Apotheker Melchior und das Rätsel der Olaikirche. Indrek Hargla

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Название Apotheker Melchior und das Rätsel der Olaikirche
Автор произведения Indrek Hargla
Жанр Языкознание
Серия Hansekrimi
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783863935207



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mehr als ich«, meinte Dorn.

      Melchior schwieg einen Moment und sagte dann ernster: »Nur ein kleines bisschen, Herr Gerichtsvogt, nur soviel, dass gestern auf dem Domberg am Abend dem ehemaligen Ordensgebietiger von Gotland der Kopf abgeschlagen wurde und dass der Mörder in die Stadt geflohen ist.«

      »In die Stadt!«, rief Keterlyn. »Das hat auf dem Markt aber niemand gesagt! Woher weißt du das nur?«

      »Nun, das ist nicht gerade schwer auszurechnen – wenn auf dem Domberg eine Bluttat begangen und noch niemand in Ketten gelegt worden ist, hat der Mörder es folglich geschafft, zu entfliehen. Und wenn er entflohen ist und sich am frühen Morgen Ordensdiener beim Rathaus herumtreiben und der Gerichtsvogt nach alledem äußerst missgestimmt ist, dann ist klar, dass er nur in die Stadt geflüchtet sein kann.«

      Dorn nickte und nahm einen Schluck.

      »Der Mörder ist in der Stadt? Ach du grundgütiger Himmel, Melchior, der Mörder ist in der Stadt? Jetzt wage ich mich überhaupt nicht mehr auf die Straße«, klagte Keterlyn.

      »Um so besser«, sagte Melchior. »Ich habe dir vorhin nur das gesagt, was die Sternenkarte tüchtigen Apothekern für den Morgen versprochen hat, aber wenn ich jetzt recht überlege, stand dort für die Mittagszeit noch das eine oder andere mehr, geh also wirklich besser nicht in die Stadt.«

      »Melchior! Schäm dich!« Keterlyn wurde rot, aber Dorn interessierte sich sogleich dafür, was denn über Gerichtsvogte für heute in der Sternenkarte stünde.

      »Drei Becher Gewürzwein gegen Bauchschmerzen«, antwortete Melchior und nickte heiter. Keterlyn aber verabschiedete sich vom Gerichtsvogt, weil sie diese furchtbaren Mordgeschichten nicht hören wollte.

      Das war eine ernste Angelegenheit, wenn der Mörder des hohen Ordensmeisters sich unter das Stadtrecht flüchtete. Oh, natürlich würde der Orden ihn auf den Domberg holen lassen, und natürlich würde der Rat ihn auch herausgeben, aber alles weitere hing davon ab, wer der Mörder war und warum er gemordet hatte. Die Ordensleute durften nicht selbst in die Stadt kommen und dort ihr Landrecht durchsetzen. Melchior liebte Reval, dies war seine Stadt. Er wollte, dass Reval wohlauf war, dass sich keine Krankheiten ausbreiteten und das Leben ungefährlich war und dass die Stadt auch für seine Kinder ein sicherer Wohnort blieb. Reval lag auf dem Herrschaftsgebiet des Ordens, obwohl hier das lübische Recht galt und der Orden bei Stadtangelegenheiten nicht mitbestimmen konnte. Wenn der Mörder des Ordensmannes aber ein Stadtbürger war, konnte die Rache des Ordens die ganze Stadt treffen. Das war noch nie passiert, dass jemand aus Reval einen Ritter geköpft hätte. Das war unerhört, das war grauenhaft ...

      »Haben sie den Mörder gesehen?«, fragte Melchior plötzlich. »Haben die Ordensmänner gesehen, wer es war?«

      »Das weiß ich nun nicht, was oder wen sie dort gesehen haben. Die Ritter erkennen doch kaum noch jemanden, die zechen mit den Männern von Gotland doch schon mehrere Tage lang«, brummte der Gerichtsvogt.

      »Jaja, wenn ich jetzt nachdenke, war nicht dieser von Clingenstain – Friede seiner Asche –, jener berühmte Henning von Clingenstain von Gotland, einer der Armeeanführer des hochehrenwerten Ordensmeisters von Jungingen, als der Orden vor neun Jahren die Ordnung auf Gotland wiederherstellte und die Vitalienbrüder von dort vertrieb?«, erinnerte sich Melchior.

      »So ist es«, bestätigte Dorn. »Wie dem Rat mitgeteilt wurde, reisen die Ordensmänner von Gotland über Reval zurück nach Marienburg, zum Hochmeister, nachdem der Orden Gotland nun an die dänische Krone abgetreten hat.«

      »Von Clingenstain, der Schlächter von Gotland, wie man ihn nannte ...«, murmelte der Apotheker. »Wie man früher erzählte, verbrannten die Ordensmänner damals auf Gotland die Vitalienbrüder bei lebendigem Leibe, schlugen ihnen die Arme ab und ließen sie am Strand verbluten, manchen zogen sie die Haut ab und aus ihrer Haut machten sich die Ordensmänner Handschuhe. Dort ist das Blut geradezu in Strömen geflossen.«

