Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat. Demian Lienhard

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Название Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat
Автор произведения Demian Lienhard
Жанр Языкознание
Серия Debütromane in der FVA
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783627022709



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auf den Treppenabsätzen stehen mit starrem Blick und wie festgeklebt. Hüfthoch angehäuft liegen die Kadaver in den Fluren, mit schmutzigen Kleidern und schwarzen und blauen und violetten Gesichtern, mit aufgesperrten Mündern, in denen weiß die Zähne leuchten, und aufgerissenen Augen, mit geschwollenen, vom Rauch aufgedunsenen Köpfen, mit gebrochenen und zerdrückten und zerstampften Gliedmaßen, mit blutig zerkratzter Haut, zusammengeschmolzen und verbacken zu einer Masse aus schmutzigem Fleisch. Aber das Schlimmste am Bunker ist, dass sie die Klos vergessen haben. Im Erdgeschoss keine Toiletten, im ersten Stock keine Toiletten, im zweiten Stock keine Toiletten, im dritten Stock keine Toiletten. Nur im Untergeschoss, vor der Dreifachturnhalle, da gibt es fünfzehn Stück für jedes Geschlecht, aber die sind immer leer. Erst später hat man in den winzigen Räumen, die als Abstellkammern für den Abwart vorgesehen waren, noch ein Klo auf jedem Stock eingerichtet, im Osten eines für die Frauen, im Westen zwei Pissoirs für die Männer. Nur zwei Pissoirs. Wenn von den Jungs einer mal nicht nur Kaffee getrunken hat oder einem Erstklässler übel wird, weil er alle Warnungen in den Wind geschlagen hat und etwas anderes als die Fritten gegessen hat in der Mensa – Pech gehabt. Drei oder vier Stockwerke muss der dann rennen. Überhaupt: Der Bunker ist eine verkehrte Welt. Wir Mädchen gehen nie zusammen auf Klo im Bunker, weil es keinen Vorraum gibt, in dem wir reden könnten, oder weil der Vorraum ganz einfach das Treppenhaus ist, sodass jeder mithören kann, wenn er will, aber dann braucht man sich auch nicht ins Klo zurückzuziehen für ein geheimes Gespräch, weil das Gespräch ja dann nicht das ist, was es sein soll, nämlich geheim. Die Jungs dagegen müssen immer zu zweit hin, damit dann einer vor der Tür wartet und zusieht, dass keiner reinkommt. Die Toiletten nämlich sind so klein, dass die Tür genau so breit ist wie der Raum, und wenn du hineingehst, dann schaust du geradeaus aufs Waschbecken, während du die beiden Pissoirs rechts an der Wand erst dann bemerkst, wenn du die Tür hinter dir geschlossen hast. – Und wenn du mit offener Hose vor dem Pissoir stehst und dir einer von hinten die Tür in den Rücken stößt, sagte Marcel einmal in der Pause, – dann wirst du nach vorne geschubst und pinkelst dir auf die Hose.

      Und diesen abbruchreifen Neubau haben sie gleich vier- oder fünfmal gebaut im Kanton. Aber das ist eine andere Geschichte.

      Jedenfalls: Ich stehe mit Franz und den anderen in der Runde, aber ich schaue mich andauernd nach Marcel um, weil ich möchte, dass Marcel kommt und weil ich nicht möchte, dass Marcel kommt. Und irgendwie macht mich der Gedanke, dass er kommen und meine drei Pickel sehen könnte, nervös. Aber auch der Gedanke, er könnte nicht kommen, lässt mir keine Ruhe. Mittlerweile habe ich in den allermeisten großen Pausen mit ihm geredet oder habe wenigstens in der Runde gestanden, wenn geredet wurde, und eine große Pause ohne Marcel war so etwas wie eine verlorene Pause für mich.

      Und dann, als die Pause zu Ende ist und ich mich aufmache zum Hallerbau, begegne ich ihnen in dem Moment, als ich den Bunker über die Seitentür verlasse, die bei den Treppenhäusern, die immer zuschnappt und die man von außen nicht öffnen kann.

      Ihnen, das ist Marcel und das ist Corinne, wie ich später erfahre, und sie wollen hinein in den Bunker und nicht hinaus, obwohl der Marcel doch mit mir in der Klasse ist und nicht mit der Corinne. Gut, die beiden haben zwar nicht Händchen gehalten und sie haben sich auch nicht geküsst, aber sie haben auch nicht nur geredet. Die haben … Ach, das muss man jetzt auch nicht breittreten. Ich jedenfalls wusste: Das war’s.

      Und am Nachmittag kommt das mit der Chemieprüfung. Ich bin immer gut gewesen in Chemie. Ich bin schlecht in Mathe, ich bin schlecht in Physik, ich bin mittelmäßig in Biologie, aber ich bin gut in Chemie. Ich habe immer Bestnoten geschrieben, eine Sechs nach der anderen. Keine Frage, ich habe den Dreh rausgehabt mit den Prüfungen.

