Brüder machen manchmal Kummer. Lise Gast

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Название Brüder machen manchmal Kummer
Автор произведения Lise Gast
Жанр Книги для детей: прочее
Серия
Издательство Книги для детей: прочее
Год выпуска 0
isbn 9788711508398



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sagte der Doktor kläglich. „Laß mich nicht vergeblich leiern!“

      „Venez souper à sans-souci!“ rief Reni, schnell gefaßt, und der Doktor vollendete aufatmend:

      „J’ai grand appetit! Danke, Reni, du bist doch die Beste und läßt einen alten Mann nicht im Stich!“

      Gemeinsam betraten sie das linke Haus des Heims, in dem die Privatzimmer der Familie lagen. Der nächste Schwarm Heimkinder war erst für übermorgen angesagt, man war ausnahmsweise unter sich.

      Mutter hatte im Kaminzimmer gedeckt.

      „Ihr Scheusäler, die arme Erika nicht abzuholen, noch dazu bei dieser Hitze! Wartet, das vergißt sie euch nicht!“ drohte Mutter den beiden andern. „Dafür darf sie auch heute neben Vater sitzen.“

      „Heute? Von nun an bis in Ewigkeit“, bestimmte Vater und faltete genußreich seine Serviette auseinander. „Erika ist ab heute die Lieblingsfrau des Maharadschah, und ihr andern seid alle abgemeldet, Tante Mumme und Mutter und Reni erst recht!“

      „Vielleicht will ich gar nicht?“ sagte Erika vergnügt, „vielleicht mag ich den Maharadschah gar nicht? Sondern einen andern Mann viel lieber?“

      „Oho, etwa Christian?“ fragte Vater mit hochgezogenen Augenbrauen.

      „Aber wo!“ Erikas Gesicht sprühte vor lustiger Pfiffigkeit. ‚Das Mädel wird hübsch‘, dachte der Doktor lächelnd. „Sondern jemand anderes, den ihr alle anscheinend vergeßt. Meinen Patensohn, jawohl! Wo ist er? Wo ist Stefan, die Hauptperson?“

      „Schläft“, sagte Mutter schnell, „aber nicht mehr lange. Dann kannst du ihn bewundern und mitnehmen auf die Wiese und alles, was du willst. Erst aber wollen wir in Ruhe essen und vorher beten. Wer ist dran?“

      „Christian.“

      „Schön.“

      Das Amt des Tischgebets ging reihum, nicht nur unter den Kindern. Je eine Woche lang betete Mutter, dann Vater, dann Tante Mumme, Christian und Reni, jetzt natürlich auch Erika. Vater wußte viele schöne alte Gebete, und Mutter bemühte sich, auch welche zu finden. Es war aber durchaus erlaubt, wenn man nichts Neues wußte, die einfachsten Formeln zu sagen: „Segne, Vater, diese Speise“, oder „Komm, Herr Jesus.“ Trotzdem freute sich jeder, wenn einer wieder einmal ein besonders schönes Gebet brachte, das noch niemand kannte.

      Christian hatte einen raschen Blick auf den verschwenderisch bunten Salat getan, der in einer breiten Schüssel mitten auf dem Tisch prangte, und fand, dazu passe der Vers:

      „Erde, die es uns gebracht,

      Sonne, die es reif gemacht —

      Gott gab Sonne, Gott gab Erde,

      Gottes nicht vergessen werde!“

      Reni kannte den Vierzeiler noch nicht und fand ihn schön.

      „Von dir?“ fragte sie halblaut. Sie wußte, daß Christian manchmal Verse schmiedete. Er schüttelte den Kopf. Vater brummte:

      „Reni, ich seh in Abgründe deiner Bildung! Schon die alten Ägypter pflegten dies zu beten.“

      „Die Babylonier“, verbesserte Christian milde, und wenn Mutter jetzt nicht energisch eingegriffen und bestimmt hätte, über Tischgebete dürften keine dummen Witze gemacht werden, so hätte man das Thema sicher totgehetzt, und weder der Salat noch die neuen, hellschaligen Pellkartoffeln wären voll gewürdigt worden.

      „Es sind die ersten neuen Kartoffeln des Jahres, die wir bekommen“, sagte Tante Mumme und schälte mit flinken Fingern, „dabei darf man sich was wünschen.“

      „Was denn?“ fragte Reni ein wenig hinterhältig. Die vergnügte Stimmung bei Tisch schien ihr geeignet für ihre Pläne.

      „Hast du denn immer noch Wünsche?“ knurrte Vater und tat sehr beschäftigt mit seinem Teller. „Ich dachte dein Herz hätte nun alles, was es je begehrte: eine richtige Familie, zwei Brüder, einen großen und einen kleinen, Ponys — und noch dazu Erika hier. Mehr kann man sich doch wahrhaftig nicht ersehnen.“

      „Du vergißt, daß ich heute sogar noch etwas Zusätzliches bekommen habe: die schönste Reithose der Welt“, lachte Reni.

