Geschichtsmatura. Christian Pichler

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werden aufgelistet. Es heißt ausdrücklich, dass „[…] alle angeführten Kompetenzen in ausreichendem und ausgewogenem Maße im Unterricht berücksichtigt werden und im Mittelpunkt des Unterrichts stehen“.541 Von der Lehrperson verlangt dieser Anspruch ein hohes Maß an fachwissenschaftlicher Kenntnis und tiefe Einsichten in die fachdidaktischen Ziele der beiden Kompetenz-Strukturmodelle. Für den Untersuchungszeitraum sind Lehrpläne und Bildungsziele jedoch widersprüchlich gewesen und haben in der Unterrichtspraxis Irritationen ausgelöst. Nicht wenige Lehrer*innen fühlten sich in einem Dilemma zwischen dem Anspruch, eine kompetenzorientierte Reifeprüfung vorzubereiten und der Erfüllung des rechtskräftigen Lehrplans aus 1985, der anderen Paradigmen verpflichtet gewesen ist. Erklärbar ist das merkwürdige Vorgehen der Bildungspolitik durch die mit der PISA-Dynamik verbundenen Eile zur Einleitung organisatorischer und strukturelle Veränderungen im Schulsystem.542 Jedenfalls wurde ein konsequenter, sachlogischer und schrittweiser Umbau des Schulunterrichts auf dem Altar jener Teilreformen geopfert, die die Bildungspolitik als prioritär festgelegt hat.

      Um den amtlichen Vorgaben den Weg in die Schulpraxis zu ebnen, hat das Bildungsministerium eine AG aus Persönlichkeiten der Lehrer*innen-Fortbildung, der Schulleitung und der Schulaufsicht mit dem Auftrag installiert,543 eine „Handreichung“544 zu verfassen, um „[…] eine rechtzeitige Einstimmung der Lehrerschaft und eine seriöse Vorbereitung der Prüfungskandidat(innen)en zu ermöglichen und Irritationen zu vermeiden.“545 Die Schrift erscheint acht Monate vor dem ersten Durchgang der kompetenzorientierten Reifeprüfung und soll, ihrem Selbstverständnis nach, als Zusammenschau und Auslegung des SCHUG, der RPVO und der LBVO gelesen werden. Die Autoren*innen stellen fest, dass es dem Gesetzgeber bei der Verordnung der mündlichen Reifeprüfung nicht primär um eine Standardisierung der Leistungsanforderungen gegangen sei, sondern darum, die „[…] Objektivität und Verlässlichkeit der Reifeprüfung zu vermehren und die Vergleichbarkeit mit europäischen Standards zu sichern […].“ Zugleich wird festgehalten, es blieben „trotz aller Standardisierung […] autonome Schwerpunktsetzungen der Schulen und individuelle Prioritäten der Kandidatinnen und Kandidaten“546 gewahrt. Die AG hebt hervor, dass das Hauptziel der Reform eine „[…] deutliche Kompetenzorientierung bei den Aufgabenstellungen und eine Rückwirkung auf den Unterricht“547 gewesen sei. Unter Berufung auf einen Beitrag in „Praxis Politik“ aus dem Jahr 2007,548 wird in einer Punktation zu verdeutlichen versucht, was unter dem Kernelement der kompetenzorientierten Aufgabenstellung, den Anforderungsbereichen (AFB), zu verstehen ist: „Eine Reproduktionsleistung (fachspezifische Sachverhalte wiedergeben und darstellen, Art des Materials bestimmen, Informationen aus Material entnehmen, Fachtermini verwenden, Arbeitstechniken anwenden etc.) und eine Transferleistung (Zusammenhänge erklären, Sachverhalte verknüpfen und einordnen, Materialien analysieren, Sach- und Werturteile unterscheiden) sowie Leistungen im Bereich von Reflexion und Problemlösungen (Sachverhalte und Problem erörtern, Hypothesen entwickeln, eigene Urteilsbildung reflektieren).“549 Und es gibt, mit der Hervorhebung des Aspekts der „Beurteilung der Eigenständigkeit“,550 einen Hinweis darauf, wie die ergründeten Kompetenzen in Noten transferiert werden können. Mit der Klärung der Funktion der AFB und der Empfehlung eines Arrangements in drei Stufen (Reproduktion, Transfer, Reflexion) gelingt den Autoren*innen eine Präzisierung der Ansprüche an eine kompetenzorientierte Aufgabenstellung.551 Zudem tritt erstmals der Begriff „Material“ in Erscheinung und das in einer apodiktischer Weise, sodass der Eindruck entsteht, die AFB I und II seien nur materialbezogen bewältigbar. Dies ist zwar didaktisch wünschenswert, trägt aber den Charakter einer Empfehlung, denn weder SCHUG noch RPVO sprechen davon, dass mit „Material“ gearbeitet werden muss. Das deutsche Zentralabitur sieht die Möglichkeit von Aufgabenstellungen ohne Materialbearbeitung vor und hat auch dafür Empfehlungen vorgelegt.552

