Mr. Smith und das Paradies. Georg von Wallwitz

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Название Mr. Smith und das Paradies
Автор произведения Georg von Wallwitz
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783937834917



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Und alle sind vergnügt.« Die Börse beschäftigte und befriedete die Menschen, die sich normalerweise, und sei es aus alter Gewohnheit, an die Kehle gingen. Der Handel sozialisierte sie in einer Weise, wie es der Religion jedenfalls nie gelungen war, so sehr sie auch den Frieden und die Nächstenliebe gepredigt hatte. Auf dem Markt versuchte sich niemand in Brüderlichkeit und doch war sie das Ergebnis.

      In England standen die Kaufleute in höchstem Ansehen und das Land war durch sie wohlgeordnet, frei und reich geworden. »Die Kaufmannschaft hat durch ihren mitgebrachten Reichtum die Engländer zu freien Leuten gemacht, und diese Freiheit hat zur Ausbreitung des Handels vieles wieder beigetragen, und somit gedieh der Staat zu seiner Größe. Die Kaufmannschaft war es, welche die Seemacht nach und nach empor brachte, wodurch sich die Engländer zu den Herren der See gemacht haben … Alles dies erfüllt einen englischen Kaufmann billigerweise mit Stolz, so dass er sich nicht ohne Grund mit einem römischen Bürger in Vergleich setzen darf. So verschmäht auch der jüngere Bruder eines Pairs des Königreiches nicht, Handelsgeschäfte zu betreiben … Als Mylord Oxford England regierte, betrieb sein jüngster Bruder eine Faktorei zu Aleppo, von wo er nicht zurück verlangte und woselbst er auch starb.« Die Engländer hatten erkannt, dass das Streben nach individuellem Wohlstand das Land weiter bringt als die Knute des Adels oder die Heilsversprechungen der Kirche. »In Frankreich kann jeder, der will, ein Marquis sein … und einem Kaufmann auf seine gebieterische und verächtliche Art begegnen. Der Kaufmann hört so oft von seinem Berufe abschätzig sprechen, dass er töricht genug ist, bei solchen Reden schamrot zu werden. Dennoch weiß ich nicht, welcher von beiden einem Staate nützlicher ist: Der wohlgepuderte Herr, welcher genau sagen kann, wann der König aufsteht und wann er sich niederlegt, und welcher sich dadurch ein Ansehen verschaffen will, dass er in dem Vorzimmer eines Ministers die Rolle eines Sklaven spielt, oder der Kaufmann, der sein Land bereichert, in seiner Schreibstube Verhaltensbefehle nach Surat und nach Kairo schreibt und das Seinige zur Wohlfahrt der Welt beiträgt.«

      Zu dieser Zeit lag in England die Industrielle Revolution in der Luft. Es bildeten sich zentrale Werkstätten, die vom Umland mit handwerklichen, meist noch in häuslicher Arbeit hergestellten Vorprodukten beliefert wurden. Daraus entwickelten sich Fabriken, die immer mehr und immer billiger produzierten. Voltaire erkannte sehr hellsichtig, dass dieser Entwicklung die Zukunft gehörte und dass der Staat gut beraten wäre, sich darauf einzustellen. Das galt auch für die Franzosen, wollten sie von den Engländern nicht endgültig abgehängt werden.

      In Voltaires englischer Weltsicht musste die Politik ökonomisch werden. Die Ökonomie hörte damit auf, eine Randerscheinung und Lehre für brave Haus- und Landwirte zu sein. Sie wurde in den Philosophischen Briefen zum ordnenden Element der Gesellschaft, welche sich den Wohlstand zum Ziel setzte und damit mehr erreichte als alle Gebete Frankreichs um das Paradies. Voltaire verheiratete die Ökonomie mit der Politik und schuf damit den Ausgangspunkt jener erstaunlichen Entwicklung, welche die aufgeklärte Welt ab der Mitte des 18. Jahrhunderts nahm. Indem die Ökonomie politisch wurde, war das Streben der Menschen nicht mehr auf das Jenseits, auf ein versprochenes Paradies ausgerichtet, sondern auf den Wohlstand im Diesseits. Das Paradies war nichts, worauf sich zu warten lohnte, wenn sich auf Erden ein guter, realer und vor allem sicherer Ersatz finden ließ.

      Die Industrielle Revolution war ein ebenso politisches wie wirtschaftliches Projekt. Sie konnte nur gegen die Interessen der herrschenden Eliten stattfinden, denn sie bedeutete den Übergang von Macht und Wohlstand vom Adel auf das Bürgertum. Ohne Institutionen, die Eigentumsrechte durchsetzen, konnte kein Wohlstand wie in England entstehen – aber diese Institutionen schränkten die Macht des Königs ein. Ebenso wenig konnte Wohlstand ohne breiten Zugang zu den Märkten entstehen, durch den Konkurrenz und damit bürgerlicher Fleiß befeuert wurde. Das aber bedeutete Freiheit, Gleichheit und die Beschränkung von Privilegien, was dem alten Adel ebenfalls nicht schmecken konnte. Aber er nahm es hin. In England wurden die staatlichen Institutionen und die Ökonomie aufeinander abgestimmt, mit enormem Erfolg. Das ist die Zukunft, so schreibt Voltaire in seinen Briefen nach Hause, und wenn ihr nicht untergehen wollt, dann macht es wie die Engländer!

