Gusto auf Grado. Andreas Schwarz

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Название Gusto auf Grado
Автор произведения Andreas Schwarz
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783903217331



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eigentliche Beginn der Geschichte. Es handelt sich um ein kleines, schmiedeeisernes Tor. Ein Türl eher, wie man in Österreich sagen würde. Beige-braun und im feinsten Wiener Jugendstil gewoben, unterbricht es einen schlichten Zaun zu Strand und Meer hin. Von den Spaziergängern, die auf der Promenade zwischen den Ville Bianchi und dem Strand wandeln, wird es kaum je beachtet, so unscheinbar ist es. Von den Initialen F. J. an der Front des Türls und dem bronzenen Doppeladler darunter nehmen die Passanten daher kaum Notiz.

      Dabei sind diese Initialen Ausweis einer der vielen Geschichten, die Grado und seine altösterreichischen Villen heute noch zu erzählen haben: Als irgendwann vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges die Kunde geht, dass Kaiser Franz Joseph die Hafenstadt Triest bereisen werde, da sollte er auch nach Grado kommen. Jedenfalls setzen die Gradeser alles daran, dass der Monarch auch das ehemalige Fischerdorf auf der Halbinsel an der nördlichen Adria besucht. Schließlich hat seine Majestät es 1892 per Dekret zur »Kur- und Badeanstalt Grado« geadelt. Und die ist inzwischen dank des Aufstiegs in den Olymp der Sommerbäder das Dorado für Gäste aus der Monarchie geworden. Man ist dem Kaiser unendlich dankbar.

      Aber ob er dann auch wirklich kommt? Zur Überraschung aller kündigt Seine Hoheit tatsächlich ihren Besuch an. Die Freude und die Aufregung in Grado sind grenzenlos.

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       Das viel zitierte »Kaisertürl« zum Strand – da soll Kaiser Franz Joseph durchgegangen sein?

      Ob der Kaiser dann in einer der fünf Ville Bianchi nächst dem Strandbad und seinem ausladenden Holzbau im Wasser abgestiegen ist oder, wie kolportiert, in der Villa Erica gleich dahinter, ist nirgendwo niedergeschrieben. Auch was er speiste in den Villen – wahrscheinlich Tafelspitz, weil der damals natürlich zur Gradeser Küche zählte –, ist nicht dokumentiert. Aber dass zu Ehren des Kaisers in aller Eile ein kleines Tor geschaffen wurde, das dem Monarchen den schnellen Zugang zum Strand ermöglichen sollte, das weiß man heute, mehr als ein Jahrhundert danach.

      Kurzum: Seine Majestät durchschritt es – und seit Franz Joseph tat das niemand mehr. Das Türl ist seit Kaisers Zeiten zu. Versperrt. Nicht mehr aufzukriegen. Denn der Verbleib des Schlüssels ist ein wohlgehütetes Geheimnis …

      So und in variantenreichen Abwandlungen steht die Geschichte in Reiseführern und auf Webseiten über Grado zu lesen. Immer und immer wieder wird abgeschrieben. So wird sie erzählt, von einem Besucher dem anderen, selten von Gradesern selbst, aber immer umweht vom Hauch des Geheimnisvollen, des Verschwörerischen: Pssst!, der Kaiser war hier, und, man glaubt es kaum, durch dieses Tor ist er gegangen.

      Es ist eine hübsche Geschichte, die nur einen kleinen Schönheitsfehler hat: Kaiser Franz Joseph war zeit seines langen Lebens nie in Grado.

      Das klingt jetzt auch fast unglaublich. Denn seine Hoheit soll von Grado beziehungsweise seinem Ruf als Heilbad so begeistert gewesen sein, dass er sogar Sand von der Adriaküste ins Strandbad Edlach bei Reichenau an der Rax bringen hat lassen – das liegt nicht am Meer, sondern an der eiskalten Schwarza in Niederösterreich, war aber seinerzeit auch Treffpunkt der feineren Wiener Gesellschaft. Nur nach Grado und in den Sand dort setzte Franz Joseph tatsächlich nie einen Fuß.

      Der Kaiser zwar nicht, andere Mitglieder der Habsburgerfamilie allerdings bereisten das Seebad sehr wohl. Was in Zeitungen wie dem Neuen Wiener Tagblatt zu der Zeit gebührend vermerkt wird: »Aus Grado wird uns telegraphiert: Bei herrlichem Wetter kamen gestern Nachmittag Erzherzog Franz Ferdinand und Gemahlin, Herzogin Sophie von Hohenberg, mit ihren Kindern an Bord ihrer Yacht … nach Grado. Am Hafen wurden die Gäste von Bürgermeister Dr. Marchesini, dem Stadtpfarrer …« und so fort empfangen. Sie besuchten den Dom, das Museum, den Bau der neuen Seepromenade, und »von dort begaben sich die Gäste zum Badeetablissement … Die rasche Entwicklung Grados, die schönen Bauten und Gartenanlagen fanden den vollsten Beifall der Gäste«, heißt es weiter. »Unter den Ovationen der gesamten Bevölkerung« verabschiedete sich der hohe Besuch nach einem Tag auch schon wieder und versprach, zur Badesaison wiederzukommen.