      Parallel zur Abfassung der Handreichung beauftragte das Ministerium ein Team von Fachdidaktiker*innen aus der Gesellschaft für Geschichtsdidaktik Österreich (GDÖ)553 mit der Ausarbeitung eines fachlichen „Leitfadens“,554 um die Aussagen der Handreichung domänenspezifisch einzuordnen. Der Leitfaden erklärt die Struktur der Aufgabenstellungen, deren Passung zum Geschichtsunterricht, widmet sich der Auslegung der Rolle der Operatoren für die Formulierung von TA, reflektiert in prägnanter Weise den Stand der fachdidaktischen Diskussion und weist auf die geschichtsdidaktischen und inhaltlichen Prinzipien hin, deren Beachtung den Unterricht kompetenzorientiert wendet und er beinhaltet einen Musterthemenpool samt Musteraufgaben. Michael Sörös betont in seiner Einleitung, dass es bei der Reifeprüfung um einen Transfer des Wissens in Können gehe. Da die Aufgaben nicht zentral erstellt würden, sei deren Gestaltung durch Lehrer*innen besondere Bedeutung zuzumessen. Die Aufgabenersteller hätten die AFB zu berücksichtigen, den zielgerichteten Einsatz von Operatoren und die Kongruenz von Thema und Aufgabe. Außerdem müsse jeder Aufgabe eine Quelle oder Darstellung zur Bearbeitung, die „[…] nicht nur illustrativen Charakter hat, sondern deutlich in die Aufgabenstellung einbezogen wird“555, beigegeben werden. Damit präzisiert der Leitfaden die Empfehlung vom verpflichtenden Materialeinsatz aus der Handreichung. Das Autor*innen-Team gibt sich optimistisch, dass die die Umorientierung im Unterricht von der „reinen Wissensvermittlung“ hin zu „Tools“,556 deren analytische und lebenspraktische Anwendung es jungen Menschen ermöglichen sollte, historische und politische Themen zu verstehen, gelingt, sofern den Empfehlungen Folge geleistet wird.

      5.1 Zur „empirischen Wende“ in der Fachdidaktik und zum Diagnosebedarf fachlicher Kompetenzen, ein Problemaufriss

      In der Geschichtsdidaktik ist man sukzessive zur Auffassung gelangt, dass es opportun ist, eigene theoretische Modelle empirisch zu überprüfen, weil die in den Sozialwissenschaften dominante quantitative Forschung die inhaltliche Durchdringung didaktischer Fragen mitunter zurücksetzt. Im Gefolge des „PISA-Schocks“ haben sich mehrere Richtungen empirischer Geschichtsdidaktik-Forschung ausgebildet, deren Kategorisierung einer grundsätzlichen Orientierung dient, denn festgelegte Abgrenzungen werden, um des Erkenntnisinteresses willen, mit Absicht vermieden.557 Somit beschreibt und analysiert die Phänomen-Forschung tendenziell Erscheinungsformen des Unterrichts. Ihre Desiderate präsentieren und kommentieren vor allem „Good-Practice-Examples“ und liefern Erkenntnisse für die Curriculums-Entwicklung.558 Während die Ergebnisforschung Schüler*innen-Leistungen, aber auch Interessen, Einstellungen und Fähigkeiten der jungen Menschen im Kontext konkreter Unterrichtsarbeit untersucht,559 hat die Wirkungsforschung die Analyse der Zusammenhänge von Bedingungen für Unterrichtsarbeit und deren Produkten zum Inhalt, um deren Faktoren für Unterricht zu identifizieren und für Lernangebote nutzbar zu machen.560 Die Auswirkung von Impulsen von außen auf das komplexe Gefüge von Unterricht beobachtet und untersucht Interventionsforschung.561 Geschichtsbewusstseinsforschung berücksichtigt entwicklungspsychologische Faktoren zum Zweck des Verstehens und Nutzens individueller Lern- und Denksysteme. Ihr Ziel ist es, Unterricht so zu beeinflussen, dass er die Entwicklung des historischen Bewusstseins fördert.562

      Es gibt somit Konsens darüber, dass Kompetenzen (bildungspolitische Fragen, Überprüfung fachspezifischer Modelle auf deren Tauglichkeit für die schulische Praxis) untersucht werden müssen. Die Eignung von Modellen wird in erster Linie im Erreichen bestimmter Kompetenzniveaus durch Schüler*innen evident, weshalb die Untersuchungsmethode „Kompetenzmessung“ heißt. Zugeordnet wird sie Ergebnis- und der Geschichtsbewusstseinsforschung. Das Vorhaben ist herausfordernd, weil die domänenspezifische Theoriebildung nicht abgeschlossen ist und sich die Ausdifferenzierung theoretischer Zusammenhänge als komplex darstellt. Voraussetzung einer seriösen Kompetenzmessung wäre eine „[…] eindeutige Definition grundlegender theoretischer Konstrukte und eine Kontrolle von Interdependenzen zwischen einzelnen Konstrukten eines größeren theoretischen Zusammenhangs“.563 Während das in den Theorie-Modellen der Unterrichtssprachen, Fremdsprachen und Mathematik mittels Standardisierung gelungen ist, gibt es in geisteswissenschaftlichen Fächern Dissens darüber, ob Denkvorgänge adäquat