Название | Artemis |
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Автор произведения | Lars Andersson |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711451014 |
Sie wurden nach einem Ritual getraut, das ich nicht kannte. Aber ich hatte schon lange nicht mehr geheiratet.
Alles wurde per Video gefilmt, von dem Mann von Stigs Schwester – was ist das? –, seinem Schwager. Ich habe mir den Film oft angesehen. Elisabet Hallby steht mit einem kleinen Blatt Papier in der Hand. Und sieht trotzdem majestätisch aus, wie eine Art Druidenpriesterin. Die Schatten sollten weich sein, erscheinen aber grell blau, fast lila. Wenn das Birkenlaub ins Bild kommt, scheint es zu brennen. Das Einjährige wehrt sich und will nach vorn. Ich, Erika Madeleine Gillberger. Ich, Stig Olof Torin. Schwenk über die Bankreihen. Da stehe auch ich. Die Blendenweite reicht von Weiß bis Dunkelgrau. Der Kinderchor, der Kantor. Die Gesichter der Kinder, der Brautkinder, eins nach dem anderen. Dann wieder Elisabet Hallby; wir bleiben eine Weile bei ihr, sie hebt das Kinn und schüttelt mit ruckartigen Bewegungen das Haar vom Kragen los, während wir Stig und Madeleine folgen, wie sie sich umdrehen und wieder hinuntergehen, jetzt jeder mit einem Kind auf dem Arm, Maja kommt hinterher und hält sich am Schleier fest.
Draußen stellten wir uns auf und warfen Reis, und auch das hat er gefilmt, sehr sorgfältig. Jetzt konnte er Regie führen, uns dirigieren, damit es ganz natürlich aussah. Es ist heller Sonnenschein. Zuletzt zieht er den Sucher und den Autofocus langsam auf den See, zoomt dorthin und verdunkelt, man hört ihn dreimal jemanden zum Schweigen mahnen, als es dunkel geworden ist. Das sind die einzigen Äußerungen, die er in diesem Drama von sich gegeben hat, die einzigen Worte von ihm, an die ich mich erinnern kann.
Ich bin vierzig Jahre alt und habe die acht letzten dieser Jahre im zivilen Katastrophenschutzamt gearbeitet. Meine Aufgaben sind immer mehr administrativer Art geworden. Früher bin ich viel herumgereist, auch im Ausland, in erster Linie zum Schutz von Chemikalientransporten. Ich kenne diese Leute, die zwischen echten und gedachten Katastrophen hin und her wandern. Mir gefielen sie, und die Schweden gehörten unter ihnen zu den besten. Unsere Art, eine Katastrophe einzukreisen, hatte oft etwas von einer Elchjagd an sich. Einer gut organisierten Elchjagd, Leute in der richtigen Bekleidung, die sich nicht aufregten, sondern kurz und knapp, aber zuverlässig ins Sprechfunkgerät sprachen. War Lärmen und Schreien angesagt, dann geschah das der Reihenfolge nach und meistens, um einander zu lokalisieren, damit alle wußten, daß jeder an seinem Platz war.
Wenn alles gutging, dann war die Sache klar, und die Katastrophen, die sich aus dem ganzen ergaben, wurden in angemessener Form von dem abkommandierten Schützen erledigt. War abzusehen, daß es schiefging, dann ähnelte die Stimmung einer Suche, nachdem jemand vorbeigeschossen hatte. Der beste Hund wurde geholt, und ein zuverlässiger Schütze machte sich an die Arbeit, die anderen saßen zusammen, während es dämmerte, sicher ein wenig durchnäßt, etwas müde, aber in solidarischer, guter Stimmung, traurig, aber zufrieden, bis man erfährt, ob die Maßnahmen gegen die Katastrophe so gut es ging ergriffen wurden oder ob die Katastrophe einfach ins Unbekannte verschwunden ist, in den an die Dunkelziffer angrenzenden, unerreichbaren Raum.
Mir gefiel diese Stimmung, auch wenn mir jegliche Form der Romantik in Zusammenhang mit Katastrophen fremd war. Uns, die wir nunmehr verstreut auf den Fluren des Katastrophenschutzamtes saßen und eher administrative Aufgaben hatten, fiel es schwerer, den Anblick der anderen zu ertragen. Die realen oder hypothetischen Situationen, denen wir unsere Aufmerksamkeit schenken sollten, schienen vom Anblick eines Computerbildschirms ersetzt worden zu sein. Wenn man ins Arbeitszimmer eines Kollegen schaute, sah man einen blau leuchtenden Schirm einer bestimmten Größe auf dem Tisch und einen Mann auf einem drehbaren Stuhl. Man konnte sehen, wie klein der Teil des Gesichtskreises und des Lebensfeldes eines Menschen eigentlich ist, der nach landläufiger Meinung von einem Schirm auf einem Tisch vor ihm aufgenommen wird. Ging man zurück in sein eigenes Zimmer, sah man dort dasselbe. Trotzdem gehe ich davon aus, daß das, womit ich arbeite, ehrenwert und von Bedeutung ist und getan werden muß.
