Die Sache, die man Liebe nennt. Lise Gast

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Название Die Sache, die man Liebe nennt
Автор произведения Lise Gast
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9788711509111



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war er davon aufgewacht. Und würde nicht wieder einschlafen können.

      Na schön. Kam man wenigstens mal zum Nachdenken. Tim blieb am Fenster stehen und zog nicht nur die Nase, sondern auch die Stirn kraus. Er grübelte. Er dachte nach, so tief, wie man es bei ihm nicht gewöhnt war. Er war es selbst an sich nicht gewöhnt.

      Tim war als Jüngster einer ziemlich langen Geschwisterreiher – man konnte auch sagen: einer unziemlich langen – geliebt und verwöhnt worden, von zärtlichen Schwestern betreut und verhätschelt, und es hatte ihm zum allgemeinen Erstaunen nicht geschadet. Er war nicht weich und weinerlich, begehrlich und selbstsüchtig geworden, wie Übelwollende prophezeiten, sondern ein langbeiniger, zwar schulterschmaler, aber kräftiger und zäher, großer, genügend harter Junge – noch nicht Mann, das wäre übertrieben! –, der etwas tat, wenn es nötig war, und nie etwas darüber, der sich lieben ließ und nie etwas versprach, das er hätte halten müssen. Der – und das durchaus nicht nebenbei, sondern sehr im Vordergrund – ausgezeichnet ritt. Das hatte auch der Landesverband eingesehen und ihn hierher aufs Gestüt geschickt, um diesen Kursus mitzumachen, auf Verbandskosten mit Taschengeld. Tim hatte gern ja gesagt.

      Es galt, die Prüfung für den Hilfsreitlehrer, den sogenannten Reitwart, zu bestehen. Tim hatte mit sieben Jahren zu reiten angefangen und nie damit aufgehört. Man konnte das neben der Schule, die er häufig schwänzte, und neben dem Studium, man konnte es an Feiertagen, in den Ferien und im Semester. Wenn tags keine Zeit blieb, ritt man am Abend in der Halle. Ja, es war vorgekommen, daß Tim zu einem Examen später kam, vorschriftsmäßig entschuldigt natürlich, und daß er die Hochzeit einer seiner vielen Schwestern nur zum Teil mitfeiern konnte, weil er auf einem Turnier gebraucht wurde. Die standesamtliche Trauung dieser Schwester übrigens, die auch den Pferden verschworen war, wurde ebenfalls verschoben, ›weil wir noch schnell eine Stunde reiten wollen, es ist so schöner Schnee!‹ Der Standesbeamte lächelte und traute eine Stunde später.

      Tim hatte goldene, silberne und andersfarbige Schleifen erritten, die eben diese Schwestern mit zärtlich-stolzen Händen über seinem Bett, in Hufeisenform angeordnet, aufgehängt hatten (›unsere Familie ist sehr für Kitsch‹.)

      Jetzt also dachte er nach. Sie hatten einen Philologen im Kurs, der ihn an jemanden erinnerte. ›Der Schriftgelehrte‹ wurde er genannt, und sein Reiten war nicht umwerfend, um so besser sein Wissen in Theorie. Das gehörte zum Hilfsreitlehrer natürlich auch. Aber es war trotzdem besser, »gut auf de Gaul nazuhocke«, als alles zu wissen. Dieser Mann erinnerte Tim an jemanden, nur kam er nicht drauf, an wen.

      Im Kurs wurden alle mit dem Vornamen angeredet, auch vom Lehrer, und untereinander duzte man sich. Das war von jeher so. Deshalb wußte Tim den Nachnamen des Kollegen nicht. Es war also schwierig, die Ähnlichkeit zu identifizieren. Vielleicht aber war es nur eine zufällige.

      Wenn er schon nicht schlief, konnte er auch hinübergehen. Immer war im Stall zu tun, auch vor der offiziellen Zeit. Tim kannte es nicht anders, als daß erst die Pferde kamen und dann man selbst. Er fuhr in die vom Waschen gebleichten Jeans und stülpte den Bauernkittel über. In langen, ein wenig o-beinigen Schritten – er hatte keine O-Beine, es sah nur bei einer gewissen Gangart so aus einen Fuß vor den anderen setzend, schnürend, sagt der Waidmann, ging er über den Hof.

      Es war noch nicht hell, sicher würde es heute einen Herbstmorgen geben, der zu dieser Landschaft paßte: hart und herb und frisch, so, wie die Alb meist ist. Vielleicht würde nachmittags ausgeritten. Dann gab es nicht so viel Theorie, gottlob. Vorgestern hatte einer den Sattel geräumt und deshalb »einen ausgeben« müssen, das zog eine ziemliche Sauferei nach sich. Am nächsten Tag in der Theorie fielen einem dann die Augen zu. Tim hatte den Kopf gesenkt und sanft vor sich hingedöst, als man auf das Treiben zu sprechen kam.

      »Treiben kann er am besten«, sagte der Schriftgelehrte gehässig und deutete auf den friedlich duselnden Tim, und der Lehrer trat vor dessen Pult und sah ihm ins Gesicht: »Die treibenden Hilfen, hab’ ich gesagt.«

      Tim war sich heute noch nicht klar darüber, ob der Gestrenge gemerkt hatte, wie es um ihn stand. Vielleicht doch nicht, sonst hätte es einen tollen Krach gegeben. Auf Verbandskosten herkommen und dann im Unterricht schlafen ...

