Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat. Demian Lienhard

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Название Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat
Автор произведения Demian Lienhard
Жанр Языкознание
Серия Debütromane in der FVA
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783627022709



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aus Venetien, die feine ohne Klümpchen, und deswegen war es besonders schlimm.

      Als ich am Nachmittag nach Hause komme, rieche ich den Braten sofort. Und dass es dazu meine Polenta geben soll, ist mir auch augenblicklich klar.

      – Aber Viktor hat doch heute Geburtstag, sagt meine Mutter und hebt die Hände wie der Torwart, der den Ball vor dem Linienaus nicht berührt haben will und gleich auf Abstoß pochen wird. – Und du, du isst doch heute bei Kathi.

      Ich bin fassungslos. In einem Anflug von Bolschewismus hat meine Mutter die Polenta doch tatsächlich zum Allgemeingut erklärt.

      – Aber das ist doch meine Polenta, sage ich, und: – Guck, jetzt ist sie leer. Zum Beweis halte ich die Packung über Kopf, und einzelne Körner fallen auf die grauorangen Fliesen, wo sie einsam und traurig leuchten wie die Sterne hier an den viel zu hellen Nachthimmelstreifen, wenn sie kreuz und quer über den Häusern hängen.

      – Am Montag kaufe ich dir neue.

      – Darum geht es nicht.

      Meine Mutter rührt unbeirrt weiter in ihrem Topf. Nach einer Weile lacht sie.

      – Das Lachen wird dir noch vergehen!, schreie ich.

      Ich wünschte, ich hätte das nicht getan.

      Sie holt aus. Eine Sekunde später drängt sich mir der harte Boden ins Gesicht.

      Als ich wieder zu mir komme, sehe ich doppelt. Da bin ich und da ist dieses Mädchen im Spiegel, dem traurig das Haar über dem Gesicht hängt und Tränen vom Kinn.

      Ich reiße meine Jacke vom Haken, stürze aus der Tür, renne davon. Hinter mir höre ich meine Mutter rufen, aber ich reagiere nicht, renne einfach weiter. In meinem Kopf brennt ein Feuer, das alle anderen Gedanken weggesengt hat.

      Am frühen Abend kommt Viktor nach Hause. Er legt seine Tasche ab, zieht die Schuhe aus. Er hört das Rauschen der Abzugshaube in der Küche, und als er ins Esszimmer tritt, sieht er die dampfenden Töpfe, die beiden Gläser und eine Karaffe Wasser auf dem Tisch. Meine Mutter tritt ins Esszimmer und bittet ihn, eine Flasche Rotwein vom Dachboden zu holen. Viktor nickt, dreht sich um und steigt die Treppe hoch. Während meine Mutter den Braten aufschneidet, glaubt sie, einen dumpfen Schlag zu hören, aber sie ist sich nicht sicher. Als Viktor nach fünfzehn Minuten noch immer nicht zurück ist, beschließt sie, nach ihm zu sehen. Während sie die letzten Sprossen der Leiter nimmt, erkennt sie ihn am hinteren Ende des Dachbodens, mit hängenden Schultern, im Dunkeln. Vor ihm das Weinregal und in einer großen Lache die Scherben einer zerbrochenen Flasche. Er scheint ratlos, aber im Profil trägt sein Gesicht auch Spuren von Anstrengung. Meine Mutter fragt, ob er Hilfe brauche, aber Viktor gibt keine Antwort. Auch, als sie ein zweites und ein drittes Mal fragt: Nichts. Jetzt wird sie stutzig, tritt auf den Dachboden und macht Licht. Und da sieht sie das Seil, das aus dem Dunkel des Gebälks herabhängt und eng um seinen Hals liegt wie ein Schal im Dezember.

      Meine Mutter – ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Irgendwie hatte ich ein schlechtes Gewissen wegen der Polenta. Also wegen Viktor. Und dass ich davor …

      Hat ihm das jemand zugetraut? Ich habe herumgefragt in der Nachbarschaft, aber wenn man das tut, ist es doch immer dasselbe. Keiner hat es ihm zugetraut. Natürlich. Sonst wäre er noch am Leben. Liebenswürdiger Nachbar, haben sie gesagt, freundlich, haben sie gesagt, hat immer gegrüßt auf der Straße. Und sonst – fand sich auch nicht viel. Er trank nicht, nahm keine Medikamente, keine Drogen. Er ist – soweit das dort, wo er herkommt, möglich war – in guten Verhältnissen aufgewachsen, seine Eltern, hat Viktor immer gesagt, seien fürsorglich gewesen und so weiter. Eigentlich fand sich überhaupt nichts, nicht einmal ein wirklicher Abschiedsbrief, lediglich, Tage später, eine kurze Notiz auf seinem unordentlichen Schreibtisch: Die Lücke, die ich hinterlasse, ersetzt mich vollkommen.