      Die Ökonomie war auch vor Voltaire schon eine ehrwürdige Disziplin gewesen. Aristoteles etablierte sie als eine Lehre von der Hauswirtschaft, aber nach diesem vielversprechenden Beginn dümpelte sie unbeachtet durch zwei Jahrtausende. Im Barock entstand die eine oder andere ökonomische Schule, aber nichts von Bedeutung. Erst durch die Verbindung mit der Politik, wie sie in den Philosophischen Briefen ganz zwanglos und ohne große theoretische Fanfare geschah, fand die Ökonomie den Grund und die Stellung, wodurch sie zu dem wurde, was sie heute ist. Die Aufklärung bekam dadurch eine ganz eigene Disziplin, an der sie zwar oft genug verzweifelte, die ihr aber ein unverzichtbares Vehikel für die Verbreitung ihres Gedankenguts wurde. Der Wohlstand einer Nation war nun Teil der Frage nach der richtigen Regierung. Die politische Ökonomie, wie sie bald hieß, war nicht mehr nur, wie ihre Vorgängerdisziplinen, ein Glas, durch das die Gesellschaft betrachtet wurde, sondern ein Werkzeug, mit dem sie sich selbst veränderte. Den Beginn machte Voltaire und in diesem Sinne war sein Besuch in England »ein Wendepunkt in der Geschichte der Zivilisation«, wie Lytton Strachey ehrfurchtsvoll befand.

      Voltaire blieb knapp drei Jahre in England. Nach seiner Rückkehr war er wild entschlossen, weder sozial noch finanziell jemals wieder in eine Lage zu geraten wie durch die Prügel der Lakaien Rohans. Sozial gelang ihm das nicht wirklich, er sehnte sich zeitlebens nach Paris und seiner hohlen, in Privilegien geborenen Gesellschaft. Als alter Mann kehrte er sogar in den Schoß der verhassten katholischen Kirche zurück, was auch immer er und der bekehrende Priester sich dabei gedacht haben mochten. Voltaire bewegte sich nach seinem Englandaufenthalt meist an den Grenzen des Machtbereichs der französischen Könige, in Belgien, in Lothringen, am Genfer See, immer in Rufweite von Paris, wo gehört zu werden am Ende doch das Einzige war, was zählte.

      Finanziell wurde er hingegen bald sehr unabhängig. Zu seinem literarischen Ehrgeiz kam nun noch ein Geschick im Umgang mit Geld, das seiner sprachlichen Virtuosität fast gleichkam und so manchen Spekulanten an der Londoner Börse erbleichen ließ. Tatsächlich waren dort viele seiner Geschäftspartner froh, ihn gehen zu sehen, denn den Begriff des ehrbaren Kaufmanns hatte er nie verinnerlicht. Auch aus Preußen musste er sich sehr schnell entfernen, wegen eines unmanierlichen Betrugs mit sächsischen Staatsanleihen, bei dem sich zeigte, wie wenig zurückhaltend Voltaire war, wenn es darum ging, sich einen finanziellen Vorteil zu verschaffen.

      In Voltaires Gehirn war das Prinzip der Gewinnmaximierung jedenfalls fest verankert. Er war geizig gegen alle außerhalb der engsten Familie, habgierig, verschlagen und, wenn es um Geld ging, gerne auch von Herzen unanständig. Auf diese Weise wurde er reich und leistete sich jeden Luxus, den seine Zeit zu bieten hatte. Er häufte Geld an, weil ihm das Geldanhäufen und das Geldherzeigen unendlichen Spaß machte und weil die Anerkennung, die es brachte, ihm stets das Wichtigste war. Er war ein Kapitalist im ursprünglichen Sinne, er häufte Kapital um seiner selbst willen an und wollte durch Zins und Investition noch reicher werden, unbelastet von der Frage, ob dies einen Sinn habe.

      Formuliert man Voltaire etwas moderner, so ist er mit seiner Auffassung vom Wohlstand nicht weit entfernt von der heute gängigen Sichtweise. Heute würde er wohl sagen, der Wohlstand einer Nation bemesse sich in stock keeping units (SKU, Lagerbestandseinheiten), in denen Einzelhändler bemessen, was sie an Arten von Waren auf Vorrat haben. Wenn beispielsweise ein Händler fünf blaue und drei grüne Röcke auf Lager hat, so hat er zwei SKUs. Ein Land ist wohlhabend, wenn in seinen Läden viele SKUs angeboten werden, denn das bedeutet ja nicht nur, dass für jeden etwas Befriedigendes oder vielleicht sogar Glückbringendes dabei sein könnte, sondern auch, dass vermutlich eine Menge Vermögen da ist, die das Angebot erst anlockt. Und dann kann man vergleichen. Den Yanomami, einem von europäischen Einflüssen weitgehend unberührten Stamm zwischen Orinoco und Amazonas, rechnet Eric Beinhocker, Vordenker des McKinsey Global Institute, in seinem 2006 erschienenen (wohlinformierten und lesenswerten) Buch The Origin of Wealth vor, dass es bei ihnen mit der Warenvielfalt nicht weit her ist. Sie kommen über einige hundert, allenfalls tausend SKUs nicht hinaus. Der Stamm der New Yorker kann hingegen zwischen einigen zehn Milliarden von SKUs wählen. Einer Auswahl in der Größenordnung von 102 steht eine Angebotsvielfalt der Mächtigkeit 1010 gegenüber. Das ist Wohlstand! Voltaire würde applaudieren, wie er sich überhaupt in New York blendend gefühlt hätte. Wohlstand