      Bei den Notenbesprechungen hat das für lange Gesichter gesorgt. Es gibt nämlich vier Sorten Schüler, aus der Sicht der Lehrer, meine ich. Es gibt die, die überall gut sind und es gibt die, die überall schlecht sind. Dann gibt es noch die zwei Gruppen mit einer einseitigen Begabung. Die einen sind sprachbegabt und haben gute Noten in Geschichte, in Geografie manchmal, in Wirtschaft und Philosophie, aber können nicht einmal einen Spitzwegerich von einer Rotbuche unterscheiden. Und es gibt die Mathematikbegabten, die gute Prüfungen schreiben in Physik, in Biologie und in Chemie, aber nach acht Jahren Unterricht noch immer keinen geraden Satz auf Französisch herausbringen und die Kommas im Aufsatz nach dem Zufallsprinzip verteilen. Ich, muss man sagen, gehöre zur dritten Gruppe. Oder hätte gehört. Wenn da nicht die Chemie gewesen wäre. Der Schwarz, der Büttikofer und der Wullschläger, sie alle wittern eine Unregelmäßigkeit, weil ich in ihren Prüfungen lauter unzusammenhängenden Unsinn aufs Blatt werfe, aber in Chemie nur Sechsen schreibe. Aber der Novak, der hat mich immer verteidigt, hat mir der Rechsteiner einmal erzählt, als er ins Plaudern kam. Für Novak bin ich das hochbegabte Mädchen, das überall gute Noten schreiben würde, wenn es nur gewollt hätte. Oder wenn der Unterricht gut gewesen wäre. Dass ich in den anderen Naturwissenschaften nur schlechte Noten schreibe, hänge entweder mit meinem Desinteresse oder mit den inadäquaten Unterrichtsformen zusammen – inadäquat, betonte der Rechsteiner, habe der Novak gesagt –, wobei das eine letztlich auch der Grund für’s andere sei. Jedenfalls seien meine Bestnoten in Chemie und in den ganzen geisteswissenschaftlichen Fächern Beweis genug, habe der Novak gesagt, dass es mir nicht an Intelligenz fehle. An meinen schlechten Noten seien, wenn es nach ihm ginge, die Lehrer der anderen Naturwissenschaften vor allem selbst schuld.

      Natürlich hatte der Novak unrecht. Sicher, seine Analogien aus dem zwischenmenschlichen Bereich, mit denen er uns erklärte, was freie Elektronen sind und was Wasserstoffbrücken, haben sich immer gut angehört und manchmal waren sie sogar hilfreich fürs Verständnis. Dass ich so gute Noten schrieb bei ihm, hatte damit allerdings nichts zu tun. Es hing einzig und allein mit der Prüfungsform zusammen: Novak machte offene Prüfungen. – Ihr sollt nicht auswendig lernen, sagte er mit einem Akzent, dem man die böhmischen Hügel auch zwölf Jahre später noch anmerkte, – ihr sollt denken lernen. Und weil wir nicht auswendig lernen sollten, durften wir alles mitnehmen, was wir wollten: Bücher, Ordner, Taschenrechner. Das klingt einfacher, als es war: Die Fragen, die waren wirklich schwer. So mancher aus meiner Klasse hat eine schlechte Prüfung nach der anderen geschrieben.

      Ich hatte Glück. Eine Nachbarin von mir, die einige Jahre älter ist als ich, ist bei den Pfadfindern gewesen. Sie und einige ihrer Leiterinnen hatten alle beim Novak Chemie gehabt und dabei sämtliche Prüfungen gesammelt, die sie zusammenbringen konnten. Als ich die Sammlung erhalten habe, umfasste sie bereits mehrere Ordner. Zwar waren die Prüfungen selten identisch, doch weil der Novak meistens nur die Zusammenstellung der Fragen und einige Zahlen verändert hatte in ihnen, in den Ordnern meiner Nachbarin für jedes Thema aber mehrere Prüfungen abgelegt waren, konnte man in der Sammlung jede der fünf Aufgaben finden.

      Also: Weil ich die Woche zuvor gefehlt habe, muss ich am Nachmittag die Prüfung nachschreiben. Keine große Sache, denke ich. Novak reicht mir das Aufgabenblatt, schickt mich in ein leeres Zimmer. Den Ordner habe ich dabei, die alten Prüfungen sind hinten eingeheftet. Ich fühle mich unfehlbar wie der Papst.

      Doch als ich die Fragen durchgehe, wird mir klar: Irgendwas ist anders diesmal. In vier von fünf Aufgaben sind die Zahlen verändert, und das kostet Zeit. Dazu kommt, dass zwei Aufgaben, die ich zwar in meinem Ordner finde, von keiner meiner Vorgängerinnen richtig beantwortet wurde: Überall das unleserliche Rot von Novaks Sauklaue. Als ich nach fünfundvierzig Minuten abgebe, weiß ich: Das war nichts. Die Note wird nicht ungenügend sein, aber das ist es nicht, was mich traurig macht. Wenn du immer erste Klasse fährst und dann plötzlich zweite, zählt der Umstand, dass du gleich schnell ans Ziel kommst, wenig. Dass deine Handflächen den Plüsch vermissen an den Armlehnen und deine Beine die Freiheit, das ist es, was schmerzt.

      Marcel, die Chemieprüfung und am Abend, als ich endlich zu Hause anlange, die Schmerzen unter dem Haaransatz. Es kommt alles zusammen. Als ich die Tür hinter mir schließe, ein paar Kerzen anzünde, das Radio einschalte und mich aufs Bett fallen lasse, ist mir schwindlig.

      Etwas liegt in der Luft, trällert einer im Hintergrund, ob ich geliebt werden könnte, fragt ein anderer. Normalerweise singe ich mit, wenn Phil Collins singt oder Bob Marley, und wenn ich den Text nicht mehr weiß oder ihn nicht verstehe, dann bewege ich zumindest den Mund dazu. Aber diesmal liegen mir die Gedanken zu schwer auf der Kehle und im Hals stauen sich eine