      Das war im April 1914. Der Mord am Thronfolgerpaar in Sarajewo zwei Monate später machte vieles und auch dieses Versprechen zunichte.

      Andere Mitglieder des Adelsstandes blieben hingegen wochenlang zur Sommerfrische am Meer, selbst im Juli 1914 noch: »Unter den Neuankommenden befinden sich: Prinzessin Windischgrätz, Erz. Gräfin Attems, Erz. Friedrich Graf Beck, Gräfin Degenfeld, Graf Starhemberg, Marie Gräfin von Bellegarde u. a. m.«, rapportiert die Reichspost noch, als sich die dunklen Wolken des großen Krieges schon über Europa zusammenbrauten. Die Monarchie war in Grado aber vor allem durch den höheren Mittelstand vertreten: Bedienstete des Hofstaates kamen zur Erholung an die Küste, Offiziere, Rechtsanwälte, Ärzte und Architekten, Beamte, Kaufmannsfamilien und Industrielle. Zudem gaben einander Künstler die Sommerfrische-Türen in die Hand, von Arthur Schnitzler über Otto Wagner bis Stefan Zweig – nur der Kaiser selbst ist nie dagewesen. Auch wenn es ihn vermutlich »sehr gefreut« hätte.

      Besagte Tür ist übrigens immer nur einfach ein Zugang zum Strand gewesen, der des Nachts abgesperrt wurde. Als Grado um die Jahrhundertwende endgültig zum beliebten Seebad aufgestiegen war, war der lange Sandstrand zunächst noch ohne Umzäunung frei zugänglich. Wobei »frei« natürlich relativ war. In Wahrheit gab es ein strenges Reglement. Die große Attraktion stellte die langgestreckte hölzerne Badeanstalt dar, die auf Eichenpfählen im seichten Meer ruhte. Davor reihten sich die Kabanen im Sand, das waren jeweils vier Stangen und ein großes Tuch darum. Sie dienten dem Umkleiden. Das »Badeetablissement« mit seinen Kabinen und Duschen war streng in eine Abteilung für Männer und eine für Frauen getrennt. Im Meer zu baden, war für beiderlei Geschlecht nur im Badekostüm gestattet, das Sonnenbad ohne Kostümvorschrift fand wieder nur in getrennten Bereichen statt. Lediglich die Kinder waren tatsächlich frei, sich in Badehose überall aufzuhalten. Voraussetzung: Sie mussten unter zehn Jahre alt sein.

      Nach dem Badevergnügen, am späteren Nachmittag, verlagerten sich die Attraktionen auf die Promenaden. Dort flanierten die Herren im feinen Anzug und die Damen in eleganten Kleidern mit Hut und Schirm. Man begegnete und grüßte halb Wien, und man lauschte in den Parks, den Grünanlagen oder dem einen oder anderen Hotel den Konzerten des Kurorchesters. Besonders beliebt: Das Hotel Fonzari, eines der ersten großen Kurhotels in Grado, und das Café Secession am Largo San Grisogono, der Hauptstraße entlang des Strandes. Dort saß man im Freien in der Abendsonne, sah und wurde gesehen.

      Am Abend verlagerte sich ein Teil des Lebens wieder zurück zum Wasser. Aber nun besuchte man die Badeanstalt nicht des Badens wegen, sondern wegen des dortigen Restaurants. Die Musik spielte für die Kur- und Badegäste auf, es gab Wein, Pilsener-Bier, österreichische Küche und Tanz – und der dunkle Strand links und rechts der Lokalität war vor allem für Burschen und Mädchen die – sagen wir es einmal so: allergrößte Attraktion. Wo sonst konnte man einander so ungestört und so uneingesehen näherkommen als abseits des lukullischen Treibens, am weiten, finsteren Strand? Nur dem Pfarrer des Städtchens, so wird erzählt, stieß das unmoralische Treiben im Gradeser Sand schon länger sauer auf, bis es ihm eines Tages zu viel wurde. Er setzte 1905 den Bau eines Zaunes durch, der bis heute den Strand mit seinen Liegen und den inzwischen hölzernen Kabanen nach Einbruch der Dunkelheit unzugänglich macht. Über viele Jahrzehnte war der Strand in Grado übrigens der einzige abgesperrte Strand in ganz Italien.

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       Der Strand vor den Ville Bianchi mit den Badezelten und der alten Badeanstalt

      Damals sorgte der neue Zaun bei vielen Gradesern und bei Gästen auch für Empörung. Nicht, weil er den nächtlichen Zugang zum Strand unterband, sondern weil er auch das Flanieren oberhalb des Strandes unmöglich machte: Die Promenade war ja noch nicht gebaut. Und für den Zugang zum abgezäunten Bereich wurde plötzlich Eintritt verlangt.

      Die Geschichte vom Kaisertürl hat übrigens ein Gradeser Schlitzohr erfunden, das sich angeblich bis heute darüber freut, dass sie so munter weitererzählt wird.