Название | Die Zeit ohne uns |
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Автор произведения | Rupert van Gerven |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783957712776 |
»Von einem Leben wie diesem träume ich schon sehr lange, nur dachte ich nie daran, dass es eines Tages wahr werden könnte. Meine Familie ist katholisch, alles, was nicht der heiligen Ehe entspricht, ist Sünde. Mein Vater liebt mich sehr, aber er würde mir dieses hier nie verzeihen.« Herbert ascht seine Zigarette im Aschenbecher ab, er setzt sich auf die Bettkante.
»Meine Mutter ist Kommunistin ...«, Aaron drückt seine Zigarette in dem ihm gereichten Aschenbecher aus. Er küsst Herbert oberhalb des Pos. »Kommunisten kämpfen für die Gerechtigkeit, aber uns so leben zu lassen, wie wir es wollen, ist mit ihrem Denken auch nicht vereinbar ... Und deine Mutter ...? Ist sie Hausfrau?«
»Sie ist verstorben, ich erinnere mich nur sehr dunkel an sie. Ich glaube, meine Eltern waren glücklich.« Herbert erhebt sich aus dem Bett, drückt seine Zigarette aus, greift nach seiner Unterhose.
In dem kleinen Frühstücksraum steht der Kaffee schon dampfend auf dem Tisch.
»Meine Freundin Anton und ich wollen an die Ostsee fahren, hättest du Lust, mitzukommen?«
»Das wird leider nichts, mein Vater ist am Wochenende in Berlin.«
»Ist da wirklich nichts zu machen?« Aaron rollt die Augen, wirft die Stirn in Falten, spitzt seine Lippen. »Mein Herz, bitte, das wird wunderbar, wir werden auf weißem Sand liegen, Burgen bauen, Fisch essen und uns verliebt anschauen.«
»Ich schau, was sich machen lässt, aber ich kann dir nichts versprechen.«
Berlin-Dahlem – Herbst 1957
Herbert sitzt wieder vor seiner Schreibmaschine, starrt auf die Worte auf dem Papier:
»War es wirklich so einfach? Dachte Heiner nur zu viel nach und standen seine neuerlichen Ängste aus der Vergangenheit seiner unbeschwerten Zukunft mit einer wunderbaren Frau im Weg?«
Nicht einmal die Stricksocken können Herberts Füße wärmen, der Tee ist ohnehin auch schon kalt geworden. Der Aschenbecher schon wieder voll, der Rauch dutzender Zigaretten hängt im Arbeitszimmer. Aarons federnde Schritte, die einen leicht schleppenden Eindruck hinterlassen, beleben das Haus. Wie bekomme ich ein erträgliches Ende hin? Die Schultern werden nach unten fallen gelassen. Herbert lässt den Kopf kreisen. Wieder zündet er sich eine Zigarette an, er wollte das Rauchen reduzieren, doch die Einsamkeit frisst ihn auf. Heiners Unterbewusstsein schien die Antwort auf diese Fragen zu kennen, denn plötzlich breitete sich ein wohlig warmes Gefühl in seiner Brust aus und eine Last schien von seinen Schultern zu fallen. Herbert quält sich, er muss nach Worten suchen, findet sie dann belanglos und tippt sie dennoch in seine alte Schreibmaschine, liest das gerade Entworfene, kratzt sich den Kopf, verzieht sein Gesicht, zieht ein fertig beschriebenes Blatt aus der Maschine, legt ein neues ein.
Da war dieses Interview in der Provinz gewesen, ein Reporter, der ihn in die Mangel nehmen wollte – »Sie verstehen sich also als Schriftsteller, ja?« – ihn vorführen – »Na ja, Ihre Leserschaft ist wohl auch liebreizend ...« – um seine Arbeit bloßzustellen – »und wenig gebildet?« – Das war nicht schwer, keiner wusste besser als Herbert, dass seine Bücher nicht zum Pulitzer-Preis taugten. Jedes Wort glich einer Ohrfeige, das Gefühl, zum Schafott geführt zu werden, tauchte vor seinem inneren Auge auf. Die Beleidigungen nahmen kein Ende: »Nun, mir kommen die heutigen Schriftsteller alle sehr weich gespült vor, wissen Sie. Es gibt einige Ausnahmen, zum Beispiel Böll, Grass, Max Frisch. Haben Sie je etwas von Thomas, Heinrich, Klaus oder gar von Golo Mann gelesen?