Название | Der Sieg des Abendlandes. Christentum und kapitalistische Freiheit |
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Автор произведения | Rodney Stark |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783948075842 |
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts veröffentlichte der Soziologe Max Weber eine Studie1, die schon bald große Wirkung haben sollte: Die protestantische Ethik und der »Geist« des Kapitalismus.1 Darin vertritt er die Ansicht, dass der Kapitalismus deshalb seinen Ursprung in Europa hatte, weil von allen Weltreligionen allein der Protestantismus den Menschen eine moralische Vision darbot, in der sie einerseits ihren materiellen Konsum beschränkten und andererseits entschieden Glück und Reichtum suchten. Vor der Reformation, so Weber, sei die Konsumbeschränkung notwendig mit Askese und folglich mit einer Verurteilung des Handels einhergegangen. Im Umkehrschluss habe man das Streben nach Reichtum stets mit verschwenderischem, liederlichem Konsum gleichgesetzt. Weder das eine noch das andere Muster hätte sich mit dem Kapitalismus vertragen. Laut Weber wurden diese althergebrachten Verknüpfungen erst durch die protestantische Ethik über den Haufen geworfen, indem diese nämlich eine ganze Kultur sparsamer Unternehmer hervorbrachte, die es zufrieden waren, ihre Profite systematisch zu reinvestieren, um so noch größere Gewinne zu erzielen. Und genau darin liege der Schlüssel zum Kapitalismus und zum Aufstieg des Abendlandes.
Es mag an der Eleganz dieser These gelegen haben, dass sie im großen Stil übernommen wurde, selbst wenn sie offensichtlich falsch ist. Noch heute wird der Protestantischen Ethik unter Soziologen2 ein fast heiliger Status zuerkannt, auch wenn Wirtschaftshistoriker Webers erstaunlich schlecht dokumentiertes3 Werk schon seinerzeit auf der unbestreitbaren Grundlage abqualifizierten, dass der europäische Aufstieg des Kapitalismus bereits Jahrhunderte vor der Reformation stattgefunden hatte. Hugh Trevor-Roper sagt es so: »Die Vorstellung, dass der großangelegte Kapitalismus vor der Reformation ideologisch unmöglich gewesen sei, wird schon dadurch ausgehebelt, dass es ihn ja gegeben hat.«4 Nur eine Dekade nach Webers Buch trug der berühmte Henri Pirenne5 eine Vielzahl von Literaturnachweisen zusammen, die allesamt »den Umstand belegen, dass das gesamte Grundinventar des Kapitalismus – Alleinunternehmertum, Kreditvorschüsse, kommerzieller Profit, Spekulationen usw. – bereits vom 12. Jahrhundert an in den Stadtrepubliken Italiens, Venedig, Genua oder Florenz, zu finden war«. Eine Generation später beklagte der ebenfalls vielgefeierte Fernand Braudel, dass »zwar alle Historiker dieser dürftigen Theorie (der protestantischen Ethik) entgegengetreten sind, es aber keiner geschafft hat, sie ein für allemal zu widerlegen. Und das obwohl sie eindeutig falsch ist. Die Länder des Nordens übernahmen einfach eine Position, die zuvor lange und wirkungsvoll von den alten kapitalistischen Zentren des Mittelmeerraumes besetzt worden waren. Sie selbst haben keinerlei Erfindungen gemacht, weder in technologischer noch betriebswirtschaftlicher Hinsicht.«6 Darüber hinaus waren diese kapitalistischen Zentren des Nordens in der kritischen Phase ihrer Wirtschaftsentwicklung allesamt katholisch, nicht protestantisch – die Reformation lag noch in ferner Zukunft.
John Gilchrist, ein führender Historiker des Wirtschaftslebens in den mittelalterlichen Kirchen, hat von einem anderen Punkt aus dargelegt, dass die ersten Beispiele für den Kapitalismus in den großen christlichen Klöstern zu finden waren.7 Ebenso ist es bewiesen, dass noch im 19. Jahrhundert die protestantischen Regionen und Länder des Kontinents8 den katholischen Gegenden keineswegs voraus waren, vom »rückständigen« Spanien abgesehen.9
Aber auch wenn Weber falsch lag, ging er völlig zu Recht davon aus, dass religiöse Vorstellungen beim Aufstieg des Kapitalismus in Europa eine höchst vitale Rolle gespielt haben. Die materiellen Vorbedingungen für den Kapitalismus waren auch in anderen Zivilisationen gegeben, etwa in China, der islamischen Welt, Indien, Byzanz und vermutlich auch im alten Rom und in Griechenland. Doch ging keine dieser Gesellschaften voran und entwickelte den Kapitalismus, da keine von ihnen eine ethische Vision besaß, die mit einem dynamischen Wirtschaftssystem kompatibel gewesen wäre. Stattdessen huldigten die führenden Religionen fernab des Westens der Askese und prangerten das Profitstreben an, während gleichzeitig habgierige Eliten die von Kleinbauern und Handeltreibenden erwirtschafteten Gewinne zu einem Gutteil wieder einstrichen.10 Warum haben sich die Dinge in Europa anders entwickelt? Weil sich die Christen dort einer rationalen Theologie anheimgaben – ein Umstand, der später zwar auch die Reformation hervorgebracht haben mag, der dieser jedoch um mehr als ein Jahrtausend vorausging.
