Der Abt vom Petersberg. Alice Frontzek

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Название Der Abt vom Petersberg
Автор произведения Alice Frontzek
Жанр Исторические детективы
Серия
Издательство Исторические детективы
Год выпуска 0
isbn 9783839267165



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Raum. Er befahl sich, zu einem reinen Gedanken zu werden in der Schwärze des Universums. Eins mit Gott. Denn am Anfang war das Wort. In der Thora hieß es sogar noch klarer: Am Anfang war der Gedanke. Und immer wenn sich ihm ein Gedanke aufdrängte, ließ er ihn vorbeiziehen. So verweilte er mindestens eine halbe Stunde. Das Läuten des Kampanile zu jeder Viertelstunde nahm er wahr und beschränkte seine Zeit, auch wenn er gewöhnlich viel länger im Nichts verweilen konnte.

      Dann zog er ein weißes Leinenhemd zum Schlafen über und legte sich auf die feste Strohmatratze. Das Fenster hatte er einen Spaltbreit offen gelassen. Ein angenehm kühles Lüftchen zog herein. Trotzdem schloss er den Bettvorhang. Er wollte nicht von Insekten geplagt werden, die es hier auf dem südlichen Kontinent, zudem am Wasser, in fast unerträglicher Artenvielfalt gab. Schon summte etwas um ihn herum, das ihn vom Einschlafen abhielt. Seine Gedanken begannen zu kreisen. Nette Mitstreiter hatte er so weit. Man kannte sich ja von den diversen Kapiteln und Konzilien. Nikolaus war zufrieden. Natürlich auch stolz, dass man auf seine Person Wert legte und ihre Delegation sich gegen eine Gesandtschaft der Konzilsmehrheit durchgesetzt hatte. Der gesamte Klerus schaute auf sie und ihre Mission. Vereinigung hin oder her: Die Kirche musste sich erneuern! Ein einziger Sündenpfuhl – schlimmer als jede bürgerliche Gemeinschaft! Zu viel Privilegien und Macht verbunden mit den Entbehrungen eines normalen Familienlebens bei zu wenig Pflichterfüllung Gott zur Ehre. Das führte zwangsläufig zu Übel und Schandtaten. Auch ohne das Basler Konzil würde der Papst neue Wege gehen müssen. Über diese Gedanken glitt Nikolaus in tiefen und festen Schlaf, bis jemand am nächsten Morgen an seine Tür pochte.

      »Aufstehen! Das Frühstück steht bereit, und in einer halben Stunde wartet die Kutsche, um unsere Sachen zum Schiff zu bringen. Kommst Du, Nikolaus?«

      »Ach, Guiliano. Ja, ich bin gleich unten. Danke«, rief Nikolaus, reckte und streckte sich, setzte sich auf den Boden zur Meditation und erhob sich schon nach einigen Minuten wieder, um sich fertig zu machen und die anderen nicht warten zu lassen.

      Nach einer warmen Milch mit Honig und einem Stück Gebäck verließen sie zu fünft das Haus, gefolgt von kirchlichen Bediensteten, die ihnen als Schreiber, Träger und Boten zur Hand gehen sollten. Ihre Gepäckstücke waren aufgeladen, alle nahmen sie in den zwei bereitgestellten Kutschen Platz und schaukelten über das Pflaster den kurzen Weg zur Anlegestelle ihres Schiffes. Die Sonne stand noch tief, aber der Himmel war wolkenlos, der Duft der Mandelblüten begleitete sie und die leichten Wellen des Meeres schwappten gleichmäßig ans Schiff, als sie an Bord gingen. Die Besatzung empfing sie und stellte sich den Gesandten vor. »Ich bin Euer Kapitän, Francesco Fortuna. Diese Herrschaften betreuen die Kombüse. Chefkoch Enrico Cerea wird Euch Eure Wünsche erfüllen. Steuermann Adriano Barbesca hält uns auf Kurs durch das Adriatische Meer, das Mittelmeer und hinauf den Bosporus bis zum Hafen von Konstantinopel. Die Reise dauert je nach Windstärke etwa acht Wochen. Weiter haben wir zwanzig Schiffsjungen, einen Quartiermeister, einen Segelmacher, unsere Barbiere, Trompeter, Feuerwerker, Zimmermänner, einen Schneider … Habe ich noch jemanden vergessen? Fragt mich einfach. Ich wünsche uns allen eine gute Reise und immer eine Handbreit Wasser unterm Kiel oder ›Leinen los und Sorgen über Bord‹!« Er lächelte und machte eine einladende Geste, wobei er gleichzeitig die Augenbrauen nach oben zog und einigen Schiffsjungen durch Blicke und eine seitliche Kopfbewegung bedeutete, sich um die Gäste zu kümmern und ihnen ihre Kajüten zu zeigen.

      Nikolaus folgte einem von ihnen und sah sich um. Das Schiff machte einen guten Eindruck. Es sah neu, groß und unsinkbar aus. Es war ein Zweimaster mit einem mächtigen Rahsegel, das sich quer zur Fahrtrichtung orientierte. Der Spähkorb befand sich in schwindelerregender Höhe. Das Deck war weitläufig. Bei der jahreszeitlich zu erwartenden guten Wetterlage würden sie sich viel hier aufhalten können. Seine Kajüte lag nur ein paar Holzstufen tiefer gleich rechts neben einer Treppe. Sie war etwa vierzehn mal zehn Ellen groß. Es gab einen Schreibtisch, ein Bücherregal, das mit einer Faltschiebetür bei starkem Seegang geschlossen werden konnte, und eine hölzerne Schlafkoje. Außerdem stand da noch ein kleiner runder Esstisch mit vier Stühlen daran. Für die Stühle wie auch für den Hocker vor dem Schreibtisch gab es Eisenringe im Boden, an denen die Sitzmöbel befestigt werden konnten. Nikolaus hoffte, dass das nicht allzu oft vonnöten sein würde. Über seinem Bett und an der Wand hinter dem Schreibtisch befand sich jeweils ein Jesuskreuz.