« Sprachlosigkeit lähmte ihn, seine Kehle war wie zugeschnürt. Eine Faust machte sich sekundenschnell in seinem Gesicht breit, hinterließ keine Spuren. Er schrieb für Frauen im mittleren Alter, seichte Geschichten, ohne besondere Tiefe, aber wer verlangte im Moment danach? Seine Bücher ähnelten den buntkitschigen Heimatfilmen, welche landab und landauf über die Leinwände flimmerten. Kulissen mit schönsten Farbaufnahmen von den Bergen Deutschlands und Österreichs. Auch Seeblick wurde alternativ gezeigt, selbst die Lüneburger Heide kam nicht zu kurz. Es war so einfach, die Republik zu beglücken. Eine der wenigen Ausnahmen war »Die Sünderin« mit Hildegard Knef. Der Film behandelte Prostitution und Selbstmord und Hildegard Knef wurde nach der Premiere zum Freiwild. Kirchen, Verbände und Moralapostel glaubten, sich ereifern zu dürfen. Menschen demonstrierten vor den Lichtspiel-Theatern, wollten die Aufführung verhindern. Hildegard Knef gab Interviews, bei einem wurde es ihr zu bunt, die Moral waberte, machte sich breit, alle sollten ein biederes Leben führen, über Sexualität wurde seit der Weimarer Republik nicht mehr geredet. Da saß sie also, aufrecht, gerade, zog an ihrer amerikanischen Zigarette, inhalierte tief, blies aggressiv den Rauch heraus. – »Gibt es tatsächlich, sechs Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs, keine wichtigeren moralischen Themen zu diskutieren als die vermeintliche Sittenlosigkeit der ›Sünderin‹?« – In diesem Moment, so wurde danach berichtet, hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Also ist es zur Mode geworden, Reales außen vor zu lassen. Die Menschen wollen essen, wenn möglich reisen, sie sparen auf Möbel oder einen Fernseher, der Volkswagen steht natürlich auch auf der Wunschliste. Nur nicht erinnert werden an vergangene Zeiten. Schwamm drüber. Und so schlimm war das Ganze doch auch wieder nicht. Herbert suchte eine Antwort auf die Fragen des Reporters. Dieser saß lauernd in einem Sessel, an seiner Pfeife ziehend, tief einatmend, verströmte er einen wohligen Vanillegeruch. Genüsslich umschlossen breite, blaurote Lippen, auf der oberen befand sich eine dunkelbraune Warze, das Mundstück. Einen alten Rollkragenpullover, der, zu eng, seine dicke Brust betonte, trug der Wichtigtuer. Herbert überlegte, das Interview auf die Spitze zu treiben. Eine filterlose Zigarette wurde in die schwarze Spitze gesteckt, ein süffisantes Lächeln aus dem Hosenbund in das Gesicht gezaubert. Unmerklich drückte Herbert seinen Rücken durch: »Wissen Sie, das Wichtigste beim Schreiben ist der Rotwein, gleich neben meinem Schreibtisch stehen immer mehrere Flaschen, diese werden von meiner Geliebten entkorkt und sobald mir nichts mehr einfällt, mache ich es mir mit meiner Brünetten gemütlich, na, Sie wissen ja, wie wir Künstler so sind, wenn ich mich so bezeichnen darf?« Der Reporter wurde mit Klischees mundtot gemacht. Niemand in Berlin würde sich je für das Interview hier im Kaff interessieren. Der Fragensteller fühlte sich nicht ernst genommen und wiederholte immer wieder: »So können Sie doch nicht auf meine Fragen antworten!« – »Oh doch, es ist nun mal die Wahrheit.« Herbert verließ die Redaktion. Aaron wartete vor dem Wagen. Er öffnete den hinteren Wagenschlag. Belustigt ließ sich ein Kitschromanautor in den Fond fallen.
Ablenkung suchte er, um nicht ein Wort weiter schreiben zu müssen. Sollte er die Ideen anderer Schriftsteller kopieren oder einfach eine neue Geschichte aus seinen alten Büchern zusammenschustern?
»Lauf niemals wieder vor mir fort!«, warnte er sie eindringlich. »Die letzte Nacht war die schlimmste meines Lebens.«
»Nie wieder mache ich so etwas Dummes.«
Sie lehnte sich an seine starke Brust und wusste sich von nun an in Sicherheit.
Der letzte Satz seines neuen Romans ist geschrieben, um das Lektorat und alles andere kümmert sich der Verlag. Wie konnte er nur so ein unbedeutender Schriftsteller von Liebesromanen werden? Nun, er wollte Geld verdienen, viel Geld, das war als Reporter nicht möglich. Die Menschen sehnten sich nach dem Krieg nach seichten Liebesgeschichten, die nur ein Happy End zuließen. Er las jeden der neuen Liebesromane, auch die des neunzehnten Jahrhunderts interessierten ihn, dabei schaute er sich die Struktur der Geschichten an. Er entwarf Biographien für seine Protagonisten, dann kreierte er die passende Umgebung, letztendlich wurde eine junge Frau immer von ihrem Traummann befreit, und das in den unterschiedlichsten Konstellationen.
Aaron machte sich mit dem ersten Manuskript auf der Suche nach einem Verlag, er ließ sich von Zurückweisungen nicht entmutigen und letztendlich wurde er fündig.
Familienlügen an einem Sonntag – Frühling 1927
Der Sonntag verspricht, ein Familientag zu werden. Aaron wird sich an der Ostsee in der Sonne aalen, denkt Herbert in Berlin, während er den Tag mit der Familie verbringen wird. Er schlendert in der Pyjamahose über den Flur mit seinen