Amyotrophe Lateralsklerose (ALS). Thomas Meyer

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Название Amyotrophe Lateralsklerose (ALS)
Автор произведения Thomas Meyer
Жанр Медицина
Серия
Издательство Медицина
Год выпуска 0
isbn 9783170368439



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Kriterien. Ausgangspunkt ist der klinische Untersuchungsbefund. Bestimmte Labortests können jedoch die Diagnose einer ALS unterstützen. Das Protein Neurofilament Light Chain (NF-L) im Blutserum und Liquor (Nervenwasser) erfährt dabei eine zunehmende Bedeutung (image Frage 33).

      Das Protein Neurofilament Light Chain (NF-L) ist durch spezielle Analysemethoden im Blutserum und Liquor (Nervenwasser) nachweisbar. Bei mehr als 80 % der ALS-Patienten zeigt sich eine Erhöhung der Serum- oder Liquorkonzentration von NF-L. Die Erhöhung betrifft insbesondere Patienten, die eine deutliche Beteiligung des ersten motorischen Neurons oder eine mittlere oder höhere Progressionsrate aufweisen. Trotz dieser Korrelation ist der Rückschluss von einem erhöhten NF-L-Wert auf die Diagnose und Prognose einer ALS nicht zulässig. Dabei ist zu bedenken, dass NF-L auch bei zahlreichen anderen neurologischen Erkrankungen (Demenz, Multiple Sklerose, Parkinson-Erkrankung etc.) nachweisbar ist. Allerdings ist bei der ALS – im Vergleich zu vielen anderen neurologischen Erkrankungen – die Konzentration stärker erhöht. Aufgrund der eingeschränkten Spezifität von NF-L ist eine fachkundige ärztliche Interpretation der Befunde unabdingbar.

      Die genetische Diagnostik bei der ALS ist komplex und erfordert eine Beachtung der Familienkonstellation. Genetische Veränderungen bei Patienten mit ALS sind dann zu erwarten, wenn in der Blutsverwandtschaft bereits andere Menschen mit ALS oder mit einer speziellen Demenz (Frontotemporale Demenz, FTD, image Frage 51) erkrankt sind. In dieser Situation stehen molekulargenetische Untersuchungen (»Gentests«) zur Verfügung. Eine familiäre Vorgeschichte der ALS (familiäre ALS, image Frage 130) ist bei etwa 5 % aller Menschen mit ALS beschrieben. In dieser kleineren Patientengruppe ist ein Gentest durch Fachärzte für Humangenetik (in humangenetischen Instituten und Schwerpunktpraxen) möglich. Die Ergebnisse der molekulargenetischen Diagnostik, insbesondere der positive Nachweis einer genetischen Veränderung (Mutation) können erhebliche diagnostische, prognostische und psychologische Auswirkungen tragen, sodass vor jeglicher genetischen Diagnostik eine fundierte Beratung durch einen Facharzt für Humangenetik erforderlich ist. Eine genetische Testung ohne Hinweise auf ein weiteres betroffenes Familienmitglied (in der gleichen oder vorangegangenen Generation) ist nur mit spezifischen wissenschaftlichen Fragestellungen im Rahmen von Forschungsprojekten sinnvoll. Die Bewertung von genetischer Diagnostik unterliegt den Änderungen des wissenschaftlichen Fortschrittes. Vorstellbar ist, dass in der Zukunft genetische Medikamente verfügbar werden, sodass sich die Richtlinien zur Durchführung genetischer Diagnostik verändern werden.

      Die Magnetresonanztomografie (MRT) gehört zur Diagnosestellung der ALS. Mit der MRT des Gehirns und Rückenmarks sollen seltene Erkrankungen ausgeschlossen werden, die ALS-ähnliche Symptome verursachen können. Zu diesen Differentialdiagnosen gehören insbesondere strukturelle Veränderungen des Rückenmarks, die mit motorischen Symptomen einschließlich Muskelschwäche und Spastik einhergehen können. Die ALS-typische Degeneration von motorischen Nervenzellen im Gehirn und Rückenmark sind in der MRT-Diagnostik nicht nachweisbar. Die Neurodegeneration bei der ALS findet auf einer zellulären, mikroskopischen Ebene statt, die sich der MRT-Bildgebung entzieht. Lediglich bei einem geringeren Teil der ALS-Patienten zeigt die MRT des Gehirns eine veränderte Darstellung der Pyramidenbahn. Darunter sind Nervenstränge zu verstehen, die von den motorischen Nervenzellen der Großhirnrinde durch zentrale Strukturen des Gehirns (innere Kapsel; Capsula interna) bis zum Rückenmark verläuft. Diese Veränderungen sind bei weniger als 10 % aller Menschen mit ALS nachweisbar. Für die Mehrheit der ALS-Patienten gilt, dass die MRT-Darstellung eine Ausschlussdiagnostik umfasst und keine direkten Zeichen der ALS-Erkrankung erkennbar sind.

