Название | Ulrike Woytich |
---|---|
Автор произведения | Jakob Wassermann |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9788711488355 |
Er nickte vor sich hin, dann starrte er in die Luft, als verfolge er einen Gedanken, der ihn geierhaft umkreiste. „Es müsste aber einmal eine Probe gemacht werden, trotzdem,“ sprach er weiter; „setze man den Fall, ein Bildhauer meisselt eine schöne Statue, ein Maler schafft ein wunderbares Gemälde. Sinnt und bosselt und werkt daran Jahr für Jahr und kein Menschenauge hat es je gesehn, ist er dann ein Tor, ein Prahlhans, wenn ers endlich zeigen möchte? Die Frage ist nur, ob der, den er auswählt, des Vertrauens auch würdig ist, ob nicht hinterher die blutige Reue sich meldet. Schwer zu beantwortende Frage; gefährlicher Entschluss. Diese Person; betrachten wir sie einmal. Gehen wir mit ihr ins Gericht. Was ist es für eine Person? Was ist die Ursache, dass es mich vom ersten Augenblick an gereizt hat, ihr, gerade ihr und keinem andern reinen Wein über mich einzuschenken? Ein hergelaufenes Frauenzimmer, möglicherweise sogar eine Abenteuerin. Familie nicht eben schlecht, aber ohne Zweifel deklassiert. Schlau, verteufelt schlau; geriebener Weiberverstand; zähe Art; will sich durchsetzen um jeden Preis; unheimlich resolut. Weiss, was die Sachen wert sind, weiss, was die Menschen wert sind. Nennt alles beim richtigen Namen. Sieht allem Ungemach mutig ins Gesicht. Angenehme Figur; prächtige Haltung; fester Händedruck; Augen wie vom Herrgott selber eingesetzt, damit sie das Miserable in der Welt vom Nützlichen und Tüchtigen sondern sollen. Gut, da wären wir. Da liegts wohl, was mich lockt. Möchte diese Augen sehen, wenn ihnen klar wird, was es mit H. O. Mylius für eine Bewandtnis hat. Müsste sein, wie wenn man in der Nacht einen Holzstoss anzündet. Da würden sie aufhören, geringschätzig zu blicken, die Augen. Warum ziehen Sie keine Handschuhe an? haben Sie keine? trägt das Geschäft nicht soviel? Mitleid! zum Lachen. Nur eines Wortes bedürfte es, und sie würde verstummen, masslos verstummen würde sie; zittern würde sie und verdammt bescheiden den hübschen Kopf hängen lassen. Schluss mit Ironie und Mitleid. Mitleid! zum Lachen. Da hätte man sie gepackt und niedergezwungen. Das wäre ein Sieg. So was zu erleben, lohnte der gehabten Mühe. Aber es ist noch nicht an dem. Vorsicht, alter Mylius, Vorsicht. Erst sieh zu, ob du keine zum Himmel schreiende Dummheit begehst. Nicht dich hinreissen lassen. Bleib dir treu. Erwäge jedes einzelne Wort, das du sprichst, dass es schliesslich auch ein Scherzchen gewesen sein und zurückgenommen werden kann. Gib dich nicht unbedacht in eine fremde Hand.“
Es war elf Uhr geworden, und nachdem er über den Flur Lothar mit seiner Keifstimme zugerufen hatte, er solle die Lampe auslöschen und zu Bett gehen, begab er sich selbst zur Ruhe. Doch floh ihn der Schlaf. Spöttisch-mitleidig auf ihn gerichtete Augen hielten die seinen durch viele Stunden wach.
Derweil liess die Urheberin solch ungewöhnlichen Aufruhrs es sich angelegen sein, alle ungestümen Erwartungen ihrer Schutzbefohlenen zu erfüllen, und sie lernte kennen, was entflammtes Blut ist in behüteten jungen Geschöpfen und die Begierdenwut, die sich in Träumen angesammelt hat.
Die beiden waren kaum zu zügeln und stürzten sich bedenkenlos in das Element, dessen Breite und Tiefe ihnen so gross dünkte wie ihr Hunger. Sie redeten wirr; sie schweiften trunken umher; sie ergriffen jede sich bietende Hand und bedauerten es, wenn sie sie wieder lassen mussten, weil eine andere sich ausstreckte. Blicke versetzten sie in schwindelnde Unruhe; alles war betäubend neu, Ankündigung eines noch seligeren Zustandes, Lockung, Gefahr und Dramatik. Dabei waren sie furchtsam, besonders Aimée, deren etwas verschlagene Lüsternheit durch Stolz und Sprödigkeit gehemmt war. Um so verlangender brannten die Augen hinter der Maske. Esther äusserte sich offenherzig: „Der Gedanke, dass man in dieser Welt nur der Gast für ein paar erbärmliche Stunden sein darf, könnte einen rasend machen. Was für eine Existenz führt man Tag für Tag! Helfen Sie mir aus dem Sumpf, Ulrike, und ich will Ihnen bis an mein Lebensende dankbar sein.“
„Was nicht ist, kann noch werden“, antwortete Ulrike gelassen und machte ihre stillen Glossen zu diesem bemerkenswerten Ausbruch von Temperament. Sie dachte zynisch: die könnte man alle zwei dem Teufel verkuppeln, und sie würden seinen Schwanz für einen Regenbogen halten.
