Der letzte Überlebende. Sam Pivnik

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Название Der letzte Überlebende
Автор произведения Sam Pivnik
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783806235265



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und sein Gehilfe unterrichteten uns in den Geheimnissen unseres Glaubens. Vater fragte mich jeden Samstag ab, und wenn ich zögerte oder etwas nicht wusste, dann bekam ich seine Hand oder gar seinen Gürtel zu spüren.

      Ich sehe meinen Vater noch vor mir – einen achtsamen, sehr genauen kleinen Mann mit ordentlich gestutztem Bart. Er spielte mit uns weder Fußball noch Murmeln, aber das heißt nicht, dass er kein guter Vater war. Denn er war ein guter Vater. Die Zeiten haben sich geändert. „Wer die Rute schont, verdirbt das Kind“, lautete eine Maxime seiner Generation überall in Europa. Und ich erinnere mich, dass ich staunend auf dem Boden saß, wenn er uns die Geschichten von Noah und der großen Flut erzählte, von Joshua und der Eroberung Jerichos und von der Geschichte eines stolzen Volkes, das Gott auserwählt hatte. Meine Mutter und Hendla halfen mir bei den Hausaufgaben, und die einzigen Bücher, an die ich mich bei uns zu Hause erinnere, hatten religiöse Inhalte.

      Manchmal denke ich traurig, dass ich wohl einfach nur ein unartiger Junge war. Ich ging ins Kino – es gab drei Kinos in Będzin – und liebte Cowboyfilme und Tarzan mit Johnny Weissmüller, wie er sich mit lautem Schrei durch den Dschungel schwang. Das war so weit ganz in Ordnung und allgemein akzeptiert, aber es gingen auch Fensterscheiben zu Bruch, wenn wir Fußball spielten, oder wir klauten Obst aus dem Garten von Herrn Rojecki. Ich erinnere mich an eine Dame mit einem großen, ulkigen Hut. Wenn man ein kleiner Junge ist und es schneit, und da kommt eine Dame mit einem ulkigen Hut … na ja, sie wurde zur Zielscheibe für unsere Schneebälle. Heute tut es mir leid.

      Ich hatte Schlittschuhe mit Stahlkufen, und manchmal jagten wir den Wagen (keine große Herausforderung) oder Straßenbahnen (das war lebensgefährlich, einer von uns büßte dabei einen Arm ein) nach. Mehr als einmal war die Polizei hinter uns her. Wer weiß, heutzutage würde man mir vielleicht eine offizielle Verwarnung aufbrummen.

      Wenn ich erwischt wurde, bekam ich den Gürtel meines Vaters zu spüren. So war das eben. Meine Mutter griff manchmal ein, wie Mütter es nun mal tun, um die Schläge abzumildern. Sie hätte sie wohl auf sich genommen, wenn das möglich gewesen wäre. Wann immer es ein Problem – mit meinem Benehmen oder sonst – gab, zog mein Vater die Bibel zurate. Er hatte einen guten Ruf in unserer Gemeinde, Menschen in Schwierigkeiten wandten sich an ihn, und er redete stundenlang mit ihnen. Dabei saß er im Schneidersitz in seiner Werkstatt und nähte eifrig weiter. Wenn er selbst keine Antwort parat hatte, ging er zum Rabbi oder verbrachte einige Zeit im stibl, dem Gebetsraum.

      Ich muss etwa elf Jahre alt gewesen sein, als Hendla uns eröffnete, dass sie nach Palästina auswandern wollte. Jahrhundertelang hatten sich die Juden in der Diaspora nach dem gelobten Land gesehnt, nach Kanaan, dem Land, in dem Milch und Honig flossen, wie uns die Bibel lehrt. Dieses Heimatland der Juden war Palästina, von Arabern bewohnt und von den Briten verwaltet, dem immer noch mächtigsten Empire der Welt. Junge Juden und Jüdinnen wollten dorthin auswandern und einen jüdischen Staat gründen, und wie in allen jüdischen Gemeinden gab es auch in Będzin Jugendklubs und Organisationen jeder politischen Couleur. Hendla hatte sich einer solchen Gruppe angeschlossen, die Gordonia hieß. Auch Nathan war dort Mitglied. Sie trugen blaue Schals mit einem besonderen Ring, sprachen über Palästina und lernten Hebräisch. Es hieß, man brauche ein Jahr Vorbereitung, bevor es losgehen konnte, und diese Zeit der Vorbereitung wurde Hachschara genannt. Die eigentliche Emigration, die Tausende Juden inzwischen nach Palästina geführt hatte, wurde Alijah genannt. Aber Landwirtschaft? In der Wüste? Meine Eltern waren nicht sehr begeistert, außerdem fürchteten sie wohl, Hendla würde zu viel Kontakt mit Nicht-Juden haben, nicht koscheres Essen zu sich nehmen und womöglich schwanger werden. Ich verstand ihre Bedenken nicht, schließlich hatte ich Hendla noch nie mit einem Jungen gesehen, vielleicht weil ich zu jung für den Jugendklub war. Und im Übrigen spielte Hendla nicht Fußball – oh Wunder! Wir waren einfach nicht auf derselben Wellenlänge. Hendla bekam nie die Chance, nach Palästina zu gehen, obwohl mein Vater immer wieder mit dem Rabbi darüber sprach.

