Der Sieg des Abendlandes. Christentum und kapitalistische Freiheit. Rodney Stark

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Название Der Sieg des Abendlandes. Christentum und kapitalistische Freiheit
Автор произведения Rodney Stark
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783948075842



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nur weidlich Gebrauch der gottgegebenen Kräfte der Vernunft und der genauen Beobachtung macht, sollte es möglich sein, diese Prinzipien zu erkennen.

      So lauteten die wesentlichen Ideen, welche dafür verantwortlich waren, warum die Wissenschaft im christlichen Europa zur Geltung kam und nirgendwo sonst.

       Moralische Neuordnungen

      Die Segnungen, die die Theologie der Vernunft mit sich brachte, waren nicht nur auf die Wissenschaften beschränkt. Von Beginn an zeigte sich das Christentum ebenso erfinderisch in seinen Entwürfen der menschlichen Natur und in Fragen der Moral. An erster Stelle standen Entwürfe grundlegender Menschenrechte, etwa der Freiheit. Im Hintergrund solcher Ideen und Vorschläge gab es aber etwas noch Fundamentaleres: die »Entdeckung« des Individualismus, letztlich des menschlichen Selbst.

      Die Aussage, dass der Individualismus überhaupt erst entdeckt werden musste, erscheint dem modernen Geist absurd, und in gewissem Maß ist sie das auch. Alle normalen Menschen sehen sich als Einzelwesen mit einem je singulären Blick auf die Welt und einem völlig singulären Nervensystem. Dennoch betonen manche Kulturen die persönliche Eigenständigkeit, während andere die Kollektivität hervorheben und das Gespür für das Ich unterdrücken. Im zweiten Fall, der sich weltgeschichtlich weitaus häufiger findet, ist die Wahrnehmung des eigenen »Seins« vielmehr ins Kollektive verlagert: jedes individuelle Recht, das jemand besitzt, wird nicht ihm selbst gewährt, sondern seiner Gruppe. Gleichzeitig ist sie es, die ihm Rechte überträgt und gewährt. Unter diesen Bedingungen glaubt niemand daran, dass er allein »der Meister seines Schicksals« sei. Vielmehr drängt sich ihm der Fatalismus-Gedanke auf: denn das eigene Schicksal scheint nicht der eigenen Kontrolle zu unterliegen, sondern voll und ganz von äußeren Kräften bestimmt zu sein.

      Selbst die griechischen Philosophen besaßen noch kein Konzept, das unserer Vorstellung einer »Person« entsprochen hätte.61 So lag Platons Augenmerk, als er den Staat schrieb, auf der Polis, der Stadt, und nicht auf ihren Bürgern – er stellte sogar den Privatbesitz in Abrede. Im Gegensatz dazu legte das christliche politische Denken stets den Schwerpunkt auf den individuellen Bürger, und dieser Umstand prägte ganz entschieden die Ansichten späterer europäischer politischer Philosophen wie Hobbes und Locke. Hieran lag etwas ganz entschieden Revolutionäres, da die christliche Betonung des Individualismus letztlich eine »kulturelle Exzentrizität« darstellte.62 Auch das Konzept der Freiheit gibt es in vielen, vielleicht sogar den meisten Kulturen überhaupt nicht. Sehr viele nicht-europäische Sprachen besitzen für Freiheit nicht einmal ein Wort.63

      Es ist daher kein Wunder, dass die avancierteren dieser Kulturen allesamt die Sklaverei begrüßten und despotische Staaten hervorbrachten, in denen ein Begriff wie »individuelle Menschenrechte« gar nicht hätte verstanden werden können. So lange das der Fall war, fehlte auch die für den Aufstieg des Kapitalismus notwendige Freiheit. Um diese Heraufkunft überhaupt nachvollziehen zu können, muss man zunächst verstehen, wie und wann die Europäer Begriffe wie Individualismus, Freiheit und Menschenrechte entwickelt haben.

       Der Aufschwung des Individualismus

      Man vergleiche die Dramen Shakespeares mit denen der alten Griechen. Colin Morris wies darauf hin, dass Ödipus sein trauriges Ende gar nicht kraft seiner Taten verdient hatte. Sein »persönlicher Charakter … spielt in seinem Unglück überhaupt keine Rolle, dieses wird ihm von einem Schicksal verordnet, das von seinen Begierden ganz unabhängig ist«.64 Nicht, dass Ödipus keine Fehler gehabt hätte, doch ging mit seinem Vergehen keinerlei Schuldbewusstsein einher; er fiel einfach seiner Bestimmung zum Opfer. Im Gegensatz dazu waren Othello, Brutus oder das Ehepaar Macbeth alles andere als Gefangene eines blinden Schicksals. Wie Cassius es gegenüber Brutus ausdrückt: »Der Fehler, lieber Brutus, liegt nicht in den Sternen, sondern in uns selbst.«65

      Es ist viel geschrieben worden über die Ursprünge des Individualismus.66 All diese Bücher und Artikel sind sicher sehr gelehrt und mitunter sogar übertrieben fachkundig. Doch haftet ihnen auch etwas seltsam Vages und Ausweichendes an, womöglich, weil sie sich scheuen ihre eigene Grundthese offen auszusprechen: dass nämlich die westliche Vorliebe für den Individualismus durch das Christentum herbeigeführt wurde.