      Warum ich das erzähle? Keine Ahnung. Vielleicht, weil es mir leid tat. Das alles. Für meine Mutter. Denn mit Viktor ist der Efeu in meinen Kopf gewachsen. Der Samen davon war schon vorher da, aber noch verborgen damals. Irgendwo vorm Rücken. Da, wo Lungen und Herz … Unter stapelweise anderer Sorgen, verheddert in Gedanken. Und manchmal gibt es ja auch noch die guten Dinge, Softeis zum Beispiel oder Schifffahren oder Mister Wochentag, wenn er wieder irgendeinen Unsinn plappert auf meiner Schulter. Aber wenn sich diese Idee nach oben schmuggelt … und das hat sie. Die Ranken waren jetzt überall. Dicht war es unter meinem Schädelknochen und voll und es raschelte die ganze Zeit. Und dann braucht es nur noch einen Tag, der so richtig scheiße ist. Und der davor war es auch. Und der davor: sowieso. Manch einer geht ins Flüssige, verdünnt seine Lebenslügen Tag für Tag mit irgendwelchen Wodkaimitaten. Andere wählen die schnelle Variante. Sie klappern die Apotheken ab, gehen in den Eisenbahntunnel oder auf die Hochbrücke und kehren nicht mehr zurück. Für mich war das keine Option. Ich hatte Höhenangst. Und Tabletten, die bringe ich nicht runter.

      Ja. Das mit dem Efeu in meinem Kopf, das war Viktor. Viktor oder – Rolf. Viktor und Rolf. So.

      Es ist ein schöner Montagmorgen, beinah zu schön für einen Tag im frühen März. Die große Pause ist fast zu Ende, als ein Junge die breite Betontreppe betritt, die zum Schulhaus hochführt. Rolf ist fast sechzehn, nur noch einige Tage sind es bis zu seinem Geburtstag. Ein Fest oben in der Waldhütte wird vorbereitet, ohne ihn, versteht sich. Er soll nichts davon erfahren.

      Rolf ist spät dran. Er hastet die Treppe hoch, nimmt zwei Stufen auf einmal. Doch dann, als er das Ende beinah schon erreicht hat, wird er auf einmal langsamer, bleibt auf der zweitletzten Stufe stehen. Plötzlich dreht er sich um und schlägt die Richtung ein, aus der er gekommen ist. Entschlossen nimmt er den Weg zurück zur Kreuzung, überquert die Straße und den kleinen Platz vor der Brücke, wo er Minuten zuvor sein Fahrrad abgestellt hat. Er lässt seine Handfläche über den Sattel streichen – liebevoll, wird später einer sagen – und betritt die Brücke. Fast schwebend schreitet Rolf dahin, sein federnder Gang wirkt leicht, unbeschwert, in regelmäßigen Abständen lässt er seine Handfläche auf den Handlauf klatschen. Er weicht einer schmalen Pfütze aus, die sich um eine Nahtstelle im Asphalt gebildet hat, macht einige taumelnde Schritte, bis er sich wieder fängt. Dann hält er inne, lässt den Rucksack von seinen Schultern gleiten und lehnt ihn sorgfältig gegen einen Laternenpfahl. Er stellt sich ans Geländer, sein Blick geht nach unten, auf den Kanal und die Straße, die so heißt, auf das Mehrfamilienhaus, das die beiden voneinander trennt, das Kraftwerk und die Sporthalle, wo die Straße endet. Er zögert eine Sekunde, zieht sich dann am Laternenpfahl hoch und hebt ein Bein nach dem anderen über den Handlauf, erst das rechte, dann das linke. Während er sich mit der Rechten am Geländer festhält und mit der Linken den Laternenpfahl umklammert, lässt er langsam seine Beine hinuntergleiten, und als er den schmalen Vorsprung unter seinen rechten Zehen spürt, lässt er den Fuß sinken, bis er sicheren Halt findet, um dann erst den anderen abzustellen. Jede Bewegung kontrolliert, als hätte er sie schon hundertfach ausgeführt, alles behutsam und bedacht, so als fürchte er, im falschen Augenblick abzurutschen. Dann bekreuzigt er sich kurz und undeutlich, als würde er eine Fliege verscheuchen, und zwei Sekunden später ist er auch schon tot.

      Die Hochbrücke ist 21,3 Meter hoch. Bei Windstille fällt man 2,08 Sekunden und trifft mit einer Geschwindigkeit von 73,6 km/h auf den Asphalt. Die Straße unter der Brücke ist eine verkehrsarme Sackgasse, rund 500 Meter lang, die erlaubte Maximalgeschwindigkeit beträgt 60 km/h. Bis zum Jahresende stürzten sich fünf weitere Menschen hinunter, im vorletzten Jahr waren es vier, im Jahr zuvor drei. Null Komma acht sieben Todesopfer pro hundert Meter und Jahr, statistisch gesehen ist die Kanalstraße damit die tödlichste der Schweiz. Auf keinem Streckenabschnitt des Landes kommen mehr Menschen um pro hundert Meter.

      Was übrig bleibt, ist immer gleich: ein Haufen Fragen und ein Haufen zerkratztes Fleisch, ein paar Spinnfäden im Straßenbelag vielleicht, die im Herbst gekittet werden müssen, weil sie sich sonst mit Wasser füllen und Löcher in den Asphalt sprengen beim ersten Frost.

      Rolf wurde an seinem sechzehnten Geburtstag beigesetzt. Die Abdankung hat vorher stattgefunden, in der Waldhütte, die man für die Überraschungsfeier hergerichtet hatte, irgendwie fanden seine Eltern das originell. Stück für Stück zog irgend so ein Pfarrer winzige Zettel aus einem dieser Plastikbehälter, in denen man Lebkuchen aufbewahrt normalerweise,