Der letzte Überlebende. Sam Pivnik

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Название Der letzte Überlebende
Автор произведения Sam Pivnik
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783806235265



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so erklärte das polnische Radio, hatten Deutschland ein Ultimatum gestellt, sich entweder sofort aus Polen zurückzuziehen oder auf einen Zwei-Fronten-Krieg einzulassen. Das klang doch gut, sagten die Erwachsenen, nicht einmal ein Verrückter wie Adolf Hitler würde einen solchen Krieg riskieren.

      Ich erinnere mich nicht, dass detaillierter über Politik gesprochen wurde, jedenfalls sprach mein Vater vor uns Kindern nicht darüber. Vielleicht wusste Hendla mehr, aber sie war ein Mädchen und verstand wohl auch nicht wirklich, was vor sich ging. So dachte ich zumindest.

      Bis heute können Historiker nicht sagen, wie verrückt Adolf Hitler eigentlich war. Einige sprechen von seinem Narzissmus, seiner Arroganz, seinem obsessiven Rassismus und seinem zunehmenden Größenwahn. Der Zweite Weltkrieg, so sagen sie, war Hitlers Krieg, man muss sich nur diesen komischen kleinen bayerischen Gefreiten ansehen (der eigentlich aus Österreich kam), um die entsetzlichen Ereignisse der Vierzigerjahre zu erklären. Andere, zumeist aus einer anderen Generation, betrachten die äußeren Einflüsse genauer, sprechen von den Auswirkungen des verlorenen Ersten Weltkriegs, von der Weltwirtschaftskrise, die Deutschland besonders hart traf. Und sie sprechen von der Ungerechtigkeit des Versailler Friedensvertrags, der eine einst stolze Nation demütigte und ausplünderte.

       Będzin und seine Umgebung.

      Ich hatte keine Ahnung, was „Großdeutschland“ sein sollte, ich verstand auch nicht, was Hitlers Idee vom „Lebensraum“ für sein Volk bedeutete. Er war ein Vertreter einer Geopolitik, die darauf hinauslief, dass alle Regionen, in denen Deutsche lebten, auch Teil des Deutschen Reiches sein sollten. Und jetzt muss man sich nur eine Karte meines Landes ansehen, wie es sich darstellte, als ich dreizehn Jahre alt war. Der Versailler Vertrag von 1919 hatte den Polnischen Korridor geschaffen, einen Streifen, der zum Danziger Freihafen an der Ostsee führte und unser einziger Zugang zum Seehandel war. Hitler hatte zu Oberst Józef Beck, dem polnischen Außenminister, gesagt, Danzig sei deutsch, werde immer deutsch bleiben und früher oder später Teil des Deutschen Reichs sein. Östlich von Danzig lag Ostpreußen, Teil des Deutschen Reichs seit 1871. Hitler erklärte, es sei ein Unrecht, dass Ostpreußen durch eine fremde Macht vom Mutterland abgetrennt sei. Die Lösung des Problems? Ganz einfach: den Korridor schließen und Ostpreußen ins Reich integrieren. Würden die Polen dem widersprechen? Natürlich. Also musste man ihr Land besetzen. Und fertig.

      All das wusste ich nicht, und ich hatte auch keine Ahnung von dem Hass, den Hitler gegen das jüdische Volk hegte. Ich wusste nur, dass an diesem Sonntag und Montag die Flüchtlinge durch unsere Stadt zogen, mit Wagen, Hunden, Kindern – das reinste Chaos.

      Und natürlich fiel die Schule aus. Ob ich jubelte und herumhüpfte? Ich weiß es nicht mehr. Wenn ich darüber nachgedacht hätte, wäre ich wohl zu dem Schluss gekommen, dass die erste Konstante in meinem Leben bereits weggebrochen war. Die Schule ist eine Säule, eine sichere Institution der Kindheit, mindestens so übermächtig wie Familie und Glaube. Sie ist nicht nur ein Ort, an dem wir uns Wissen aneignen, sie ist ein Ort, an dem wir den Umgang mit der Außenwelt lernen. Die Schule des Herrn Rapaport machte nicht wieder auf, solange ich in Będzin blieb. So endete meine Schulausbildung abrupt.

      Am Montag, dem 4. September, waren sie da. Das verrückteste, aber hartnäckigste Gerücht hatte gelautet, die Briten und Franzosen würden ihre Armeen schicken, um uns zu retten. Niemand, schon gar nicht ein Kind von dreizehn Jahren, fragte nach, ob das denn möglich sei. Wie sollten sie hierherkommen, und dann auch noch so schnell? Tatsächlich hatte in Großbritannien Neville Chamberlain seine berühmte Verlautbarung am Sonntagvormittag um elf Uhr an sein Volk herausgegeben. Erst um fünf Uhr am Nachmittag folgten die Franzosen. Es würde nie britische oder französische Truppen in Polen geben, aber das konnten wir damals nicht wissen.

