Die Schweinedärme kullerten platschend auf den glitschigen Boden. Rudolf Nährig

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Название Die Schweinedärme kullerten platschend auf den glitschigen Boden
Автор произведения Rudolf Nährig
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9788711448540



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Rudolf Nährig

      Für meine gute Mutter und Johanna Höller

      in tiefer Dankbarkeit

      Glasscherben, kobaltblau oder weiß marmoriert

      Am liebsten waren mir in meiner Kindheit die lauen Spätsommer-Samstagabende im Dorf. Da wurde das lehmig-erdige Trottoir vor dem Haus von den jungen Bauernmädchen und Bauernmägden, die sich für diese Arbeit blaue Kopftücher und ebenso blaue Schürzen umgebunden hatten, mit ihren aus Reisig zu Buschen zusammengebundenen Riadlbesen fein säuberlich gekehrt, indem sie in schnellem Tempo Schritt für Schritt und von links nach rechts vor sich her fegten. Die großen und die kleinen Steinchen, die sich die Woche über dort angehäuft hatten, flogen nun auf die angrenzende Straße oder unten an die Hausmauer. Der braune Erdboden war dann ganz glatt und frei von Steinchen, Zweiglein und anderem Kleinmist. Das Trottoir sah wie frisch gewaschen aus.

      Wir Kinder nahmen jetzt ein Holzsteckerl und zeichneten die Vorlage zum Tempelhüpfen auf. Nicht wie den üblichen Spielregeln entsprechend, ein Rechteck unterteilt in links und rechts jeweils drei gleich große Quadrate, die oben und unten noch zwei Rundbögen erhielten, oben für den Himmel und unten für die Hölle, während die Quadrate dazwischen das Fegefeuer waren. Nein, wir machten, dem katholischen Glauben hörig, ein Kreuz aus sechs Quadraten: vier von oben nach unten und, am zweiten Quadrat von oben ansetzend, links und rechts jeweils eines seitlich, dazu oben und unten wieder die Rundbögen für Hölle und Himmel.

      Jedes von uns Kindern hielt einen Fundus von bunten Glasscherben bereit. Meine Lieblingsfarbe war Kobaltblau. Meine kobaltblauen Scherben stammten von einem alten Lampenschirm, den mein Großvater, der Vater meines Stiefvaters, zerbrochen hatte, als er in angetrunkenem Zustand in der Küche mit einem Holzprügel nach mir warf, sein Ziel aber verfehlte, so dass der heftige Schlag stattdessen den esstellergroßen, flachen Lampenschirm über dem Küchentisch traf, der sodann, in verschiedene kleinere und größere kobaltblaue Teile zersprengt, auf unseren mit einer grün gesprenkelten Resopalplatte beklebten Küchentisch herabregnete. Diese prächtigen blauen Scherben hatte ich gleich gehortet – sobald dies gefahrlos möglich war. Sie waren nicht nur wunderschön, sondern auch sehr nützlich: Mit den größeren konnte man die Sonnenfinsternis gut beobachten, die sich schon zwei Wochen später ereignete, und die kleinen waren bestens fürs Tempelhüpfen geeignet.

      Während ich meine kobaltblauen Lampenschirmbruchstücke hatte, war mein Schulkamerad und Freund Franz Huberka mit weißen Milchglasscherben gekommen, die mit schwarzen Fäden durchzogen waren, was ihnen ein marmorähnliches Aussehen gab. Die Mädchen Gerti und Mitzi wollten auch mitspielen, sie hatten kleine ellipsenförmige Steine, die sie selbst kunstvoll bunt bemalt hatten. Es galt, einen Kampf zu bestehen. Die Mädchen, die andauernd vor sich hin kicherten und sich unentwegt gegenseitig etwas ins Ohr flüsterten, um daraufhin prompt erneut zu kichern, durften beginnen. Normalerweise losten wir aus, wer anfangen durfte. Doch heute, an diesem milden Samstagabend, an dem die Bauernmädchen mit ihren Riadlbesen das Trottoir vor dem Haus so fein säuberlich gekehrt hatten, waren wir Kavaliere und gaben den Mädchen großzügig den Vortritt – in der Hoffnung auf gelegentliche Vergeltung dieser „Gnade“ in irgendeiner Form.

      Es war enorme Geschicklichkeit vonnöten, wollte man keine Fehler machen und die Steine oder Scherben ohne Übertreten oder andere Verstöße gegen die Spielregeln von der Hölle durch das Fegefeuer oder Purgatorium bis in den Himmel, das Elysium, befördern. Man konnte sie auf dem Handrücken, auf dem Fußrist, auf dem Kopf oder auch blind mit dem Kopf im Genick, auf einem Bein hüpfend, in den Himmel bringen. Einbeinig zu hüpfen und zweibeinige Kehrtum-Grätschen zu machen bedurfte mit den jeweiligen Scherben oder Steinen auf dem Kopf oder dem Handrücken – kobaltblau, weiß marmoriert oder kunstvoll bunt bemalt – einer großen Konzentration und geschickter Körperbeherrschung.

      Nach einer Weile jedoch meinte die fünfjährige Gerti, es sei heute irgendwie langweilig, und wollte nicht mehr mitspielen. Ihre Mutter, Fanny Schickler, die Frau vom Schickler-Ferdl, fing gerade damit an, für den morgigen Sonntag einen Gugelhupf zu backen, und das war lockender als das Spiel mit uns Buben. Für Gerti war es der höchste Genuss, Zucker zu schlecken, die Gugelhupfform aus feuerfester Tonerde mit Butter auszuschmieren und dann, am Ende, wenn der Gugelhupf gebacken war, die überstehenden Krusten abzuknabbern, und dieses Vergnügen wollte sie sich nicht entgehen lassen.