      So sah also meine Kindheit aus. Będzin hatte natürlich seine eigenen Probleme. Wenn man die Lokalzeitungen aus den Dreißigerjahren liest, spürt man die Spannungen: Streitigkeiten bei der Generalversammlung der Talmud Thora; Menschen, die sich gegenseitig als Schurken bezeichnen und mit Fäusten drohen. Sogar auf dem Gelände der Synagoge gab es Schlägereien. Ein Kommentar in der Zeitung lautet: „Wir brauchen Frieden in unserer Stadt.“

      Aber ich war erst zwölf Jahre alt und wusste von alldem nichts. Für mich standen Fußball und der Schulgarten und der Geruch nach Pferdedung in Nummer 77 im Vordergrund, Herr Rojeckis zitternde kleine Hunde und das Gurren der Tauben. Und ich genoss die Zeit auf heiligem Boden, in Wodzisław Śląski, wo die Familie meiner Mutter lebte. Die Kiefern, den Fluss, das Brot, den Käse. Den Garten Eden.

      Aber da gab es noch einen anderen, der eine Idee vom Garten Eden hatte. Ein bayerischer Ex-Gefreiter, der sich kurz nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland einer rechten Organisation angeschlossen hatte. Das einzige Problem bestand darin, dass er seinen Garten Eden in einem anderen Land errichten wollte.

      In meinem Land.

      2

      Eine Welt wird auf den Kopf gestellt

      Ich feiere meinen Geburtstag nicht mehr. Schon lange nicht mehr. Genauer gesagt, seit dem 1. September 1939, denn an diesem Tag marschierten die Deutschen in Polen ein. Ich weiß nicht, ob ich an diesem Geburtstag noch Geschenke bekam, vermutlich schon. Es waren schwierige Zeiten, aber meine Mutter war daran gewöhnt, mit der Familienkasse zu jonglieren, und meine Eltern hätten mich nie enttäuscht. Es war ein Freitag, ein warmer Spätsommertag, und der Himmel über Będzin war wolkenlos. Die Schule hatte nach den Sommerferien noch nicht wieder begonnen, erst am Montag würde es so weit sein. Und so spielte ich mit meinen Freunden auf der Straße. Wer dabei war, weiß ich nicht mehr genau, aber vermutlich Yitzhak Wesleman, Jurel und die drei Gutsek-Jungen. Einer von uns hatte sicher einen Fußball dabei. Irgendeiner hatte immer einen Fußball dabei. Aber an diesem Tag war alles anders.

      Es lag nicht daran, dass ich dreizehn Jahre alt geworden war, wir hatten noch keine Vorstellung davon, Teenager zu sein. Es hatte nichts mit uns zu tun, und doch waren wir darin gefangen. Etwas ging unten in den großen Kasernen vor sich, gleich beim Bahnhof. Leute eilten dorthin, rannten zu zweit oder zu dritt die Straße entlang, murmelten vor sich hin und machten ernste, erregte Gesichter. Wir folgten ihnen.

      Ich habe immer gern Soldaten beobachtet, bevor Soldaten für mich auf einmal etwas ganz anderes bedeuteten. Unser Ortsregiment war die 23. Leichte Artillerie, die wie der größte Teil der polnischen Armee noch beritten war. Wir Jungen sahen bei den Paraden auf dem Hauptplatz zu, wenn die glänzenden Stiefel aufs Pflaster schlugen, betrachteten die kakifarbenen Uniformen mit den grünen Schulterklappen und den glänzenden Knöpfen und Abzeichen. Von Zeit zu Zeit verließen sie die Stadt, um Manöver durchzuführen. Dann zogen die Pferde die lackierten Kanonen, und die Räder ratterten über die Steine.

      An diesem Tag jedoch war es anders. Nichts war auf Hochglanz poliert, und selbst ein Dreizehnjähriger erkannte die Verzweiflung und Panik. Allerdings sahen wir nicht viel, weil so viele Zuschauer gekommen waren. Wir fragten ein paar Erwachsene, was eigentlich los war, warum dieser Aufruhr? Wir hatten doch schon so oft zugesehen, wenn die Soldaten ins Manöver gezogen waren. Kriegsspiele. Das machten Soldaten eben. Ich erinnere mich bis heute an die Antworten. Ein Mann drehte sich zu uns um und schaute uns mit all der schrecklichen Erfahrung eines langen Lebens an. Er sagte uns, die Deutschen seien einmarschiert. Wir sahen uns verständnislos an. Er versuchte es noch einmal, sagte, jetzt sei Krieg. Keine Reaktion. Er zuckte mit den Schultern und gab es auf. Vermutlich murmelte er eine böse Bemerkung über die Jugend von heute, wie es so viele Generationen schon getan hatten.

      Ich blieb wohl bis zum Vormittag dort und beobachtete das Kommen und Gehen, hörte dem Knarzen der ledernen Stiefel zu, dem Schnauben und Wiehern der Pferde, dem Rasseln von Stahl und den gebrüllten Kommandos. Kurz vor Mittag öffneten sich die riesigen Kasernentore, und das Regiment marschierte hinaus. Keine Kapelle, keine Fahnen. Ein paar Leute in der Zuschauermenge jubelten den Soldaten zu, klatschten und winkten. Die Soldaten jedoch sahen ernst und konzentriert aus und starrten nur geradeaus.

      Wir beobachteten, wie die Letzten