Название | Die Katze und der General |
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Автор произведения | Nino Haratischwili |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783627022648 |
Im kommenden Mai meldete er sich, nachdem seine Mutter aufs Neue ein paar hektische Telefonate getätigt und ihm ein falsches Attest besorgt hatte, erneut zur Aufnahmeprüfung in der auf Lenins Anordnung hin gegründeten Allgemeinen Militärakademie in Moskau an und fiel durch. Und Lydia Nikolaewna schloss sich vierundzwanzig Stunden in ihrem Schlafzimmer ein und hielt eine makabre Totenmesse, bei der sie sich mit ihrem verstorbenen Gatten unterhielt und ihm ihr Leid klagte, ihn um Rat fragte.
Diesmal erschütterte ihn ihr entsetztes Gesicht schon weniger. Er rannte erleichtert in den strömenden Regen hinaus, Grund für seine Euphorie war sein Herz, das Purzelbäume schlug, seine zittrigen Knie und sein trockener Mund, und all das wegen Sonja – er war zum ersten Mal in seinem Leben bis zur Atemlosigkeit verliebt! Verliebt in ein verwunschenes und wunderliches Mädchen, das in keine Schablone passte und das keinerlei Regeln zu kennen schien, dafür einem Feuerwerk an Grobheit und Direktheit glich, in ihrer Impulsivität, in ihrer Verachtung jedweder Feingeistigkeit, auf die seine Mutter so viel Wert legte. In ihrem unstillbaren Wunsch, das Leben in all seiner Derbheit und Schönheit feiern zu wollen, hätte sie ihn allen Naturgesetzen und sozialen Regeln gemäß niemals beachten, nicht einmal in ihre Nähe lassen dürfen. Aber sie tat es und sorgte für die größte und freudigste Wendung seines Lebens.
Sonja wohnte im dritten Stock des Nachbarwohnblocks und verbrachte die meiste Zeit im Hof, dem Dvor. Malisch und Sonja kannten sich seit Kindertagen, aber wie für die meisten Kinder des Hofes war er für sie viele Jahre lang unsichtbar, jemand, durch den man bestenfalls hindurchsah und über den man schlimmstenfalls lachte.
Wie sie die Schalen der Sonnenblumenkerne ausspuckte, konnte man nur als vulgär bezeichnen, und immer hatte sie einen derben Spruch parat, den sie ihm hinterherschicken konnte. Aber niemals war dieser Spruch verletzend, niemals war er mit derselben Verachtung hinausposaunt, wie es die anderen im Hof taten, vor allem die »Kassiererbande«, die seit Jahren keine Gelegenheit ausließ, ihn zu beleidigen, zu demütigen oder zu erpressen.
Sonjas Sprüche waren trotz der heftigen Wortwahl, die jeden Seemann beeindruckt hätte, auf eine ihr sehr eigene Art und Weise liebevoll. Manchmal hatte er das Gefühl, als streichelte sie ihn mit Sätzen wie »Na, du kleiner Pimmel, wie geht’s dir so heute?« oder »Oh, der Bettnässer ist heute ohne Mama unterwegs, mutig, mutig!«.
Aber eines Tages änderte sich etwas. Aus irgendeinem Grund sprach sie ihn an jenem Tag am Eingang zu seinem Treppenhaus an, sie war mit ihrem typisch schleppenden Gang, mit eingefallenen Schultern und sturen Schritten um ihn herumgeschlichen, dann am Treppenabsatz stehen geblieben, als hinderte eine unsichtbare Macht sie daran, weiterzugehen. Und er hatte sich zu ihr umgedreht. Seit seiner Kindheit war er es gewöhnt, so zu tun, als wäre er durchsichtig, wenn er an Gleichaltrigen im Dvor vorbeilief, wenn er vom Schachspiel, vom Literaturzirkel oder vom Deutschunterricht der Jugendförderung kam, den er freiwillig belegt hatte, um möglichst wenig Zeit zu Hause zu verbringen. Er blieb nicht stehen, egal, was sie ihm nachriefen.
Aber an jenem Tag im Treppenhaus, da blieb er stehen, dieser Impuls war physisch spürbar, etwas zog ihn zu ihr hin, obwohl er bereits im Begriff war, die Stufen möglichst schnell hinter sich zu bringen, um ihr und ihrem Zigarettenqualm zu entkommen, den sie unverschämt demonstrativ ausblies, seit sie vierzehn war. Und dann sagte sie, er habe ziemlich »geile« Augen und solle sie nicht verstecken. Und er spürte, wie dieser Satz ihm Gänsehaut bereitete.
In der Folge hielt er nach ihr Ausschau, wenn er in den Hof kam. Seit ihrer Begegnung im Treppenhaus schienen sie ein Geheimnis miteinander zu teilen. Wenn sie von anderen Jugendlichen der Nachbarschaft umringt war – denn sie alle schienen ihre Autorität zu akzeptieren –, dann gab es nur einen kurzen Blick zu ihm, einen vorsichtigen, kaum merklichen, den er jedoch auf der Haut spürte wie ein Kribbeln oder den Flügelschlag eines Schmetterlings, aber keine Kommentare mehr, keine Witze auf seine Kosten. Und als der mächtige Petja, der selbst ernannte Zar des Hofs, den man nur den Kassierer nannte, weil er seit frühster Kindheit die anderen Kinder im Hof um beeindruckende Beträge erpresste – eine Fähigkeit, die er später erfolgreich auf professioneller Ebene einsetzen sollte –, ihm einmal etwas Widerliches zurief, hörte er nur noch Sonjas lauten Aufschrei und dann einen dumpfen Schlag.