      Ihre drei Brüder waren schon zur Stelle. Sie wollten dasselbe – auch naschen und schlecken. Gerti musste sich beeilen, noch etwas abzubekommen. Ohne die Gerti wollte nun auch die Mitzi nicht mehr mitspielen, nur zu zweit machte es keinen richtigen Spaß mehr, und so schlenderten Franz und ich allein über das frisch gekehrte, lehmig-erdige Trottoir, unsere kobaltblauen oder weiß marmorierten Scherben in den Händen oder Hosentaschen, und machten eine abendliche Runde durch unser Hundertseelendorf.

      Die Schicklerkinder – Gerti, Josef, Johann und der kleine, geistig behinderte Emmerich mit dem flachrunden Gesicht – wohnten im Haus schräg gegenüber von unserem und waren genauso arm wie wir. Wenn meine Schwester und ich wussten, dass Mutter einen Kuchen backen wollte, gingen wir, um uns ja nicht auch nur einen einzigen Krümel entgehen zu lassen, schon Stunden vorher nicht mehr aus unserer kleinen Küche mit dem Resopalplattentisch und dem Blick in den Hof, in dessen Mitte der Misthaufen thronte. An besonderen Feiertagen goss Mutter über den Kuchen noch eine weiße Zuckerglasur. Der süß-säuerliche Geschmack dieser Glasur erinnerte mich schon an die weiß und rosa glasierten Weihnachtskekse am Christbaum – selbst wenn es noch Sommer war.

      Der sechs Wochen alte Gottlieb schläft in der Abendsonne

      Am Samstagabend gegen sechs Uhr legte sich ein leicht erregtes feierliches Wohlgefühl auf meine Seele. Diese Abende in unserem Dorf genoss ich in meiner oftmals unglücklichen Kinderzeit in vollen, für Augenblicke befreienden Zügen. Die Burschen hatten ihre abgetragene und verschmutzte Feldkleidung abgelegt und gegen andere, nicht festliche, aber bessere Kleidung getauscht. Oft war es nur das karierte Hemd, das einem blauen oder weißen einfarbigen Hemd Platz machte. Manche hatten sich rasiert und die Haare mit Pomade eingefettet. Die reifen Mädchen wuschen sich die Haare, erneuerten ihre Frisuren, hatten modische Faltenröcke angezogen und die Schuhe frisch geputzt. Wenn sie auf der Straße gingen, bewegten sie die Hüften kokett hin und her – was sie unter der Woche bei der Arbeit auf dem Feld nie taten – und ihre braungebrannten Gesichter lächelten neckisch.

      Die Alten saßen auf den knorrig-gemütlichen Holzbänken vorm Haus, auf denen schon ihre Väter und ihre Großväter gesessen hatten, schauten mit leerem Blick aus ihren tiefliegenden hohlen Augen auf die ihnen gegenüber für den Winter aufgeschichteten Klafter Brennholzscheite und über den dahinterliegenden, mit verwitterten Holzbrettern eingezäunten Garten, der mit bunten Blumenbeeten von Astern, hochstieligen Sonnenblumen, weißen und roten Dahlien und langen, schmalen Rabatten von stark riechendem Dillkraut sowie dunkelgrüner großblättriger Petersilie und silbrig matt glänzendem Salbei bepflanzt war. Dabei erzählten sie sich die Neuigkeiten, die fast jeder schon kannte. Neuigkeiten, die wieder und wieder neu erzählt und verdreht wurden, bis sie ganz andere Geschichten waren. Lediglich der wahre Kern blieb der gleiche, alles rundherum hatte sich am Ende völlig verändert und verkehrt.

      Die Mirkan-Ursl hatte ein Kind von einem verheirateten Mann bekommen. Diese Tatsache war zu bereden. So was passiert nicht alle Tage in dem kleinen, langgestreckten Hundertseelendorf. Jede und jeder zerriss sich das Maul. Die betrogene Ehefrau ertrug es mit Qual. Sie sagte, es sei auch nicht ihre Schuld, dass er zu der um fünfundzwanzig Jahre jüngeren Ursl gegangen sei; sie habe sich ihrem Poildl immer hingegeben, wo er wollte und wann er wollte. Die verachtenden Blicke der übrigen Dorfbewohner seien Schmach und Schande genug für sie, scheiden aber lasse sie sich nicht. Was solle sie auch tun? Wo sollte sie hingehen? Seit er mit der Ursl das außereheliche Verhältnis habe, sage er ihr nur Grobheiten, schlage sie immer wieder und wolle, dass sie aus dem gemeinsamen Haus ausziehe.

      Freitag Nachmittag stand ich mit meiner Mutter in der Küche, ich hielt soeben den grausilbrigen Aluminiumtopf mit der heißen Milch fest in beiden Händen und meine Mutter rührte mit einem hölzernen Kochlöffel Grieß ein, um für das Abendessen Grießkoch mit Zucker zu machen, da kam die betrogene Ehefrau weinend und mit schmerzverzerrtem Gesicht, die Hände auf die Schulter gepresst, und zeigte uns den großen Fettfleck, der ihre Kleidung, und den blau unterlaufenen Fleck, der ihre Haut verunstaltete,