Gleichwohl hat sich der Kapitalismus nur an manchen Orten entwickelt. Warum nicht überall? Weil es in manchen europäischen Gesellschaften wie auch im großen Rest der Welt viele gierige Despoten gab, die ihn verhindern wollten. Was dort fehlte, war ein Grundbestandteil der kapitalistischen Entwicklung, nämlich die Freiheit. Hier schließt sich eine weitere Frage an: Warum war die Freiheit fast überall auf der Welt ein so seltenes Gut und wie kam es, dass einige Staaten des europäischen Mittelalters sie gehegt und gepflegt haben? Auch hierfür war ein Sieg der Vernunft verantwortlich. Noch lange bevor einer dieser europäischen Staaten seine Regierung in die Hände einer gewählten Versammlung legte, hatten christliche Theologen bereits Theorien über Fragen der Gleichheit und der individuellen Rechte aufgestellt. So beruhen etwa die späteren Arbeiten eines solch »säkularen« politischen Theoretikers des 18. Jahrhunderts wie John Locke auf egalitären Axiomen, die bereits vorher von Kirchengelehrten erarbeitet worden waren.11
Um es zusammenzufassen: der Aufstieg des Westens beruhte auf vier grundlegenden Siegen der Vernunft. Der erste war die Genese des Fortschrittsglaubens in der christlichen Theologie. Der zweite war die Übertragung und Einspeisung dieses Glaubens in technologische und organisatorische Innovationen, von denen viele aus dem Klosterleben stammten. Der dritte Sieg beruhte darauf, dass die Vernunft dank der christlichen Theologie ebenso die politische wie die praktische Philosophie durchdrang, und zwar bis zu dem Punkt, an dem hierfür empfängliche Staaten im mittelalterlichen Europa den Weg für ein großes Ausmaß an persönlicher Freiheit ebneten. Der letzte Sieg beinhaltete die Anwendung der Vernunft auf den Handelsverkehr, was schließlich zur Entwicklung des Kapitalismus in den sicheren Häfen jener willigen Staaten führte. Durch genau diese Siege wurde das Abendland groß.
Der Plan des Buches
Der Sieg des Abendlandes besteht aus zwei Teilen. Der erste wendet sich den Fundamenten zu. Er untersucht die Rolle der Vernunft im Christentum und zeichnet nach, wie sie der politischen Freiheit und dem Aufkommen von Wissenschaft und Kapitalismus den Weg bereitet hat. Teil zwei befasst sich damit, wie die Europäer auf diesen Fundamenten etwas errichteten.
Kapitel 1 widmet sich den Ursprüngen und Konsequenzen des christlichen Zuspruchs zu einer rationalen Theologie. Wie kam es dazu? Und warum resultierte es in dem revolutionären Umstand, dass die Anwendung der Vernunft auf das Verständnis der Bibel zu einem theologischen Fortschritt führte? Es wurde zu einem Grundsatz der christlichen Theologie, dass das Verständnis Gottes mit der Zeit besser und größer werden könne und auch feststehende Doktrinen durchaus radikal veränderbar seien. Nachdem ich die rationalen und fortschrittlichen Aspekte der christlichen Theologie dargelegt habe, wende ich mich Beispielen und Folgeerscheinungen zu. Zunächst behandele ich die absolut zentrale Rolle, die die rationale Theologie beim Aufkommen der Wissenschaft gespielt hat und zeige auf, warum die Wissenschaft sich zwar sehr wohl in Europa entwickelte, nicht aber in China, der islamischen Welt oder im alten Griechenland. Danach wird der Fokus auf wichtige moralische Innovationen gerichtet, die von der mittelalterlichen Kirche geleistet wurden. So begünstigte das Christentum eine sehr nachdrückliche Konzeption des Individualismus, die dennoch mit den eigenen Doktrinen bezüglich des freien Willens und der Erlösung vereinbar war. Daneben kultivierte das mittelalterliche Mönchswesen den Respekt vor Tugenden wie Arbeit oder einfachen Lebensweisen, der der protestantischen Ethik fast um ein Jahrtausend vorausging. Dieses Kapitel umreißt zudem den Anteil des Christentums bei der Heranbildung neuer Ideen der Menschenrechte. Denn für die Entwicklung des Kapitalismus war es erforderlich, dass Europa nicht länger eine Zusammenballung von Sklavengesellschaften war. Wie auch in Rom und allen anderen damaligen Zivilisationen existierte die Sklaverei überall im frühen mittelalterlichen Europa. Unter allen führenden Glaubensrichtungen bildete einzig das Christentum einen moralischen Widerstand gegen die Sklaverei aus, welcher ab