      »Und ganz zu Recht!«, polterte der Gerichtsvogt. »Hatten denn die Vitalienbrüder mit irgendjemandem Erbarmen? Haben sie denn damals nicht jedes Schiff ausgeraubt, ganz gleich, ob nun Schiffe der Hanse, aus Schweden oder Dänemark, waren sie nicht die schlimmste Plage der Nordsee, diese Bande von hinterhältigen, tollwütigen Räubern, verfluchte Mörder! Störtebeker, Gödeke Michels und Magister Wigbold und wie sie alle hießen ...«

      Ja, Melchior kannte diese Namen, wie sie wohl jeder Hafenstadtbewohner hier am Meer kannte. Dies waren Namen aus seiner Jugendzeit, die Angst und Schrecken verbreitet hatten. Die Vitalienbrüder hatten mit niemandem Erbarmen und niemand Erbarmen mit ihnen. Die einen töteten, damit sich ihre Feinde vor Angst schneller ergaben, die anderen, damit die Räuber aus Angst vor ihrem Schicksal von den Meeren verschwanden. Die gefangen genommenen Vitalienbrüder wurden an Land gebracht und dort in den Häfen vor den Augen des Volkes hingerichtet. Eine solche Hinrichtung hatte er selbst vor einem Dutzend Jahren miterlebt. Im Hafen von Reval wurden drei Vitalienbrüder geköpft und ihre Schädel an die Schiffsdalben genagelt. Hunderte und aberhunderte von Menschen kamen bei diesen Kriegen ums Leben und der Zug der Verwüstung traf auch Livland, selbst Hapsal hatten die Vitalienbrüder niedergebrannt. Der Orden hatte alledem ein Ende gemacht. Melchior dachte daran zurück, hörte dem Gerichtsvogt und seinen Schimpftiraden zu und sah dabei ab und an aus dem Fenster. Er sah, wie unter all den Leuten der Herr Schwarzhäupter Clawes Freisinger und Fräulein Hedwig vertraulich flüsternd am Fenster vorbeigingen, er sah den Pastor der Heiliggeistkirche Herrn Rode vorbeilaufen, dann waren da der Schustergeselle und andere bekannte Leute, die offensichtlich noch nicht wussten, dass hier irgendwo auch der Mörder vom Domberg herumspazieren könnte.

      »Sie hatten ihre Gefangenen in Heringsfässer gesteckt und ins Meer geworfen«, ereiferte sich der Gerichtsvogt weiter, »und sogar meinen Schwiegersohn hatten sie gefangen genommen und erst später hörten wir, dass er schon längst am Strand von Stralsund abgestochen worden war. Verflucht, Reval war wegen dieser Vitalienbrüder wie umzingelt, kein einziger ehrlicher Schiffer hat es mehr gewagt, ohne Soldaten zur See zu fahren und selbst die überkam manchmal die Gier und sie haben das ganze Schiff an die Vitalienbrüder verschachert. Das war ein Segen Gottes, Melchior, dass der Orden sie von Gotland verscheucht hat.«

      »Ein Segen Gottes, das war es«, stimmte Melchior zu. »Auf der See ist es jetzt tatsächlich weniger gefährlich, obwohl die Räuberei dort solange weitergehen wird, wie Waren auf dem Seeweg befördert werden. Denn wie man hört, lassen die Vögte von Wiborg und Turku die Schiffe aus Reval von ihren Küstenleuten weiterhin kapern. Dennoch seltsam, dass von Clingenstain gerade jetzt sein Ende gefunden hat, nachdem er Gotland verlassen hatte.«

      »Was willst du damit sagen, mein Freund?«

      »Nichts, nur, dass es seltsam ist. Solange er Herrscher auf Gotland war, war er gesund und munter, und gerade jetzt, wo er seiner Amtspflichten entbunden ist, findet er sein Ende. Und das gerade in Reval, wohin er vorher wohl noch nie einen Fuß gesetzt hat und wo niemand Hass gegen ihn hegen konnte.«

      Der Gerichtsvogt seufzte. »Gerade in Reval, ja, jetzt reibst du auch noch Salz in die Wunde.«

      »Das ist doch die Aufgabe eines Apothekers, alle möglichen Wunden einzureiben. Nein, ich möchte auf deine Kosten keine Späße machen, lieber Freund, aber das eine sage ich dir, wenn ich dir irgendwie zwischen den Mühlsteinen des Rates und des Ordens heraushelfen kann, damit sie dich nicht ganz zermahlen ...«

      Melchiors Angebot unterbrach ein heller Aufschrei vor dem Fenster. Er drehte sich um und sah, dass es offensichtlich Fräulein Hedwig Casendorpe gewesen war, das sich über Herrn Freisingers Worte mächtig gefreut hatte und daraufhin beinahe mit Pastor Rode zusammengestoßen war. Der Schwarzhäupter Freisinger versuchte nun, dem Pastor die Sache beschwichtigend zu erklären, Hedwig aber eilte fröhlich wieder auf den Markt zurück.

      »Was ist los?«, erkundigte sich Dorn.

      »Nichts besonderes«, meinte Melchior. »Der Herr Schwarzhäupter geht dort mit seiner Angebeteten nur spazieren. Oder besser gesagt, ging. Sie haben sich nämlich gerade sehr innig verabschiedet. Sieh einer an, der Herr Schwarzhäupter hat also vor einem so wichtigen Abend auch noch Zeit für Herzensdinge.«

      »Abend?