      Es klopfte an seiner Tür.

      »Herein!«

      »Euer Kapitän. Ich möchte mich erkundigen, ob alles nach Euren Vorstellungen gerichtet ist. Ich empfinde es als besondere Ehre und außerordentliches Zeichen des Glücks, Euch an Bord zu haben.«

      »Ach, ja? Wieso?« Nikolaus zog die linke Braue nach oben.

      »Nun. Ihr Namenspatron, St. Nikolaus, Nikolaus von Myra, gilt als Schutzheiliger der Seefahrt. Er errettete einst Seeleute durch die Stillung des Seesturms aus ihrer Seenot. Habt Ihr schon den kleinen Altar in Eurer Kajüte entdeckt?« Der Kapitän deutete auf eine winzige Nische hinter der Koje. Dort befand sich ein kleiner Schrein, darüber an der Wand die Figur des Bischofs Nikolaus, des St. Erasmus, Bischof von Formia, und der Jungfrau Maria, Schutzpatronin des Apostolats des Meeres. Vor dem Schrein war eine Kniebank fest arretiert.

      »Ah, natürlich. Sehr schön. Ich hoffe, ich bringe uns tatsächlich Glück. Ja, alles ganz hervorragend. Danke!«

      »Das Mittagsmahl gibt es im Speiseraum gleich um die Ecke, wenn die Sonne am höchsten steht«, sagte Francesco und ging. Der Kapitän war ein hochgewachsener, kräftiger Mann mit einem dichten Seemannsbart. Nikolaus fühlte sich sicher und vertraute auf seine Segel- und Navigationskünste.

      Nun wurde auch seine Kiste gebracht. Er stellte seine Bücher ins Regal, darunter eine Abschrift eines Werkes des Raimundus Lullus, des Albertus Magnus, zwei Bücher zur Astronomie, einen gregorianischen Kalender, die Regula Benedicti und eine Abschrift von Auszügen des Hermes Trismegistos, die Gedanken zu Reinkarnation und mystischer Vereinigung sowie zur Überwindung von Gegensätzen beinhaltete. Seine Bibel platzierte er auf dem Altar. Sie war ihm heilig. Nicht nur das Wort Gottes, sondern auch das Stück Pergament, das er säuberlich gefaltet hinten in den ledernen Umschlag geschoben hatte. Dabei handelte es sich um eine handschriftliche Auflistung all seiner Pfründe. Es waren an die zwanzig kirchliche Ämter, die seinen Lebensunterhalt und Lebensabend sichern sollten, vornehmlich in Koblenz, Trier, Altrich und anderen Orten. Seit seiner Priesterweihe im letzten Jahr würden noch weitere hinzukommen. Er seufzte: »Noch mehr Reisen – kein Ende in Sicht. Aber über Land gefallen sie mir besser.«

      Er hörte die Hörner, die das Ablegen ankündigten, ihnen folgten Kommandos, und mit leichtem Schaukeln ging das Schiff auf große Fahrt. »Vater unser im Himmel. Bewahre uns vor Unheil auf dieser Reise. Lasse Dein Antlitz wachen über uns und schenke uns Frieden. Amen!« Nikolaus bekreuzigte sich auf der Bank kniend, erhob sich und beschloss, seine Mitreisenden zu suchen.

      Er traf auf Guiliano, Plethon und Basilius. Einige Minuten später kam auch Tommaso hinzu. Gemeinsam schlenderten sie über Deck, hielten ihre Gesichter in den Wind und schauten dem Schauspiel des Meeres und der Schiffsmannschaft zu. Das mächtige Segel wurde gehisst und Venedig wurde kleiner und kleiner, bis es gar nicht mehr zu sehen war. Eine Gruppe Delfine sprang in Bögen aus dem Wasser und begleitete sie neugierig ein Stück.

      »Nun, Kues. Was hat Euch dazu gebracht, Euch auf dem Basler Konzil so zu ereifern? Sicher, Ihr habt mächtig Eindruck gemacht. Aber wem nützt die Beschneidung der päpstlichen Befugnisse? Wer soll sonst entscheiden? Der Kaiser? Der Adel? Oder gar das Volk?«, begann Giuliano das Gespräch und schaute ihn fragend an.

      »Es geht mir weniger darum, worüber der Papst entscheidet, als darum, dass er es ohne Kontrollinstanz tut. Lasst uns einmal die Päpste durchgehen, deren Verfehlungen zu einer Aufweichung sämtlicher Kirchenregeln, ja sogar der Gebote Gottes geführt haben. Nicht nur in der Bevölkerung, sondern vor allem in den Klöstern. Stadträte, Adelige, Patrizier, weltliche Herren, Kaiser machen sich lustig über den Machtanspruch der Geistlichkeit. Von Gottes Zorn, der zu befürchten ist, ganz abgesehen«, lud er die anderen ein und fuhr fort: »Nehmen wir Papst Clemens V., den sein Verhältnis mit der schönen Gräfin Perigord in Frankreich festhielt und den Grund zu dem Papstpalast von Avignon mit seiner düsteren Großartigkeit legte. Für die Masse die Demut, Armut und Entsagung, aber