      Seit Anbeginn lehrt das Christentum, dass die Sünde eine persönliche Angelegenheit sei, dass sie also nicht vorrangig in einer Gruppe zu finden sein könne, sondern jedes Individuum sich um sein persönliches Seelenheil selbst zu kümmern habe. Vielleicht ist für die christliche Hervorhebung des Individualismus nichts so wichtig wie die Doktrin des freien Willens. Wenn der Fehler, wie Shakespeare schrieb, »in uns selbst liegt«, dann nur deshalb, weil wir überhaupt eine Wahl haben und es uns obliegt, sie richtig zu treffen. Anders als bei den Griechen und Römern, deren Götter bemerkenswert wenige Werte kannten und die sich kaum um menschliches Fehlverhalten scherten (es sei denn, man hatte die Götter nicht gebührend gnädig gestimmt), ist der christliche Gott ein Richter, der die »Tugend« belohnt und die »Sünde« bestraft. Dieses Konzept ist mit dem Fatalismus nicht vereinbar. Etwas anderes zu behaupten, liefe darauf hinaus, für die eigenen Sünden Gott verantwortlich zu machen. Es hieße, dass Gott die Sünden nicht nur bestraft, sondern sie auch selbst ins Werk setzt. Eine solche Idee liefe der gesamten christlichen Vorstellungswelt zuwider. Die Ermahnung »Geh hin und sündige nicht mehr« würde ins Leere laufen, wären wir bloße Gefangene unseres Schicksals. Ganz im Gegenteil beruht das Christentum auf der grundlegenden Doktrin, dass den Menschen die Möglichkeit und damit auch die Verantwortung mitgegeben ist, über ihre Handlungen selbst zu entscheiden. Wieder und wieder hat Augustinus betont, dass wir »einen Willen besitzen« und dass »daraus folgt, dass, wer immer auch rechtschaffen zu leben wünscht, dies auch erreichen kann«.67 Dies widerspricht auch gar nicht der Lehre, dass Gott bereits im Voraus weiß, welche Wahl wir treffen werden. In Widerrede zu den griechischen Philosophen beteuerte Augustinus, »dass einerseits Gott alles weiß, bevor es geschieht, und dass andrerseits wir all das mit freiem Willen tun, was immer wir nach dem Zeugnis unserer Empfindung und unseres Bewusstseins nur mit freiem Willen tun. Dagegen behaupten wir nicht, dass alles auf Grund eines Fatums geschehe«.68 Während Gott zwar weiß, für welche Handlungen wir uns frei entscheiden werden, greift er doch nicht ein! Es bleibt daher uns überlassen, die Tugend oder die Sünde zu wählen.

      Augustinus’ Ansichten fanden in Generationen christlicher Denker ihren Nachhall. Thomas von Aquin etwa griff sie auf, als er schrieb, dass die Lehre, der zufolge die Menschen eine moralische Wahlfreiheit hätten und Gott dennoch omnipotent sei, keineswegs einen Widerspruch in sich berge: »Ein Mensch kann seine Handlungen seinerseits bestimmen und leiten. Die Kreatur nimmt daher teil an der göttlichen Vorsehung nicht nur, indem sie beherrscht wird, sondern auch indem sie selbst herrscht.«69 Augustinus nahm sogar bereits Descartes’ berühmtes »Ich denke, also bin ich« vorweg,70 etwa in Aussagen wie diesen: »Ohne daß sich irgendwie eine trügerische Vorspiegelung der Phantasie und ihrer Gebilde geltend machen könnte, steht mir durchaus fest, daß ich bin, daß ich das weiß und es liebe. In diesen Stücken fürchte ich durchaus nicht die Einwendungen der Akademiker, die da entgegenhalten: Wie aber, wenn du dich täuschest? Wenn ich mich nämlich täusche, dann bin ich. Denn wer nicht ist, kann sich natürlich auch nicht täuschen; und demnach bin ich, wenn ich mich täusche … Folglich täusche ich mich auch darin nicht, daß ich um dieses mein Bewußtsein weiß. Denn so gut ich weiß, daß ich bin, weiß ich eben auch, daß ich weiß.«71

      Der Gedanke des freien Willens kam zwar ursprünglich nicht von den Christen (Cicero hatte bereits Ähnliches wie Augustinus gesagt72), doch war er für sie viel mehr als eine obskure Angelegenheit der Philosophie. Der freie Wille war vielmehr das Grundprinzip ihres Glaubens. Während die gewöhnlichen Griechen und Römer dem Fatalismus zusprachen, ungeachtet der Vorbehalte mancher ihrer alten Philosophen, lehrte Jesus dagegen, dass jedes Individuum für seine moralischen Fehltritte einstehen und büßen müsse, weil diese eben falsche Entscheidungen darstellten. Es hätte keine zwingendere intellektuelle Gewichtung des Selbst und der Individualität geben können als diese.

       Die Abschaffung