Sie für ihre Person langweilte sich. Die etwas zahme Ausgelassenheit ringsum liess sie kalt; der Schaum trug sie nicht, sie sah nur den schalen Bodensatz, das Zweck- und Vernunftlose, daher erregte die leidenschaftliche Sucht ihrer Gefährtinnen, dieses Neulingsfieber, ihren heimlichen Hohn. Doch erinnerte sie sich, dass sie nicht bloss zur Betreuung da war, sondern auch zur Belehrung. Die Erde, einmal umgepflügt, musste auch gedüngt werden. Es sollte etwas wachsen. Es war für künftige Ernte zu sorgen.
Von beiden, der einen links, der andern rechts, mit Fragen bestürmt über Menschen und was zwischen den Menschen an Begebenheiten lag, hielt sie mit ihrer Wissenschaft nicht zurück, und als sie mit den Kenntnissen zu Ende war, phantasierte und dichtete sie frisch drauflos. Sie brauchte dabei nur zu fürchten, dass sie die Wirklichkeit nicht erreichte; sie zu überbieten war nach allem, was sie von der menschlichen Gesellschast erfahren hatte, ziemlich schwer. Die käuflichen Frauen, die abenteuernden Männer, die Spieler, die Verführer, die Bankrotteure, die kupplerischen Matronen, die kahlköpfigen Wüstlinge, die ordengeschmückten Streber, notorische Verschwender und Schuldenmacher in glänzenden Uniformen, Aristokratinnen mit zweideutigem Ruf, Träger und Trägerinnen erlauchter Namen, denen die Fama wenig Erlauchtes nachzusagen wusste, alle bekamen ihren Steckbrief und führten vor den Augen der erstaunten Novizen die ränkevolle Komödie auf, die man die grosse Welt nennt. Binnen kurzem hatte sich vor den zwei atemlosen Zuhörerinnen ein so monströses Gemälde von Verirrungen, Verbrechen, Niedrigkeiten, Lügen, Grausamkeiten, privaten und öffentlichen Sünden entrollt, dass ein geschickter Verfasser von Hintertreppenromanen ein Dutzend Bände damit hätte füllen können, ohne seine Einbildungskraft im mindesten zu vergewaltigen, und was Esther und Aimée betraf, so empfanden sie denselben wohlig-gruselnden Kitzel, den hervorgerufen zu haben den Ehrgeiz besagten Autors vollauf befriedigt hätte.
Denn es lag ja Ulrike nicht daran, nach Moralistenart abzuschrecken; sie verstand es und zielte darauf hin, das Laster schmackhaft zu machen und die Verderbnis in reizenden Farben zu malen. Alles, was da wogte und flatterte, liebte und hasste, lächelte und scherzte, war weit entfernt von der gültigen Regel des Wohlverhaltens; alles, was sich abspielte, vor und hinter den Kulissen, spottete der bürgerlichen Begriffe von Mass und edlem Betragen. Straflosigkeit war zugesichert; ja man bedeckte sich mit Ruhm und genoss die Bewunderung des Publikums, wenn man sich darin vor andern hervortat. Dies liess Ulrike durchblicken, und ihre Schülerinnen lauschten gläubig und andächtig.
Sie erlaubte ihnen, sich für eine Weile auf eigene Faust zu vergnügen. Während dieser Zeit kauerte sie sich in eine Logenecke und schlief. Als sie erwachte, war es schon spät, und sie begab sich mütterlich besorgt auf die Suche. Sie fand ihre Freundinnen in einer lärmenden Gesellschaft junger Herren, bedenklich munter, ja in nicht ganz einwandfreier Geistesverfassung, mahnte zum Aufbruch, begleitete die beglückt Erschöpften nach Hause und nahm die Ergüsse ihres überströmenden Dankes mit leisem Sarkasmus entgegen.
Zu Mittag kam Lothar, um sich die versprochenen achtundvierzig Gulden zu holen, und eine Stunde später brachte er die Dose. Er zerdrückte ihr beinahe die Hand vor Dankbarkeit, auch der, aber es war doch ein anderes; da leuchtete sie ein ihr gemässeres Wesen an, Wille, der dem ihren verwandt war. Da hatte sie ein Rad in Schwingung versetzt, das lief sicher und schnell seine kühne Bahn. Sie ertappte ihre Gedanken, wie sie naschhaft um das Bild des Jünglings kreisten, aber sie schüttelte sie ab und der gemeine Alltag stellte seine Forderung.
Ihre Barschaft überzählend, sagte sie sich, dass sie damit den unterschiedlichen Seitensprüngen der Myliusschen Sprösslinge nicht mehr lange Vorschub leisten könne und es nötig war, sich eine Hilfsquelle zu erschliessen oder ohne Umstände geradezu aufs Ziel zu marschieren. Die Ereignisse zeigten ihr den Weg.
Als sie am späten Nachmittag in die Myliussche Wohnung kam, fand sie alle verstört. Christine erzählte ihr, was geschehen war.
Das