November 1918 – Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts. Klaus Gietinger

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Название November 1918 – Der verpasste Frühling des 20. Jahrhunderts
Автор произведения Klaus Gietinger
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783960540762



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und »der Sieg sei selbstverständlich der Wunsch eines jeden Deutschen«. Doch die Anwesenden beschimpften ihn als »Arbeiterverräter«.100 Und die Streiks gingen weiter.

      Eberts als offizielle Streikbeteiligung getarnte Abwiegelungspolitik wurde ihm später zum Verhängnis. Genau wegen dieser Beteiligung wurde er 1923/24 als Reichspräsident von rechten Zeitungen und Mitgliedern der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) des Landes- und Hochverrates geziehen, wo er doch 1918 nur den Streik hatte abwürgen wollen. Er klagte mehrfach vor Gericht, was ihn sehr mitnahm, verschleppte eine Blinddarmentzündung und starb. Sebastian Haffner bemüht dazu eine Ballade von Annette Droste-Hülshoff, in der ein Schiffbrüchiger einen anderen von einer Planke stößt, auf der steht »Batavia 510«. Gerettet, wird er fälschlich für einen gesuchten Seeräuber gehalten und zum Tode verurteilt. Zur Hinrichtung geführt, liest er am Galgen »Batavia 510«.101

      Am 1. Februar drohte die militärische Besetzung wichtiger Betriebe, die USPD-Vertreter Haase und Ledebour wurden weich, verhandelten separat mit dem Reichskanzler, während die Spartakusgruppe Kampf wollte, aber die Obleute beschlossen, um Blutvergießen zu verhindern, am 3. Februar den Abbruch des Streiks. Wieder folgten brutale Repression, Verhaftungen, Einberufungen, auch Richard Müller wurde wieder in den Krieg geschickt und kam erst im September 1918 zurück. Trotz erneuter Demoralisierung war vielen klargeworden, welche Macht die geballte, von unten organisierte Arbeiterklasse in Berlin hatte.

      Doch die SPD-Führung war nun nicht untätig. Die Basis musste dringend reorganisiert werden. War in den letzten Jahren des Krieges der Vertrauensschwund in der Arbeiterschaft enorm gewesen – in Berlin hatte die SPD am 1. Juli 1917 grade noch 6500 Mitglieder, die USPD dagegen 28 000 –, so gelang es ihr peu à peu, sich an der Basis zu reorganisieren. Als sie im Oktober 1918 selbst staatstragende Partei geworden war, war ihr Mitgliederbestand wieder auf ca. 20 000 gestiegen, etwa gleichviel wie die USPD zu diesem Zeitpunkt hatte.102

      Im September gab die OHL den Krieg für verloren. Ludendorff forderte Waffenstillstandsverhandlungen und den Eintritt von SPD und des Zentrums in die Regierung, wie auch die volle Parlamentarisierung (Regierungskontrolle und Kanzlerwahl durch den Reichstag, nicht durch den Kaiser), da er so glaubte, den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson milde stimmen zu können. Gleichwohl ging der Krieg unvermindert weiter.

      Am 4.10.1918 traten Scheidemann und Bauer (SPD) und Erzberger (Zentrum) als Staatssekretäre in die Regierung ein. Zudem wurde der Kontakt der SPD-Führung mit der militärischen Führung immer inniger. Ebert, David und Scheidemann besuchten Ludendorff und Hindenburg in ihrem Hauptquartier. Und als deren Absetzung als einflussreiche Chefs der OHL und faktische Militärdiktatoren im Oktober 1918 durch den Kaiser ins Kalkül gezogen wurde, nahm Scheidemann sie in Schutz. Man müsse »Hindenburg und Ludendorff jeden Anlass nehmen, die angegebenen Konsequenzen zu ziehen«103. Also zurückzutreten. Trotz dieses sozialdemokratischen Schutzschildes entließ der Kaiser Ludendorff wenige Tage später. Aber auch die seinen waren gezählt.

      Die Vorbereitung der Revolution

      Nach dem Januarstreik 1918 war die Spartakusgruppe praktisch aufgerieben. Leo Jogiches und seine Helfer wurden im März verhaftet, die illegalen Strukturen zerschlagen, die Druckereien ausgehoben, Drucker verhaftet, Flugblätter beschlagnahmt, ja die ganze Adressenkartei fiel der Politischen Polizei in die Hände.104 Einzig Ernst Meyer hielt noch das Fähnchen hoch. Bei den Obleuten übernahm stellvertretend Emil Barth für den eingezogenen Müller die Koordination. Man stand in Kontakt zu den USPD-Männern Ernst Däumig und Ledebour. Die Obleute mieden erstmal die unter Beobachtung stehenden Reste von Spartakus, zögerten aber nicht, ab Frühsommer 1918 weitere Massenaktionen zu planen. Und diesmal war klar, ohne Bewaffnung würde man gegen die Polizei und das in seiner Haltung schwer einzuschätzende Heimatheer (die in der Hauptstadt und im Reich stationierten Truppen) keine Chance auf Erfolg haben. Man sammelte bei Sympathisanten in Deutschland, in Holland und mittels der Bolschewiki Geld für Waffen, auch wenn man autoritäre Strukturen wie bei Lenins Partei nicht zum Vorbild nahm. Luxemburg hatte aus dem Gefängnis heraus sogar die Bolschewiki, für ihre Abschaffung der Arbeiterkontrolle in den Betrieben und ihren Terror, scharf kritisiert. Meyer, der diese Kritik nicht teilte, versuchte ebenfalls, Geld und Waffen zu organisieren.