Sie behielt nur noch wenige Wochen das Exklusivrecht auf neckende Beleidigungen auf seine Kosten. Danach war es zumindest auf dem Hof vorbei mit »Kleinpimmel« oder »Tittennuckler«. Seiner jahrelangen Pein hatte sie auf solch eine kurze und schmerzlose Weise ein Ende bereitet. Aber das war bereits zu einer Zeit, in der sie, die Sonderschulabgängerin, und er, der mit dem »roten Diplom« ausgestattete Gaststudent, anfingen, sich heimlich zu verabreden, und kurz bevor sie ihre vollen, nach Tabak und nach der Bonbonmarke »Mischka im Norden« und nach etwas sündig Begehrenswertem schmeckenden Lippen auf seine drückte.
Er begab sich bereitwillig in ihre Hände, die gleichzeitig zärtlich und brutal sein konnten. Er stürzte kopfüber in sie hinein wie in einen Wasserfall. Sie nahm ihn in Beschlag, als hätte sie einen Zauber über ihn verhängt. Nichts mehr zählte, nur noch die allabendlichen Streifzüge durch die düsteren Gassen und versteckten Höfe, durch die sie ihn führte wie durch ein geheimes Labyrinth. Durch sie lernte er sein Viertel völlig neu kennen. Es gab geheime Küsse in den Treppenhäusern und Autowracks, denen sie allen einen Namen verliehen. Endlich war da eine, die stark genug war, seine Wünsche aufzufangen, ohne unter deren Last zusammenzubrechen. Jemand, der ihm durch die endlosen Weiten seiner Fantasie folgte, die keine Grenzen anerkennen wollte. Jemand, der verrückt genug war, ihn noch mehr anzufeuern.
Sonja, die nichts hatte und nichts fürchtete. Ihr Vater trank Wodka wie ein Baby Muttermilch, und wenn die klare Flüssigkeit sein Hirn in einen Matschhaufen verwandelt hatte, ging er auf seine Familie los. Und ihre Mutter, die die Nase gestrichen voll hatte von diesem Leben und der ununterbrochenen Arbeit, blieb oft tagelang verschwunden – wie man munkelte, ging sie zu einem verheirateten Direktor eines Gastronoms. Nur ihre ältere Schwester Olga versuchte inmitten dieses Trümmerhaufens ein einigermaßen geordnetes Leben für sich und ihre kleine Schwester zu organisieren, was ihr hin und wieder gelang.
Wahrscheinlich wäre er in einem dieser Autowracks namens Artjom oder Maria mit seiner wilden Freundin für immer sitzen geblieben, mit der ersten und einzigen, mit dem Wirbelsturm, der in ihm wütete und den Sonja etwas mitleidsvoll als »ziemliches Verknalltsein« diagnostizierte, bis sie eine vollständige Skizze ihrer gemeinsamen Zukunft entworfen hätten, bis er jede Stelle ihres Körper ausgekundschaftet hätte – aber seine Mutter schaffte es, ihm auch dieses Glück zu entreißen.
Nachdem er eines Nachts in die Wohnung zurückkam, entdeckte er sie, ein Häufchen Elend zitternd auf dem Boden liegend, apathisch, mit leerem Blick. Der herbeigerufene junge Notfallarzt bescheinigte einen Nervenzusammenbruch, sie musste für einige Tage ins Krankenhaus, wo Malisch täglich mit frischem Obst und einer von Sonjas Schwester zubereiteten Rinderbrühe ausgestattet für einige Stunden an ihrem Bett Wache hielt.
Jede Aufregung wäre fatal für sie und äußerst gefährlich, warnte ihn Mutters einzig noch verbliebene Freundin Zina Matveevna, die gefürchtete Zahnärztin von der Bezirksklinik für Zahnmedizin. Mit Tränen in den Augen drang sie auf ihn ein, dass es nun an ihm liege, ein »Mustersohn« zu sein, weil in dieser Situation jedes nicht ihrem Willen entsprechende Handeln dazu führen würde, dass sich in ihrem Kopf ein Blutgerinnsel bilde, und was das für Folgen haben könne, nun, daran wolle man jetzt gar nicht erst denken.
Beim vierten Anlauf blieb ihm nichts mehr anderes übrig, als die Aufnahmeprüfung für die Militärakademie zu bestehen – dank leerer Worte und Fürsprachen ihm vollkommen fremder Männer in Uniform, die seinem Vater wohl noch einen Gefallen schuldeten. Begleitet vom Jubelgeschrei Lydia Nikolaewnas, Krimsektschaum auf seinen Hosenbeinen und einem Loch im Herzen hatte er seine Ausbildung angetreten, um sie anderthalb Jahre später, ohne jeglichen Rang und Titel mitten im Strategieunterricht abzubrechen, indem er einfach aufstand und hinausspazierte, weil er plötzlich mit erschreckender Klarheit begriff, dass er vor Selbsthass auf der Stelle tot umfallen würde, würde er auch nur eine Sekunde weiter hier sitzen bleiben und so tun, als wäre er jemand, der er nicht war. Dass er außerdem auf den Fähnrich einschlug,