Zwei meiner Kollegen, mit denen ich in der früheren Arbeitsgruppe im Amt am besten zusammengearbeitet hatte, befanden sich zu diesem Zeitpunkt, im Juni, in einem Lastwagenkonvoi mit Gütern nach Srebrenica. Das beeinflußte mich ziemlich stark in der Einschätzung meiner Arbeit.
Aber der Schatten fiel eben einfach nicht auf mich, auf meinen Tisch, nicht einmal auf mein Arbeitsgebiet.
Ich bin vierzig Jahre alt, mein ältestes Kind ist vierzehn, mein jüngstes zehn. Zwei Jungen. Der Zehnjährige war fünf, als ich mich von meiner Frau nach zehn, nein, nach neun Jahren Ehe scheiden ließ. Helena wohnt mit den beiden Jungen in der gleichen Stadt. Aber nicht in unserem alten Haus. Ich habe sie neu kennengelernt. Ich bin vielleicht auch aus ihrem alten Bild von mir herausgetreten, habe akzeptiert und selbst festgestellt, daß ich ein anderer bin, wenn ich an sie denke – dabei meine ich jetzt vor allem die Kinder –, als der, den ich mir sonst vorstelle, ein anderer, den man aber kennenlernen kann.
Der Charakter unserer Stadt läßt sich gut mit der Route des Flughafenbusses beschreiben. Der fährt vom Busterminal zunächst zum Bahnhof, dort steigen ab und zu welche ein. Danach fährt er in einigen eleganten Schleifen am Hotel der Stadt vorbei, hat dort jedoch selten Gelegenheit, anzuhalten, danach über eine Brücke über den Fluß und am Theater vorbei, und schließlich hält er vor dem großen Komplex »Der Musketier«. Hier steigen die Fahrgäste zu. Ich auch, wenn ich irgendwohin muß. Hier sind drei große staatliche Behörden untergebracht, alle mit Verbindung zur Landesverteidigung, außerdem ein Wehrbüro und der Militärstab. Wir warten dort zu mehreren, wenn der Bus um die Kurve biegt. Einige in Uniform, alle mit Aktentaschen. Wir kennen einander, und viele haben ihren festen Platz im Bus, der also bei der Ankunft größtenteils leer ist. Im letzten Jahr ist es jedoch dreimal vorgekommen, daß ich meine Exfrau weiter hinten im Bus entdeckt habe, zu ihr gegangen bin und mich zu ihr gesetzt habe, auf der anderen Seite des Mittelgangs. Sie war am Markt in der Nähe der Provinzversicherung zugestiegen, bei der sie arbeitet.
Das letzte Mal hatte ich sie in diesem Sommer im April oder Mai gesehen. Sie trug einen grünen, capeähnlichen Mantel und hatte die Haare kürzer geschnitten, so daß ihre bernsteingelben Ohrringe, von denen ich glaubte, sie wiederzuerkennen, mit einer eigenartigen Deutlichkeit hervortraten, und sie lachte ihr übliches leises Lachen und erzählte mir, daß sie eine Karte für ein Stück gekauft hatte, das im Theater gespielt wurde, aber ich weiß um alles in der Welt nicht mehr, welches.
Wenn ich sie wiedersehe, überkommt mich jedesmal nach der Verwirrung des ersten Augenblicks Freude und gleichzeitig Trauer, daß wir jetzt nur noch so geringe Rollen im Leben des anderen spielen.
Mit Dina lebte ich in diesem Sommer seit gut zwei Jahren zusammen. Was soll ich über sie sagen? Sie hat grüne Augen. Sie hat kurzes, blondes, sehr lockiges Haar. Wir sind im gleichen Alter. Das einfachste, oder für mich am einfachsten zu Begreifende, was ich über sie sagen kann – ich stelle mir ihren Rücken vor. Er ist mir zugewandt. Die scharf hervortretenden Schulterblätter und die sommersprossige, nicht mehr ganz junge, aber warme und überraschend duftende Haut sowie die Nackengrube, das Haar. Dieser Augenblick, der sich so oft wiederholt hat: Ich drehe sie sanft auf die Seite, so daß ihr Rücken sich mir zuwendet. Die erste Erinnerung muß von einem der ersten Male sein, als wir miteinander schliefen. Ich drehte sie plötzlich, aber sanft auf die Seite, sie hob ihr Knie, und ich drang in sie ein und sah ihren Rücken und Nacken und spürte eine Einsamkeit und einen Frieden