      Eine Muskelbiopsie ist nur im Ausnahmefall notwendig, um die Diagnose einer ALS zu stellen. In seltenen Konstellationen ist die Unterscheidung zwischen einer ALS und einer Muskelerkrankung allein durch die klinische Untersuchung sowie die Zusatzdiagnostik (Elektromyografie, Labordiagnostik und Biomarker) nicht sicher möglich. In diesem Fall kann eine Muskelbiopsie sinnvoll sein, um eine Muskelerkrankung (Myopathie) mit größerer Sicherheit auszuschließen. In der Muskelbiopsie kann grundsätzlich zwischen Muskelveränderungen bei Myopathien (Muskelerkrankung) und ALS-typischen Muskelschäden (neurogenes Schädigungsmuster) differenziert werden. Obwohl die ALS keine Muskelerkrankung darstellt, führt die verminderte Nervenversorgung der Muskeln (Denervierung) zu charakteristischen Veränderungen im Zellbild des Muskelgewebes (neurogene Veränderungen). Aufgrund der Invasivität der Muskelbiopsie (Hautschnitt und Entnahme eines erbsengroßen Muskelstückes mit anschließender neuropathologischer Analyse) gehört die Muskelbiopsie nicht zur »Routine-Diagnostik« bei der ALS. Zumeist sind die klinischen Symptome in Kombination mit der nicht invasiven Zusatzdiagnostik ausreichend genug, um die Diagnose einer ALS sicherzustellen und eine Muskelbiopsie entbehrlich zu machen.

      Eine Nervenbiopsie ist in seltenen Ausnahmefällen erforderlich, um die Diagnose einer ALS zu stellen. Mit einer Nervenbiopsie (die oft auch in Kombination mit einer Muskelbiopsie durchgeführt wird) werden Ausläufer eines Hautnerven im Außenbereich des Fußes (Nervus suralis) in einem lokalen chirurgischen Eingriff entnommen und anschließend neuropathologisch analysiert. Für die Freilegung von Ästen des Nervus suralis ist ein Hautschnitt von ein bis zwei Zentimetern (und anschließender Naht) erforderlich. Die Nervenbiopsie ist nur dann erforderlich, wenn die Abgrenzung zwischen einer ALS und motorischen Neuropathien (Erkrankungen von Nervenwurzeln und Nervensträngen) mit anderen Verfahren (EMG, Elektroneurografie, Neurofilament) nicht möglich ist. Seltene Differentialdiagnosen, die im Einzelfall eine Nervenbiopsie erforderlich machen, sind immunvermittelte Nervenerkrankungen (Immunneuropathien) oder Gefäßentzündungen, die schädigende Effekte am Nervensystem verursachen (vaskulitische Neuropathie). Auch die genannten seltenen Differentialdiagnosen sind zumeist anhand der Symptome (sensible Symptome oder Schmerzen) gegenüber der ALS (zumeist keine sensiblen Symptome und keine neuropathischen Schmerzen) abgrenzbar. Daher ist eine Nervenbiopsie nur im Ausnahmefall zur Diagnosestellung einer ALS erforderlich.

      IV Fragen zu Varianten und Verläufen der ALS

      38 Was ist eine progressive Muskelatrophie (PMA)?

      Die progressive Muskelatrophie (PMA) ist eine Variante der ALS, die bereits 1850 von dem französischen Neurologen François Aran beschrieben wurde. Die PMA ist eine degenerative Erkrankung des zweiten motorischen Neurons (image Frage 22), bei der Muskelschwund (Muskelatrophie) und Muskelschwäche (Paresen) in fortschreitender Weise auftreten. Eine Schädigung des ersten motorischen Neurons (image Frage 22) ist nicht vorhanden – gesteigerte Muskeleigenreflexe (Hyperreflexie) und Muskelsteifigkeit (Spastik) bleiben aus. Die PMA betrifft etwa 10 % aller Menschen mit ALS.

      39 Ist die PMA eine »echte« ALS?

      Über längere Zeiträume umstritten war, ob die progressive Muskelatrophie (PMA,