Mörder-Quoten. Leo Lukas

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Название Mörder-Quoten
Автор произведения Leo Lukas
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783800099023



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zu bewerkstelligen wäre.

      Nur wenn an einem Dienstag oder Mittwoch Champions-League-Spiele mit populären Mannschaften stattfinden, hat das Lucky Star Casino bis weit nach Mitternacht geöffnet. Dann fährt Pekarek nicht mehr heim, sondern schläft auf einem Feldbett in der Abstellkammer zwischen dem Lokal und dem Stiegenhaus.

      So geräuschlos, wie sich der Bravo auf weichen Kreppsohlen bewegt, öffnet er die Klotür und nimmt den Schlüssel vom Haken. Er muss seine Taschenlampe nicht bemühen. Das Streulicht, das von der Straßenbeleuchtung durchs Gangfenster fällt, reicht völlig aus.

      Einige ruhige Atemzüge lang lauscht der Bravo. Nichts zu hören außer Schnarchen aus einem der darüber liegenden Stockwerke und, einen Häuserblock entfernt, die Fahrgeräusche der ersten Straßenbahn. Der Bravo sieht auf die Armbanduhr: 4:56:32, ganz nach Plan. Die Wiener Linien sind pünktlich wie meist.

      Er zieht die Handschuhe an, greift in die Umhängetasche, unter das Zeitungsbündel, und holt die Spritze heraus. Sie enthält Beta-Antiarin. Die Dosis würde für drei Erwachsene reichen. Dennoch besteht eine gar nicht so geringe Chance, dass das Gift hinterher nicht bemerkt wird. Hugo Pekarek ist schwer übergewichtig und hat bereits zwei Stents in den Herzkranzgefäßen. Gut möglich, dass die Behörden davon absehen werden, eine Obduktion anzuordnen. Ein Infarkt zieht ungleich weniger Arbeit und Papierkram nach sich als ein Mordverdacht …

      Der Bravo schließt die Tür auf und schlüpft in die Kammer. Noch bevor er die Mini-Taschenlampe einschaltet, riecht er, dass etwas furchtbar faul ist.

      Die Leiche sieht nicht gut aus.

      Wer meint, Leichen wären generell kein schöner Anblick, irrt. So manche Person hat nach der finalen Behandlung durch den Bravo erstmals entspannt, friedlich und sympathisch gewirkt.

      Auf die sterblichen Überreste des Buchmachers Hugo Pekarek trifft dies nicht zu. Das Gesicht ist in Agonie zu einer Grimasse entstellt und blutverschmiert. Über Stirn, Nase und Wangen ziehen sich mehrere Schnittwunden, wie von einem Säbel oder einem großen, scharfen Messer. Blut verklebt auch den grau melierten Schnauzer und Kinnbart. Trotz alldem besteht kein Zweifel an der Identität des Opfers. Der Bravo hat Pekarek mehrmals beobachtet und so ausgiebig studiert, wie er es stets bei Zielpersonen tut.

      Die Verletzungen deuten auf einen Kampf hin. Aber die Position der Leiche widerspricht diesem Eindruck. Pekareks Oberkörper liegt quer über dem Feldbett, die Beine sind gespreizt, die Absätze der Turnschuhe ruhen auf dem Boden. Keinerlei Wunden an den Armen und Fingern, nicht einmal Abschürfungen. Todesursache war ein tiefer, klaffender Schnitt durch die Kehle. Hugo Pekarek ist ausgeblutet. Das grün-weiß gestreifte T-Shirt mit dem Logo des Fußballklubs Rapid wird auf der ganzen Brust und großen Teilen des Bauchs von gestocktem, braunrotem Blut überdeckt.

      Der Bravo steckt die Spritze wieder ein und beugt sich hinab. Er muss den Schädel nicht anfassen, um die fast hühnereigroße Beule am Hinterkopf zu ertasten. Seine Gedanken rasen. Pekarek wurde niedergeschlagen, kurzfristig betäubt, dann getötet und hernach im Gesicht verstümmelt.

      Von wem?

      In den meisten Branchen wäre man nicht unbedingt beleidigt, falls einem unverhofft die Arbeit abgenommen wird. Jeder Hausmeister freut sich, sollte ein Nachbar den Gehsteig bereits vom Schnee geräumt haben. Stubenmädchen in Hotels lieben die an die Türschnalle gehängte Mitteilung, dass der Gast nicht gestört werden will und sein Bett selber macht. Und so weiter.

      Übt man allerdings den Beruf eines Auftragsmörders aus, besteht erheblicher Grund zur Besorgnis, wenn einem jemand zuvorgekommen ist. Der Bravo weiß, dass er nicht der Einzige seiner Zunft und seines Niveaus in Österreich ist. Er kennt die Konkurrenten nicht persönlich, natürlich nicht, jedoch die Spitznamen und den jeweils bevorzugten Modus Operandi. Nicht selten kann er aus knappen Zeitungsmeldungen herleiten, wann höchstwahrscheinlich jemand von den anderen zugeschlagen hat. Ihnen allen gemeinsam ist, dass sie nicht so kindisch sind, irgendwelche individuelle Signaturen zu hinterlassen. Sowieso ist der beste, weil sauberste Mord immer noch der, den die Kripo gar nicht als solchen registriert. Insofern sieht dies hier eher wie die Tat eines Amateurs aus.