      „Na siehst du. Und?“

      „Und? Reithosen wollen benutzt werden, reiten dürfen!“

      „Das tust du doch jeden Tag, denke ich?“

      Die andern aßen und stellten sich, als merkten sie gar nicht, was hier gespielt wurde. Sie wußten es aber alle. Die große Überraschung hing so offensichtlich in der Luft, daß man sie hätte greifen können. Erika brachte vor Spannung fast keinen Bissen mehr hinunter und trat Reni nachdrücklich auf den Fuß, daß die beinah: „Au, laß doch!“ gestöhnt hätte. Nur mit Mühe verbiß sie es.

      „Na, dann kommt mal mit, ehe der kleine Schreihals aufwacht“, sagte Vater, als alle fertig waren.

      Mutter ärgerte sich jedesmal, wenn Vater Brüderchen so nannte. Brüderchen war wirklich kein ewig schreiender Säugling, es lag oft stundenlang wach im Körbchen, spielte mit seinen Füßen und gurrte vor sich hin. Vater lachte und faßte Mutter unter.

      „Du bist beinah wie Reni, die auch auf jeden Leim kriecht“, sagte er vergnügt. „Kommt, meine Trabanten, wir machen einen kleinen Nach-Tisch-Spaziergang.“

      Reni wunderte sich. Um ihr zu sagen, daß sie von nun an im Reitverein mittun dürfe, brauchte man doch nicht spazieren zu gehen. Vater tat das sonst nie nach dem Essen, dazu war er viel zu müde, überbeansprucht wie Ärzte nun einmal sind. Er legte sich, wenn irgend möglich, nach Tisch kurz hin, und es war Renis Ehrenpflicht, ihn zur Couch zu begleiten und für alles zu sorgen, was er gern hatte: Vorhänge zuziehen, die Zeitung bereithalten, das Telefon umstöpseln. Heute aber wollte er spazieren gehen.

      „Verstehst du das?“ fragte sie Christian halblaut. Der zuckte die Achseln.

      Gleich darauf verstanden sie es. Vater dirigierte seinen Planetenschwarm zur Liege wiese, wo die Ponys jetzt wegen der Sommerwärme tagsüber im Schuppen standen, im ‚Schwedenschuppen‘, geschützt vor Hitze und Fliegen. Im selben Augenblick aber, als sie um die Ecke bogen, hörte man es poltern, und dazu erklang ein schrilles Gewieher, so, wie es nur wütend kämpfende Pferde ausstoßen, und dann sahen sie aus der offenstehenden Schuppentür jemanden rückwärts herausfliegen, wie von einem Katapult abgeschossen: Güsti. Güsti, den Alleskönner, den hilfreichen Geist des Heims, der Wasserleitungen legen und Heizungen heilen konnte, mauern, schlossern und tischlern, der Zäune baute und Reifen flickte und sich mit den Kindern, vor allem aber mit Reni und Christian, bei jeder nur möglichen Gelegenheit stritt und neckte. Güsti also flog ihnen entgegen, landete vor ihnen im Gras und kullerte, da es hier ziemlich abschüssig war, noch ein Stück. Es sah aus wie eine Szene aus einem Lustspielfilm.

      Reni lachte laut, doch hielt sie sich im nächsten Augenblick den Mund mit beiden Händen zu. Güsti konnte sich ja auch weh getan haben. Auch Christian konnte ein Grinsen nicht verbergen. Einzig Erika sprang hin und versuchte, Güsti aufzuhelfen. Das war etwas schwierig; Güsti gehörte nicht zu den Schlanksten, dazu aß er zu gern und zu viel.

      „Ist was Schlimmes passiert?“ fragte Erika und zerrte ihn am Arm. „Komm, Güsti, wart ...“

      „Nichts. Aber dieser Satan!“

      „Welcher? Welcher Satan? Der Graf?“ fragte Reni sofort. Ihr Ponyhengst sollte ein Satan sein?

      „Aber nein, der doch nicht! Der andere ...“

      Wieder hörte man das Schrillen, und im Schuppentor erschien ein Ponyhinterteil, das weder Reni noch Erika noch Christian kannten. Es war fuchsrot mit einem etwas helleren Schweif. Gleich darauf sah man das ganze dazugehörige Pony, das rückwärts aus dem Stall drängte, immerzu mit den Vorderbeinen schlagend. Reni und Christian stürzten. Der Graf, Renis etwa ein Meter hoher Shetlandhengst, drängte das neue Pony trotz dessen Gegenwehr aus dem Stall. Sein kleiner strammer Körper war zusammengezogen, der Hals gebogen — nie sind