      Dabei konnte er auswendig, was da erzählt wurde. Auch die Kommandos. Es war immer ein Vergnügen, wenn der Lehrer die Kommandos durcheinanderbrachte. Das konnte auch dem Sattelfestesten passieren. Tim, der sehr oft bei Dressuren die Kommandos hatte geben müssen, wußte das aus eigener Erfahrung. Ritt man dann richtig oder hielt man sich hauteng an die versehendich falsch gegebenen Kommandos? Diese Frage würde wohl ewig ungelöst bleiben, ähnlich der, wer eher da war, die Henne oder das Ei.

      Er war in den Hengststall getreten, spähte umher, ob jemand da sei – leer, zum Glück – und schlüpfte in die Boxe von Jungherr, Abkomme jenes unvergessenen Trakehners, den er noch persönlich gekannt und sehr geliebt hatte, geliebt und bewundert; jenes Pferdes, das den Ritt Ostpreußen–Schleswig-Holstein dreimal hintereinander gemacht hatte. Im Sommer vierundvierzig hin nach Schleswig, wieder zurück, und im Januar fünfundvierzig, jenem unseligen, mörderischen Januar, noch einmal die ganze Strecke an der Spitze der Herde. Achtzig Prozent der Stuten verfohlten unterwegs. Tim konnte, hier allein in der Boxe von Jungherr, immer wieder Tränen vergießen um jenes gemordete Material. O Julmond, aber du hieltest durch! Und du kamst später hier auf das Gestüt und vererbtest, und Kinder und Enkel von dir gehen über die weiten Weiden der Alb.

      Jungherr kam sofort zu ihm, als er durch die Schiebetür schlüpfte, und stieß ihn mit der Nase an. Dann wieherte er ein bißchen, hell und auffordernd, und machte eine kleine Levade. Jungherr war ein Neckbold, so zielte er, meist mit Erfolg, gern auf die Füße der jungen Leute, die ihn vorführten, mit seinen eigenen Füßen. Die hatten immerhin die Größe mittlerer Kompott-Teller und waren natürlich beschlagen.

      »Ach, du Grobian«, murmelte Tim und lehnte sich mit der Brust gegen den Hengst, um dessen Gewicht von seinem Fuß wegzudrücken. »Natürlich ist das Absicht. Gehste!«

      Sie durften nicht in die Boxen. Tim jedoch hielt sich nicht an das Verbot. Er ließ sich nie erwischen, aber er war schon bei jedem Hengst gewesen. Irgend etwas zog ihn hin. Er mußte die Tiere hautnah spüren.

      Einer, ausgerechnet der Haflinger, der hier ein bißchen der Außenseiter war und nicht ganz ernst genommen wurde, hatte ihn einmal böse angegangen. Gewöhnlich stand Adler angebunden im Stand, jetzt aber lief er frei in der Boxe. Tim kam zu ihm hinein, wie er zu Golddollar oder Jungherr gegangen war, und da ging Adler auf ihn los, mit geweiteten Nüstern und weißen Augen. Tim sprang rückwärts und feuerte Adler die Bürste auf die Nase – mit mir nicht! Gottlob hatte er gerade etwas in der Hand gehabt. Trotzdem konnte er es nicht lassen, die Hengste zu besuchen.

      Nachdem Jungherr fast die Hälfte der Möhrenstückchen bekommen hatte, die Tim wie immer für seinen Besuch eingesteckt hatte, ging er rückwärts aus der Boxe und zu Herzog hinein. Herzog war neu, Tim hatte ihn noch nie geritten. Langsam trat er an ihn heran.

      »Ja, wo ist er denn, der Schöne? Komm, komm, mal sehen, was Jungherr übrig gelassen hat –«, schmeichelnd kam er näher. »Herzog, ja, ist ja gut, so ein schöner Herzog –«, was man so sagt. Und plötzlich fiel ihm ein, während er immer wieder ›Herzog‹ murmelte, an wen der Schriftgelehrte ihn erinnerte. Natürlich, das war es! Dasselbe fein angelegte Gesicht mit den Grübchen in den an sich ein wenig rundlichen Wangen – zu rundlich jedenfalls für einen Mann –, dasselbe runde Kinn. Barockengel hatte er sie damals genannt, ob ausgesprochen oder nur in Gedanken, das wußte er nicht mehr. Barockengel, nicht Putte. Barockengel, rundlich und fein.

      »He, Tim, bist du da? Wir suchen dich!«

      Die aufgeregte Stimme eines der Pferdepfleger. Tim war lautlos und sekundenschnell durch den Spalt der Tür geglitten und stand harmlos in der Stallgasse. Er konnte enorm flink sein, so schläfrig er sich oft stellte. Der Rufende hatte nicht gemerkt, woher er kam.

      »Obe, in Sankt Leonhard, verschtescht! Die Fohle – sie sin ausgebroche –«

      Sie rannten nebeneinander durch den schummerigen Hof. Da und dort regte es sich, zwei oder drei Mann schlossen sich ihnen an. Von irgendwoher stieß der Reitlehrer zu ihnen, er wirkte