Die Begine und der Siechenmeister. Silvia Stolzenburg

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Название Die Begine und der Siechenmeister
Автор произведения Silvia Stolzenburg
Жанр Исторические детективы
Серия
Издательство Исторические детективы
Год выпуска 0
isbn 9783839267264



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diese Art Tand begeistern können, doch möglicherweise war es Zeit, zu diesem Leben zurückzukehren.

      Während ihr all die Erinnerungen durch den Kopf gingen, begab sie sich zum Wohngebäude der Pfründner, um sich um deren zahlreiche Zipperlein zu kümmern. Im Anschluss daran ging sie in die Stube der Wöchnerinnen, wo eine junge Frau unter ohrenbetäubendem Schreien ein Kind gebar. Sie war kaum älter als Anna, ihr Gesicht hochrot und schmerzverzerrt. Zwei Hebmägde knieten neben ihr, während die Hebamme zwischen ihren Beinen hantierte. Das Laken, auf dem die Frau lag, war durchweicht von Fruchtwasser und Blut und der Kopf des Kindes war bereits sichtbar.

      »Bald ist es vorbei«, ermutigte die Hebamme die Gebärende. »Du musst nur noch ein paar Mal kräftig pressen.«

      »Ich kann nicht mehr«, keuchte die Schwangere.

      »Du musst.«

      Die junge Frau umklammerte die Korallenkette, die eine der Hebmägde ihr um den Hals gelegt hatte, um sie vor Schaden bei der Geburt zu bewahren.

      »Ich gebe ihr etwas Nieswurz«, sagte Anna und holte eine kleine Flasche hervor, in der sich das Pulver befand. Dieses rieb sie der Frau unter die Nase, woraufhin die Wöchnerin sofort anfing, kräftig zu niesen.

      »Es kommt!« Die Hebamme fasste fester zu und zog an dem Säugling.

      Anna, die schon oft bei Geburten zugegen gewesen war, warf einen Blick auf den mit Schleim bedeckten Kopf des Kindes, der irgendwie anders aussah, als er sollte. Sie sah genauer hin und erschrak, als sie erkannte, dass dort, wo seine Oberlippe sein sollte, eine große Scharte klaffte. Etwas schien im Leib der Frau passiert zu sein, das zu dieser Fehlbildung geführt hatte. Anna wusste, dass im ersten Monat einer Schwangerschaft das Blut des Kindes gereinigt wurde. Im nächsten Monat wurde der Körper gebildet, dann wuchsen dem Embryo Nägel und Haare. Im vierten Monat fing das Kind an, sich zu bewegen, weshalb Schwangere oft an Übelkeit litten. In den nächsten Wochen nahm das Kind das Aussehen des Vaters oder der Mutter an, danach wurden die Nerven gebildet. Im siebten Monat schließlich härteten sich die Knochen, danach wurde alles andere vervollständigt, bis das Kind im neunten Monat schließlich das Licht der Welt erblickte. Irgendwann in diesem Prozess musste etwas geschehen sein, das für die Missbildung des Säuglings verantwortlich war.

      »Heilige Muttergottes!«, hörte Anna eine der Hebmägde sagen. Offenbar hatte auch sie den Wolfsrachen bemerkt. Sie bekreuzigte sich mehrmals. »Sie ist besessen!«

      »Lauf und hol einen der Brüder!«, trug die Hebamme der zweiten Magd auf. Sie hatte das Kind inzwischen befreit und drückte ihm mehrmals auf die Ohren. Dann drehte sie es um, versetzte ihm einen Klaps und verknotete die Nabelschnur drei Finger vom Bauchnabel entfernt. Schließlich säuberte sie es mit einem Tuch und legte es der erschöpften Mutter in die Arme.

      Die junge Frau erschrak, als sie einen Blick auf das Gesicht ihres Kindes warf. »Barmherziger!« Sie stieß den Jungen von sich. Hätte die Hebamme ihn nicht festgehalten, wäre er auf den Boden gefallen. »Nimm ihn weg!«, wimmerte die Wöchnerin. »Bitte!«

      »Er ist dein Sohn«, mahnte die Hebamme.

      »Aber er ist …« Die junge Frau schloss die Augen und fing an, leise zu beten.

      »Er ist missgebildet«, beendete die Hebamme ihren Satz. »Aber dennoch ist er ein Kind Gottes.«

      »Er ist vom Bösen besessen«, flüsterte die Hebmagd, die das Kind anstarrte, als fürchte sie, ihm könnten Hörner wachsen.

      »Eine Missbildung ist eine Strafe Gottes«, entgegnete die Hebamme, die sich die Hände in einer Schüssel Wasser wusch. »Die Brüder werden wissen, was mit ihm zu tun ist.« Sie griff nach einem Handtuch und trocknete sich ab. »So etwas gab es schon mal«, sagte sie an Anna gewandt, nachdem sie sich einige Schritte vom Bett der Wöchnerin entfernt hatten. »Vor einigen Jahren.«

      »Was ist mit dem Kind passiert?«, wollte Anna wissen.

