Eine ganze Welt. Goldie Goldbloom

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Название Eine ganze Welt
Автор произведения Goldie Goldbloom
Жанр Контркультура
Серия
Издательство Контркультура
Год выпуска 0
isbn 9783455010091



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zu heben, um sie zu füttern, würde er ihr helfen. Danach, wenn sie in ihrem zerwühlten Bett läge, das nach saurer Milch und ungewaschener Wäsche röche, würde sie hören, wie er den Babys, eins auf jedem Arm, im vorderen Zimmer leise ein Schlaflied vorsänge, um sie nicht zu stören. War es seine Begeisterung für Babys, die ihr den Mund verschloss, seine Unfähigkeit, die langfristigen Folgen zu sehen? Das Glück, das ihn, wie sie wusste, erfüllen würde, während sie noch nicht einmal einen Anflug von Freude verspürte?

      Ihre Enkelinnen, die wegen der Hochzeit nicht in die Schule mussten, rannten die Treppe herauf, jede wunderschön, glänzende goldene Pfirsiche, und sie trocknete sich die Hände und zog sie an sich. »Meine Süßen, meine kleinen Lämmchen, kommt, Bubbie macht euch einen schönen heißen Kakao. Und Zeyde hat auch was für euch.«

      Die Mädchen gingen in eine Cheder, die einen Block Richtung Fluss in der Division Avenue lag. Den ganzen Tag lang konnte sie die Schulglocken läuten hören, die Stimmen Hunderter singender Mädchen, ihr Geplapper, wenn sie sich nach der Schule für den Bus anstellten. Ihre Enkelinnen mussten nur über die Wythe gehen, um nach Hause zu kommen. Aber sie verstand nicht, warum Tzila Ruchel sie in eine so strenge Schule schicken musste. Erwartete ihre Tochter Lob dafür, dass sie von allen in der Familie die Frömmste war? Oder wollte sie so der Gemeinde signalisieren, dass Tzila Ruchels Familie nicht wirklich mit dem armen Lipa verbunden war, wollte sie sich von ihm distanzieren? Suries vier Töchter waren alle in die alte Cheder in der Marcy Avenue, Ecke Keap Street gegangen, und das war gut genug gewesen.

      Sie öffnete den Kühlschrank und nahm die Milch heraus. Tzila Ruchel hatte mit dreißig gerade ihr siebtes Kind bekommen und brauchte nachmittags Hilfe, die ihr Surie normalerweise nur allzu gern zuteilwerden ließ. Sie entfernte die Metallfolie von der Flasche und goss Milch in einen Topf. Sie zog die Arme der Mädchen aus ihren Regenmänteln und hängte die tropfenden Mäntel an die Nägel über dem Fenster. Die Kinder freuten sich lautstark über die Kekse und drängten sich in der kleinen Küche an sie, und sie fuhr ihnen über den Kopf und küsste sie auf die Wange. Solche Schätzchen.

      »Wusstet ihr«, sagte sie, »dass Rabbi Schimon ben Schetach achtzig Hexen auf einmal gefangen hat? Wollt ihr wissen, wie er das gemacht hat?« Die Hexen fraßen Menschen in ihren Höhlen. Auf dem Boden lagen moosbedeckte Schädel. Der Geruch der kochenden Milch ließ Surie würgen. Die Mädchen würden sich für ihre alte schwangere Großmutter schämen. Sie schämte sich für sich selbst, für ihren heimtückischen Körper. Sobald sie es wüsste, würde Tzila Ruchel, diese Mefinekes, ihre Töchter nach der Schule nicht mehr zu Surie schicken. Auch wenn diese Frömmlerin sie wundersamerweise doch zu ihr kommen lassen würde, wäre die Wohnung ihrer Großmutter kein friedlicher Zufluchtsort mehr. Hungrige Babys würden schreien.

      »Euer Feter Lipa hat die Geschichte von Schimon ben Schetach und den Hexen geliebt.«

      Die kleinen Mädchen hatten von den neuen Kleidern geschwärmt, die sie zur Schewa brachot an diesem Abend anziehen würden, doch jetzt sahen sie Surie stirnrunzelnd an. Sie kannten die Namen aller ihrer Onkel. Wer war dieser Fremde, dieser Lipa?

      Lipa stand neben der Uhr ihrer Mutter; die Hand auf dem Firmenschild aus Elfenbein, drehte er die Zeiger vor und zurück, die Konturen seines Körpers bewegten sich wie ein Vorhang im Wind, bauschten und verdrehten sich und fielen in sich zusammen. Er stand schon seit ein paar Minuten dort, ohne zu sprechen. Er war es auch gewesen, der vor dem Krankenhaus gestanden hatte. Sie sah ihn einen Augenblick an, ihr Herz schlug schneller und schneller. Langsam hob er den Blick zu ihr.

      »Euer Onkel …«, sagte sie. »Er war da. Aber jetzt ist er nicht mehr da.«

      Die Mädchen lächelten sie unsicher an und wandten ihre Aufmerksamkeit den Schiffen zu, die Yidel aus der Zeitung für sie faltete. Rabbi Schimon ben Schetach und die Hexen waren ihnen gleichgültig, und sie dachten, dass ihre Großmutter sich mit diesem Onkel vielleicht über sie lustig machte. Ihnen war nicht aufgefallen, dass ihre Bubbie so breit war wie ein kleines Auto. Die Tatsachen des Lebens waren ihnen noch fremd. Der Regen prasselte gegen das Fenster, als würden kleine Kieselsteine auf das Glas treffen.