      Nördlich von uns war die Lodzer Armee mehrmals geschlagen worden. Reichenau hatte die Warthe erreicht, List marschierte auf Krakau zu. Bis Montag war er 80 Kilometer weit vorgedrungen. Aber in diesen Septembertagen waren Gerüchte, nicht Fakten die gängige Währung in Będzin. Die Briten und Franzosen waren auf dem Weg zu uns, hieß es. Wir waren begeistert. Die Leute lachten und plapperten vor sich hin. Frauen und Mädchen sammelten in diesem heißen, trockenen Sommer Blumen, um sie unseren Rettern zuzuwerfen und die mutigen Männer zu begrüßen. Wir warteten an der Hauptstraße, zitternd vor Aufregung, und lauschten kurz nach Mittag auf das Grollen schwerer Fahrzeuge, die sich von Westen her näherten. Jubel wurde laut, die Leute weiter unten an der Straße mussten sie schon sehen können, die rot-weiß-blauen Flaggen.

      Das Erste, was ich sah, waren dunkle Motorräder mit Beiwagen. Die Fahrer trugen tief heruntergezogene Stahlhelme und graugrüne Uniformen, die Waffen hatten sie um die Schulter gehängt. Sie waren schmutzig nach all den Stunden auf der Straße, der Staub des Sommers lag wie eine dichte Schicht auf ihren Handschuhen und Schutzbrillen. Sie bewegten sich langsam und schauten sich wachsam um. Harte Männer mit harten Gesichtern. Hinter ihnen folgten grau lackierte Lastwagen mit krachenden Getrieben und ratternden Ladeflächen. Alle diese Wagen waren bis an den Rand mit Soldaten besetzt, die bis an die Zähne bewaffnet waren und uns grimmig ansahen. Zwischen den Lastwagen fuhren Geschützwagen mit Maschinengewehren und Kanonen. Das Gesicht des totalen Krieges.

      Die Stimmung änderte sich. Die Blumen ließen ihre Köpfe hängen, der Jubel verstummte. Auch die Gespräche hörten auf, das Lächeln gefror auf furchtsamen Gesichtern. Ich stand bei ein paar jüdischen Flüchtlingen aus Düsseldorf, die zwei Jahre zuvor in unser Haus eingezogen waren. Sie waren vor der Verfolgung durch die Nazis geflohen, als Hitlers rassistisches Netz sich immer dichter um die Menschen zog. Ich erinnere mich nicht an die Namen, aber die Mutter sprach schließlich aus, was wir alle dachten: „Das sind keine Franzosen oder Briten. Das sind deutsche Soldaten.“

      Ihre Worte waren wie ein Startsignal für die Menge. Die Leute verteilten sich, nahmen die Blumen mit oder warfen sie verächtlich auf die Straße. Die meisten wollten einfach nur schnell nach Hause. Nach Hause, die Türen verriegeln, die Fenster zuhängen. Und überlegen, was zu tun war. Ich ging nicht nach Hause. Die Wehrmacht faszinierte mich ebenso wie die Bomber zwei Tage zuvor. Ich verstand es damals nicht und kann es bis heute nicht richtig erklären. In der riesigen Menge von Soldaten, die in unsere Stadt einzogen, befand sich ein offener Lastwagen. Die Fahrer waren Deutsche, aber auf der Ladefläche waren Männer in polnischen Uniformen. Sie lachten und machten Witze, als wäre es ganz normal und natürlich, in einem Fahrzeug des Feindes mitzufahren. Ich hätte sie mir genauer ansehen sollen, um festzustellen, ob sie Waffen trugen. Wenn nicht, waren es vielleicht Kriegsgefangene. Wenn ja, warum waren sie dann so guter Stimmung? Wenn es Deutsche waren, weshalb trugen sie polnische Uniformen? Tagelang wurde darüber geredet, aber wir fanden keine Antwort. Vermutlich handelte es sich um sogenannte Volksdeutsche, also Polen deutscher Abstammung, die die Invasoren mit offenen Armen begrüßten. Einer von ihnen war ein kleiner, dicker Mann, den ich kannte, der Kapellmeister unseres Ortsregiments. Er trug die Schulterklappen eines Hauptmanns und hatte in unserer Schule gelegentlich Musikunterricht gegeben. Er nahm nie an Kämpfen teil und verließ Będzin auch nicht, soweit ich mich erinnere. Aber ich weiß bis heute nicht, was eigentlich mit ihm geschah, und so geht es mir mit vielen Begebenheiten aus den nächsten sechs Jahren.

      Als ich irgendwann doch nach Hause kam, herrschte dort eine Art Belagerungszustand. Wir waren jetzt in der gleichen misslichen Lage wie die Flüchtlinge, die wir in der Stadt gesehen hatten. Jetzt war unser Zuhause von den Deutschen umzingelt. Aber wenn wir wegliefen, selbst wenn wir all unsere Habe auf einen Wagen packten – Vaters Nähmaschine, Nathans tolles Fahrrad, meine Schlittschuhe, all unseren Besitz –, wohin sollten wir uns wenden? An diesem Montagabend blieben wir im Haus, wagten uns höchstens einmal auf den Hof, aber nicht auf die Straße. Überall fuhren Lastwagen durch die Dunkelheit, Megafon-Stimmen bellten verzerrte Befehle, immer wieder kam die Aufforderung, dass alle in ihren Häusern bleiben sollten – sonst würde geschossen. Wir taten, wie man uns befahl, hörten das Grollen der Lastwagen und gelegentlich auch Gewehr- oder Pistolenschüsse.

      Ich kann nach so langer Zeit und allem, was noch geschah, gar nicht mehr in Worte fassen, wie ich mich fühlte. Natürlich hatte ich Angst, wer hätte keine gehabt? Ich war wie alle in meiner Umgebung als treuer Pole erzogen worden, wir hatten in der Schule