      Die Hebamme zuckte mit den Schultern. »Ich habe keine Ahnung. Die Frau, die es zur Welt gebracht hat, war eine reiche Patrizierin.«

      »Sie hat hier im Spital entbunden?«

      »Nein. Das Kind hat sie bei sich zu Hause zur Welt gebracht.«

      »Hat man damals nach einem Priester geschickt?«, fragte Anna.

      »Ihr Gemahl hat alle aus dem Haus gescheucht«, war die Antwort. »Ich weiß nicht, was aus dem Kind geworden ist. Ein paar Wochen später waren der Patrizier und seine Frau verschwunden. Vielleicht wollte er nicht, dass jemand die Missbildung sieht.«

      Anna runzelte die Stirn. War es nicht gefährlich für ein Neugeborenes, wenn man es nicht von dem Dämon befreite, der in ihm wohnte? Was, wenn sich der böse Geist seiner Seele bemächtigte? Dann war sein Leben verloren, bevor es richtig begonnen hatte. Sie sah auf den winzigen Knaben hinab, der anfing zu weinen. Vermutlich wollte er gesäugt werden, doch die Mutter schien so viel Angst zu haben, dass sie einer Ohnmacht nahe war.

      »Soll ich die Amme holen?«, fragte die Hebmagd, die im Raum geblieben war. Sie beäugte das Kind voller Misstrauen.

      Die Hebamme schüttelte den Kopf. »Erst muss es vom Bösen befreit werden.«

      Da Anna nichts weiter tun konnte, kniete sie sich neben das Bett, griff nach der Hand der Mutter und fing an, ein tröstendes Gebet zu sprechen. Die Frau tat ihr leid. Sie war schon vorher eine Ausgestoßene gewesen, sonst wäre sie nicht im Spital gelandet. Nach der Geburt eines missgestalteten Kindes würden die Ulmer einen noch größeren Bogen um sie machen.

      Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis sich endlich Schritte näherten. Wenig später ging die Tür auf und die Hebmagd betrat den Raum.

      Hinter ihr erschien Bruder Lazarus.

      Kapitel 7

      Anna hatte Mühe, eine ausdruckslose Miene zu wahren, als ihr Blick auf Lazarus fiel. Auch er schien nicht erwartet zu haben, sie in der Stube der Wöchnerinnen anzutreffen, da alle Farbe aus seinem Gesicht wich. Nachdem er sie einige Augenblicke lang angestarrt hatte, riss er sich zusammen und wandte sich an die Hebamme. »Ein besessenes Kind?«

      Die Frau nickte und hielt ihm den Jungen entgegen.

      Lazarus warf einen Blick auf sein Gesicht, griff nach seinem Kruzifix und legte es dem Säugling auf den Bauch.

      Das Kind schrie.

      »Vade retro, Satana!«, murmelte er, nahm das Kind an sich und griff in einen kleinen Tiegel, den er bei sich trug. Darin schien sich Öl oder Weihwasser zu befinden, mit dem er ein Kreuz auf die Stirn des weinenden Knaben malte. »Der Dämon muss ausgetrieben werden«, stellte er schließlich fest. »Das Kind muss in geweihtem Wasser gebadet werden. Außerdem wird eine Messe gelesen.« Er bedeutete einer der Hebmägde, ihm das Kind abzunehmen.

      Die Frau wich zurück.

      »Keine Angst, der Dämon kann nicht in dich fahren«, beruhigte Lazarus sie.

      »Warum nicht?«

      »Weil er sich in diesem Unschuldigen festgesetzt hat. Nimm ihn mir ab!«

      Die Hebmagd rührte sich nicht von der Stelle.

      »Ich kann nicht gleichzeitig das Wasser weihen und ihn halten«, bekräftigte Lazarus ungeduldig.

      »Ich nehme ihn.« Bevor Anna wusste, was sie tat, trat sie hinter dem Lager der Wöchnerin hervor und nahm Lazarus den Säugling aus dem Arm.

      »Aber, du …«, hob Lazarus an, verstummte jedoch, als die beiden Hebmägde eiligst den Raum verließen.

      »Sieh nicht mich an«, sagte die Hebamme. »Ich werde hier gebraucht.« Sie beugte sich über die junge Mutter, die Lazarus und das Kind mit furchtgeweiteten Augen anstarrte.

      »Ich habe nichts Böses getan«, hauchte sie. »Es ist nicht meine Schuld.«

      »Keiner von uns ist ohne Schuld«, tadelte Lazarus sie.

      Die Frau senkte beschämt den Blick. Vermutlich war sie eine der vielen