AUFRECHT IN BERLIN. K.R.G. Hoffmann

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Название AUFRECHT IN BERLIN
Автор произведения K.R.G. Hoffmann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783748262367



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Zeit wie eine Ewigkeit erscheinen. Als sie fast das andere Ufer erreicht hatten, landete der Offizier bei dem Versuch, springend an Land zu kommen, mit den Stiefeln im Wasser. Er drehte sich um und zog den Kahn mit Kraft etwas auf die Böschung. Schnell waren sie vom Kahn heruntergesprungen und alle warfen sich platt auf den Boden, schräg in die Böschung. Im Gras liegend sagte der Offizier:

      „Danke Kameraden! Wohin wollt ihr denn weiter?“

      „Wir bleiben in Britz, sind hier zuhause“, antworte Opa Rudolf.

      „Ich will nach Klein-Machnow. Werde Britz umgehen, bin übrigens von Pappeln, Sturmbannführer, sage das, falls die Familie nach meinem Verbleib suchen muss.“

      „Na denn, Heil Hitler, Herr Sturmbannführer!“

      „Lassen Sie mal, der ist tot!“, und als er merkte, dass das für Egon und Opa Rudolf neu war, fügte er hinzu:

      „Vorgestern in der Reichskanzlei gefallen!“

      Opa Rudolf erinnerte sich an den Russen „Ittler kaputt!“, der ihn beinahe erschossen hätte.

      Auf der Uferkrone gaben sich alle die Hand und rannten dann gebückt in entgegengesetzte Richtungen davon.

      Ortskundig wie sie waren, kamen sie an die rückwärtige Häuserzeile der Chausseestraße heran, ohne bemerkt zu werden. Ihr Standort war jetzt nur etwa hundert Meter von Opa Rudolfs Laden entfernt. Sie gingen vor zur Straße, weil diese irgendwann zumindest von Egon überquert werden musste, um in seine Wohnung in der Hufeisensiedlung zu gelangen. Momentan bot sich die Überquerung aber auch für Opa Rudolf an. Zwischen den Trümmern auf der gegenüberliegenden Straßenseite war weniger mit Russen zu rechnen. Die hielt es wegen der Übersichtlichkeit auf der Straße. Dicht an den Trümmern entlang laufend kamen sie Opa Rudolfs Laden näher. Akkordeonspiel und trunkener Gesang russischer Soldaten kamen aus der angepeilten Zielrichtung der beiden. Dann sah Opa Rudolf die Ladenzeile. Vielleicht fünfzig Meter entfernt standen sie schräg gegenüber auf der anderen Straßenseite in den Trümmern einer Hausruine. Keines der Geschäfte hatte Scheiben in den ehemaligen, bis zum Bodensockel reichenden Schaufenstern. In seinem Laden oder, besser gesagt, in dem, was noch von ihm übrig war, dienten die ehemaligen Schaufenster als Ein- und Ausgänge. Die zwischen den Schaufenstern im 45°- Winkel zueinander stehenden zwei Ladentüren waren in ihren Rahmen eingeklinkt, aber ihre oberen Hälften hatte keine Verglasung mehr. Die schönen schmiedeeisernen Gitter waren noch in ihren Fassungen. Russen taumelten durch die Schaufensteröffnungen von einem in den anderen Laden. Mehrmals kamen sie kurz heraus auf die Straße, ballerten aus ihren Trommelgewehren in die Luft und torkelten wieder hinein. Das machten sie anscheinend zum Refrain eines immer gleichtönend gesungenen Liedes.

      „Keen Wunder, dass die da saufen. Ham die janzen Vorräte von Spiritosen-Meier jefundn“, flüsterte Egon.

      Zwischen ihnen und der Ladenzeile standen ein Lastwagen und ein russischer Schützenpanzerwagen, dazwischen eine Gruppe rauchender, sich unterhaltender Russen mit dem Rücken zu ihnen. Diese waren aber so mit sich beschäftigt, dass Egon und Opa Rudolf ihre Position nicht zu wechseln brauchten. Weiter voran kamen sie aber auch nicht. Nur wenn sich einer aus der Gruppe umdrehen und in ihre Richtung kommen sollte, wären sie entdeckt worden. Auf einem Motorrad kam ein russischer Soldat angefahren und hielt bei der Gruppe. Der Fahrer breitete eine Karte auf dem Tank seines Krades aus, die er aus seiner Umhängetasche gezogen hatte. Dann kam Bewegung in die Truppe. Kommandos wurden gerufen, und die Russen stolperten mit ihrer Bewaffnung aus den Schaufenstern.

      Motoren sprangen an, die Soldaten verschwanden in und auf den Fahrzeugen und fuhren in Richtung Chaussee-Übergang weg. Eispickel und Opa Rudolf verabschiedeten sich voneinander und verabredeten, so bald wie möglich miteinander Kontakt aufzunehmen.

