe der rechtschaffenen Frauen stellen würde, ohne daß sie die beschämende Seite, noch die verhängnißvollen Folgen desselben wahrzunehmen schien.

      Auf welche Weise Frau Sidonie von diesem vortheilhaften Geschäfte Kenntniß erhielt, konnte niemals festgestellt werden. Die Ehre der Familie Béraud gelangte ebenso in ihren Korb, wie die Wechselproteste aller Dirnen von Paris. Als sie den ganzen Sachverhalt kannte, dachte sie sofort an ihren Bruder, dessen Frau in den letzten Zügen lag. Tante Elisabeth war der festen Ueberzeugung, sie sei dieser sanften, untertänigen Dame zu Dank verpflichtet, die sich mit solchem Eifer für die unglückliche Renée verwendete, daß sie ihr in der eigenen Familie einen Gatten auserkor. Die erste Begegnung zwischen der Tante und Saccard fand in dem Halbgeschoß der Rue du Faubourg-Poissonnière statt. Der Magistratsbeamte, der durch das Thor der Rue Papillon angelangt war, sah Frau Aubertot durch den Laden, über die kleine Treppe anlangen und nun ward ihm der sinnreiche Mechanismus der beiden Eingänge klar. Er legte viel Takt und Zuvorkommenheit an den Tag. Er behandelte die Sache ganz geschäftsmäßig, doch als weltgewandter Mann, der seine Spielschulden ordnete. Tante Elisabeth war bedeutend aufgeregter als er: sie stotterte und wagte gar nicht von den hunderttausend Francs zu sprechen, die sie zugesichert. Er war denn der Erste, der die Geldfrage berührte, mit der Miene eines Advokaten, der die Sache seines Klienten verficht. Seiner Ansicht nach waren hunderttausend Francs eine lächerliche Morgengabe für den Gatten des Fräuleins Renée. Das Wort »Fräulein« betonte er ganz besonders. Außerdem würde Herr Béraud du Châtel einen armen Schwiegersohn geringschätzen und ihn beschuldigen, seine Tochter ihres Vermögens halber verführt zu haben; vielleicht käme er sogar auf den Gedanken, insgeheim eine Untersuchung einzuleiten. Betroffen von der ruhigen, höflichen Sprache Saccard's, verlor Frau Aubertot den Kopf und willigte ein, die Summe zu verdoppeln, als er erklärt hatte, daß wenn er sich nicht im Besitze von zweihunderttausend Francs befände, er es niemals wagen würde, um Renée anzuhalten, da er nicht für einen gemeinen Mitgiftjäger gehalten werden wolle. Die gute Dame entfernte sich ganz verstört, nicht wissend, was sie sich von einem Menschen denken solle, der soviel Würde bekundete und dessenungeachtet einen solchen Handel einging.

      Dieser ersten Unterredung folgte ein offizieller Besuch, welchen Tante Elisabeth Aristide Saccard in seiner Wohnung, in der Rue Panenne abstattete. Diesmal kam sie im Namen des Herrn Béraud. Der ehemalige Gerichtsrath hatte sich geweigert, mit »diesem Menschen« zu sprechen, wie er den Verführer seiner Tochter nannte, solange er nicht der Gatte Renée's sei, der er im Uebrigen ebenfalls seine Thür verboten hatte. Frau Aubertot war mit unbeschränkter Vollmacht zur Führung der Verhandlungen ausgerüstet. Die glanzvolle Einrichtung des Beamten erweckte ihre ganz besondere Genugthuung; sie hatte gefürchtet, der Bruder dieser Frau Sidonie, die stets so nachlässig gekleidet ging, sei ein armer Teufel. Er empfing sie in einem tadellosen Hausanzug. Es war das eine Zeit, zu welcher die Abenteurer des 2. Dezember, nachdem sie ihre Schulden bezahlt, ihre abgetretenen Stiefel und an den Nähten zerschlissenen Gewänder in die Gosse warfen, ihre acht Tage