      »Wir können hinuntergehen und sie auf der Straße schwimmen lassen«, schlug Yidel vor. Er warf Surie einen fragenden Blick zu. Sie hielt sich an der Tischkante fest. Ihre Finger waren weiß, aber Lipa stand nicht mehr neben der Uhr. »Geht und fragt eure Mutter. Aber weckt sie nicht, wenn sie schläft.«

      Am Abend zuvor waren sie alle lange aufgeblieben. Die frisch verheiratete Gitty war beim Essen ihr zu Ehren mit offenem Mund eingeschlafen, und Tzila Ruchel war rasch aufgestanden und hatte sie an der Schulter gerüttelt.

      Die Kinder zogen die nassen Regenmäntel an und rannten schreiend und kreischend die Treppe hinunter. Yidels Vater und Mutter, beide blind, lebten im ersten Stock. In den fünfziger und sechziger Jahren war der dritte Stock vermietet gewesen, doch nach ihrer Heirat war Tzila Ruchel dort eingezogen. Surie hatte seit dem Tag ihrer Hochzeit im zweiten Stock gewohnt. Dann hatte sie mit Tzila Ruchel die Wohnung getauscht, damit ihre Tochter den schweren Kinderwagen nicht drei Stockwerke hinaufziehen musste. Doch in ihrem Alter wäre Surie nicht mehr in der Lage, einen Kinderwagen die Treppe hinaufzuzerren, und Yidel sollte es auch nicht tun, obwohl er nichts dagegen hätte. Würden sie noch einmal tauschen müssen? Sie wollte nicht in die alte Wohnung zurück. Sie liebte die Aussicht vom dritten Stock auf den Fluss und die Brücke. Sie hoffte, dass sich etwas verändern würde. Dass die zwei neuen Babys irgendwie nicht in ihre gezeichnete Familie kommen würden. Die Hebamme hatte so etwas angedeutet. Siebenundfünfzig Prozent der Frauen, die älter waren als fünfundvierzig, hatten eine Fehlgeburt. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie war nicht gerade erfreut über die Zwillinge, aber sie wollte sie auch nicht verlieren. Eine Seele war ein kostbares Ding.

      Aber was, wenn die Babys mit Downsyndrom geboren würden? Jüngere Frauen als sie ließen ihre kränklichen Babys lieber in der Klinik, statt sie nach Hause zu bringen. Sie konnte es ihnen nicht übelnehmen. Die meisten dieser Mütter waren alt und hatten zehn, zwölf oder fünfzehn Kinder. Sie hatten einfach keine Kraft mehr, ein behindertes Kind aufzuziehen. Aber wie vereinbarten sie das mit der Kostbarkeit der Seele? Wie würde sie selbst es vereinbaren, wenn es so weit käme?

      Während des Termins vor zwei Tagen hatte Val vergessen, dass Surie im selben Haus wie die Familie ihrer Tochter und ihre Schwiegereltern lebte. »Wo Schwiegereltern sinnlos walten, empfiehlt es sich, den Mund zu halten«, hatte die Hebamme, die keine weibliche Frau war, gesagt, heiser und laut gelacht und dann die riesige Hand vor den Mund gehoben. »Entschuldigung«, sagte sie. »Ich mache mich lächerlich.« Surie hatte gedacht, dass es vielleicht besser wäre, über Cousins zu sprechen.

      »Meine Cousins waren über die Feiertage da«, sagte sie vorsichtig. Sie wollte nicht, dass die Leute sie für dumm hielten oder glaubten, sie könne einer Unterhaltung auf Englisch nicht folgen, obwohl sie es oft tatsächlich nicht konnte. Manche Gäste waren nach Sukkot noch dageblieben für die Hochzeit. »Sie haben in der Laubhütte auf dem Dach geschlafen.« Zwischen den Gebäuden war ein kleiner Lichthof, geschützt von einem schrägen Blechdach, das nur vom Küchenfenster aus zugänglich war. Yidel war trotz seines Alters und der Schwierigkeit des Vorhabens vor den Feiertagen aus dem Fenster geklettert und hatte Bretter daran genagelt, um ein Zimmer daraus zu machen, und immergrüne Äste über die Bambussparren gelegt. Die Cousins brachten Schlafsäcke mit und sagten, sie würden dort schlafen. Es war einfacher, als nach unten zu Tzila Ruchels Laubhütte zu gehen, wann immer sie ein Glas Wasser wollten.

      »Aha«, sagte die Hebamme und rümpfte die Nase. »Bei so vielen Leuten im Haus haben Sie hoffentlich jeden Morgen mindestens eine halbe Stunde gelüftet. Es ist …« Sie ließ den Satz unvollendet.

      An der Wand des Büros trieb ein Baby mit dem Kopf nach unten in einem engen, weißen Gerüst.

      Die Hebamme folgte Suries Blick zu dem Poster. »Das ist im neunten Monat«, sagte sie. »Erinnern Sie sich? Wenn der Kopf des Babys weit unten im Pelvis ist.« Ihre Gesten waren ausholend und unanständig. Sie anzusehen war schwer. Val tat Surie ein bisschen leid, weil sie annahm, dass sie ihr Leben lang die Zielscheibe unfreundlicher Witze gewesen war.

      Surie hatte nie ein Bild vom Inneren ihres Körpers gesehen. Ihrer Knochen. Ihrer Geschlechtsteile.