      Jetzt hielt es Opa-Rudolf nicht länger im Hausflurversteck. Die mit einem Schlag von Russen leergefegte Straße wollte er nutzen, um die letzten dreihundert Meter bis zur Wohnung zurückzulegen. Der Anblick seines Wohnhauses und der Umgebung war recht traurig. Doch im Gegensatz zu den Zerstörungen, die er in den letzten Tagen unterwegs gesehen hatte, hätte seine Umgebung auch schlimmer verwüstet sein können.

      Als er schon die große Kreuzung vor seinem Haus überquert hatte, fuhren im dämmrigen Morgenlicht zwei russische Soldaten vorbei, die sich mühten, auf einem Fahrrad voranzukommen. Sie kümmerten sich jedoch nicht weiter um ihn. Das war sein Glück und sein letzter Schreck vor dem Feind.

      Er hangelte sich an der in der Luft wedelnden Haustür vorbei und ging die Stufen hinauf. Im ersten Stock hielt er inne, denn aus der Wohnung vernahm er russische Wortfetzen. Dann, in der zweiten Etage, vor seiner Wohnungstür stehend, holte er tief Luft. Er sammelte sich, auf alles gefasst, in alter Vorsicht die Hand in der Manteltasche die Pistole umklammernd und klopfte als Erkennungszeichen:

      „da-dada-da!“

      Der Hausflur war dunkel, er hörte die klickende Bewegung des Türspions, aber der gab in der Dunkelheit dem suchenden Auge keine Information.

      „Wer ist da?“, hörte er Horst flüstern.

      „Vater!“

      Hinter der Tür wurde geräumt, denn das Türblatt war verkeilt, weil das dem Schloss gegenüberliegende Führungsblech aus dem Rahmen gebrochen war. Eine vorgeschobene Anrichte bildete die letzte Barriere. Die Tür ging einen Spalt auf, und Opa Rudolf zwängte sich schnell durch. Horst hing an seinem Hals. Auf dem Flur standen in freudiger Erwartung Else und Margot. Die Tränen des Glücks über das Wiedersehen flossen nur so.

      Bei Kerzenlicht in der Küche, das Fenster ohne Scheiben, nur mit einer Decke verhangen, brachten sie sich auf den aktuellen Stand des Geschehenen. Opa fragte die Frauen:

      „Seid ihr auch…“

      „Ja, Rudi, beide – einmal - am 24. April, in der Wohnung vom Zahnarzt!“

      „Diese Schweine. So etwas macht kein deutscher Soldat, wenn doch, steht er an der Wand! Und Horst, wo warst du?“

      „Lass mal, Horst konnte gar nichts machen. Wäre er auch bloß aufgestanden, hätten sie ihn erschossen! Die, die uns 'rausgeholt haben, waren Soldaten auf Befehl für ihre Offiziere.“

      „Papa, ich kann das nicht vergessen. Hoffentlich bekomme ich meine Regel. Karl werde ich nichts erzählen.“

      „Lasst uns nicht weiter darüber sprechen. Hoffentlich wiederholen sich diese Sauereien nicht!“

      „Und überhaupt, ich weiß nicht, wie das alles weitergehen soll“, meinte Else.

      Burschikos lenkte Opa Rudolf ab:

      „Na, mir kannste erst mal Badewasser anheizen. Von allen Uniformteilen, die ich anhabe und die sich in der Wohnung befinden, werden erstmal die Knöpfe und Schnallen abgeschnitten. Alles wird so klein gerissen, dass es in den Kesselofen passt. Margot und Horst, ihr helft der Mutter!“

      Die Tischgesellschaft löste sich auf und fand sich kurz darauf wieder ein. Opa Rudolf, im Bademantel, trug die dreckigen Armeeklamotten zusammen mit den aus dem Ankleideschrank stammenden Uniformteilen und lud sie auf dem Küchentisch ab. Margot befummelte sie und schnitt jedem Teil Knöpfe und Schnallen ab. Horst zerlegte, schnitt und riss die Stoffe in ofengerechte Fetzen. Während sie da so Hand zu Hand werkelten, hatte Roland den Thron eingenommen – er saß auf Opa Rudolfs Schoß. Else holte einen nach dem anderen der aufbereiteten Packen für die Ofenbeschickung ab. Zusammen mit etwas Papier qualmte die Ofenfüllung so vor sich hin. Deutsches Linnen und deutsche Wolle gaben ihr Bestes, das Wasser im Badeofen kam langsam auf Temperatur. Dann lag Opa Rudolf im warmen Wasser der Badewanne, an deren Rand sich Roland festhielt. Dank neu eingelegter Klinge gelang es in unblutiger Rasur, die tagelang gewucherten Stoppeln zu entfernen. Rolands Gesicht, beim Zuschauen vom schaumigen Pinsel quer erwischt, ließ ihn glücklich quietschen. Margot bereitete aus Opa Rudolfs letzten zwei mitgebrachten Verpflegungsrationen für alle ein kleines Mahl. Dafür lohnte es sich, am Tisch im Esszimmer einzudecken. Mit Ausnahme Rolands waren sich alle der Besonderheit bewusst, gemeinsam in solch einer Tafelrunde zu sitzen. Und dennoch, etwas war anders.

      Der Kampfdonner war weg! Nur ab und zu war mal ein entfernter Knall zu hören,