      Gleichwohl war die Stimmung während des ganzen letzten Kriegsjahres nicht gerade revolutionär. Joffe, der russische Botschafter, berichtete an Lenin, man könne »auf die deutsche Revolution in nächster Zeit nicht hoffen«.

      Doch dann überstürzten sich die Ereignisse. Liebknecht wurde am 23. Oktober 1918 aus dem Gefängnis entlassen und triumphal von Tausenden am Bahnhof empfangen.

      Er forderte am 2. November sofortige Aktionen und geriet mit dem seit September aus dem Krieg zurückgekehrten Richard Müller von den Obleuten aneinander, der Liebknechts Vorstoß als »revolutionäre Gymnastik« bezeichnete. Man einigte sich – nach einer knappen Abstimmung – auf den 11. November als Aufstandstermin. Hauptsächlich, weil man die Massen noch nicht genügend bewaffnet sah. Es war keine direkte Konfrontation geplant, sondern man wollte, wie Rosa Luxemburg es einmal zur Revolution 1905 in Russland formuliert hatte, an die »Kasernentore klopfen« und die Truppen zur Übergabe bewegen.105 Von den Obleuten hatte Däumig, Ex-Unteroffizier (USPD), die Stimmung der Berliner Truppen erkundet. Die Haltung war unklar.

      An der Westfront kam es am 31. Oktober zur Befehlsverweigerung einer ganzen Division. Sie lehnte es ab, in Metz in die Stellungen zu gehen.106 800 000–1 000 000 Soldaten waren schon im Frühjahr 1918 in einem »verdeckten Militärstreik« (Deist) den Befehlen ihrer Offiziere nicht mehr gefolgt.107

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      Abb. 9 Martha Globig, Foto aus den 50er Jahren

      Ende August 1918 »hatten die Desertationen aus der Armee Massencharakter angenommen«108, berichtete Martha Globig. Auf den Berliner Bahnhöfen überredete die »Spartakistin« Soldaten, nicht an die Front zurückzukehren und ihre Gewehre zu behalten. In der Hauptstadt hielten sich im Oktober 1918 etwa 20 000–40 000 Deserteure auf.109 Die meisten warfen – Globigs Bitte folgend – die Flinte nicht ins Korn.

      Aufstand

      »Lieber Papa, wenn du wüsstest, wie mir zumute gewesen ist, als wir unsere Kanonen auf unsere Kameraden richteten, welch ohnmächtige Wut ich hatte. […] Endlich nach einer Stunde gaben die Aufständischen ihre Sache auf und zeigten durch die Bullaugen die Rote-Kreuz-Flagge. Sie ließen sich dann, ungefähr 650 Mann, ruhig an Bord des Dampfers bringen. Uns fiel ein Stein vom Herzen. […] Auch wenn wir niemals auf unsere Kameraden geschossen hätten, auf uns waren von der ›Helgoland‹ drei 15cm-Geschütze gerichtet und wenn nur ein Schuss gefallen wäre, von B 97 wäre kein Holzsplitter mehr übrig geblieben. Ich werde den 31. Oktober nie vergessen«110, schrieb ein Matrose des deutschen Torpedobootes B 97 Anfang November 1918 an seinen Vater.

      Was war geschehen? Schillingreede, Wilhelmshaven, zwei Tage vor dem 31. Oktober. Des Kaisers Flotte lag vor Anker. Schornsteine mussten orange-rot angemalt werden, das Zeichen einer bevorstehenden Schlacht.111 Die Reichsregierung hatte am 20. Oktober, parallel zu den Waffenstillstandsverhandlungen, den U-Boot-Krieg – der 1917 den Kriegseintritt der USA provoziert hatte – eingestellt. Ohne dass die Reichsregierung davon wusste, traf die deutsche Admiralität unter Konteradmiral Adolf »Papa« von Trotha für den Fall planerische Vorsorge. Jetzt sollte die gesamte Flotte gegen England auslaufen und »auch wenn es ein Todeskampf wird«, als Quelle einer »neue(n) deutsche(n) Zukunftsflotte« dienen.112 Es sei zwar »glatter Hazard«, aber man glaubte allen Ernstes, dadurch »einen Stimmungsumschwung im Lande« zu erzielen.113

      Messegasten (Kellner der Offiziere) berichteten von Abschiedsgelagen: »Thüringen (eins der Großkampfschiffe, KG) soll den Heldentod sterben. Darauf wollen wir eins trinken«114, habe der Kapitänleutnant Rudloff abends geäußert. So die Aussage des verhafteten Obermatrosen Riedel vor einem Kriegsgerichtsrat.