      Andererseits gehört Tarnen und Täuschen zum Geschäft, und gewisse Duftmarken …

      Der Bravo richtet sich wieder auf und schnüffelt. Pekareks saure Alkoholfahne und der Gestank des im Todeskampf entleerten Darms erfüllen die enge Kammer. Dazu etwas Modriges, wohl von den grünlichen Schimmelflecken an der Seitenwand. Billiges Plastik: die Ordner im windschiefen IKEA-Regal. Vergammelte Reste von Tomatensoße und Mozzarella in einer halb unter die Pritsche geschobenen Pizzaschachtel.

      Und … noch etwas. Ein Hauch von Schwefel. Plötzlich wird dem Bravo anders. Als wäre ihm diese Szene nicht neu, als hätte er sie schon einmal genau so durchlebt, wie ein Déjà-vu. Jetzt bemerkt er auch das nahezu unhörbare Zischeln aus dem nebenan gelegenen Hauptraum des Wettbüros.

      Erdgas ist ein ziemlich sicherer Energieträger und ursprünglich geruchlos. Die Wiener Versorgungsnetze „odorieren“ es jedoch, soll heißen: sie mischen ihm einen Duftstoff bei, damit auf Gebrechen, wie etwa Lecks in den Leitungen, noch rechtzeitig reagiert werden kann. Schon in geringer Konzentration tritt intensiver Schwefelgeruch auf und signalisiert einen Notfall.

      Dass Pekarek in seinem Wettbüro einen Gasherd betrieben hat, um die Kundschaft mit Würsteln und Gulaschsuppe zu versorgen, ist naheliegend. Für denjenigen, der ihm das Lebenslicht ausgeblasen hat, gäbe es kaum eine sicherere Methode, die Spuren zu beseitigen, als eine Gasexplosion. Welche beileibe nicht bloß durch Hantieren mit offenem Feuer, etwa Kerzen oder Zigaretten, ausgelöst werden kann. Wurde der Gashahn lange genug offen gelassen, genügt es, irgendein elektrisches Gerät zu betätigen, damit im wahrsten Wortsinn der Funke überspringt. Lichtschalter, Türklingel, Handy … oder ein elektronischer Wecker.

      Der Bravo blickt auf die Armbanduhr.

      4:59:47. 13 Sekunden bis fünf.

      Mit einem Mal spürt er, dass es brenzlig wird. Sein Auftrag hat beinhaltet, dass er einen speziellen Gegenstand birgt, mit sich nimmt und später unauffindbar entsorgt. Hektisch schwenkt er den Strahl der Lampe über die Regalbretter. Im Vorbeifahren erfasst der Lichtkegel ein Einmachglas. Darin befindet sich das Gesuchte. Auf dem ausgebleichten Etikett steht „Feine Cornichons“. Aber das Gefäß enthält keine Gewürzgurken, sondern ein menschliches Ohr. Der Bravo schnappt sich das Glas, packt es in die Tasche und flieht durch das Stiegenhaus, so schnell ihn die Beine tragen.

      Seine innere Uhr zählt den Countdown der Sekunden herunter. Als sie bei null angelangt ist, hat der Bravo gerade einmal ein paar Schritte Abstand zu dem Haus gewonnen, an dessen Fassade im Erdgeschoss die Neonschrift „Lucky Star Casino“ rot und blau blinkt. Hinter einer Litfaßsäule wirft er sich in Deckung.

      Der Blitz ist grell, der Knall ohrenbetäubend. Die umliegenden Häuser am Dombrowski-Platz geben das Echo der Detonation mehrfach wieder.

      Als der Nachhall verebbt ist, steht der Bravo auf und geht weg, ohne sich umzusehen, gemessenen Schrittes, als wäre nichts geschehen. Niemand begegnet ihm auf dem Weg zur Tramway-Haltestelle. Die Straßenbahn kommt, er steigt ein. Sirenen heulen auf. Wenig später hört er Folgetonhörner von Einsatzfahrzeugen der Polizei, der Rettung und der Feuerwehr. Sie nähern sich aus verschiedenen Richtungen. Aber da ist er schon in Sicherheit.

      Wäre alles nach Plan gelaufen, hätte sich der Bravo jetzt noch für zwei Stunden hingelegt. Nach vollbrachter Tat ist er gewöhnlich entspannt und schläft sehr gut.

      Diesmal jedoch findet er keine Ruhe. Wie immer duscht er gründlich. Er stopft die einmalig verwendete Tasche und Kleidung in einen Müllsack, obwohl am Tatort mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht die kleinste Faser übrig ist. Dann starrt er lange das entwendete Gurkenglas an. Auftragsgemäß sollte er es ebenfalls so schnell wie möglich beseitigen, mitsamt dem bizarren Inhalt. Aber der Bravo zögert. Er weiß nicht, ob er das belastende Indiz nicht vielleicht doch noch benötigen wird, und er hasst nichts mehr als Ungewissheit.

      Schließlich verstaut er das Glas mit dem Ohr sorgfältig im Geheimfach der Anrichte. Es ist vorläufig der einzige Hinweis darauf, was hinter dieser Sache stecken könnte. Der