Название | AUFRECHT IN BERLIN |
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Автор произведения | K.R.G. Hoffmann |
Жанр | Биографии и Мемуары |
Серия | |
Издательство | Биографии и Мемуары |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783748262367 |
Mit dem 16. Januar 1943, als Margot die voraussichtliche Geburt schon an ihren Fingern abzählen konnte, steigerten die Alliierten ihre Luftangriffe zu einem ständigen Bombardement. Der Bus fuhr verdunkelt die Adressen der Schwangeren und der Frauen mit Babys ab. Margot platzierte sich nach Möglichkeit neben einer der Türen. Ängstlich den schützenden Bunker herbeisehnend, dachte sie:
„Ach mein Baby, was für ein Leben wartet bloß auf dich, ich hätte dir eine bessere Zeit gewünscht.“
Von alldem wusste Roland nichts. Im Leib seiner Mutter, der dunklen, wärmenden und nährenden Höhle geborgen, muss es wohl wie eine Liebkosung gewirkt haben, wenn sie ihre Hände auf ihren schwellenden Bauch legte. Er ahnte nicht, dass er in diesen Tagen in ständiger Lebensgefahr schwebte. Er wusste nicht, dass er das Glück haben würde, nicht zu denen zu gehören, die ungeboren in den Leibern ihrer Mütter unter den Trümmern eines zerbombten Hauses ums Leben kamen. Am Tag von Rolands Geburt wurde kein Fliegeralarm ausgelöst.
Mit über 75 Jahren Abstand und erlebnisreicher Zeit in den Knochen konstatiert Roland, eine privilegierte Geburt gehabt zu haben. Gesund, männlich, weiß, und als Deutscher kam er in Berlin am 27. Januar 1943 abends gegen 19: 00 Uhr als ehelicher Sohn des Karl zur Welt. Vom Chefarzt der Hubammenlehranstalt in Berlin-Neukölln ist der Ausspruch überliefert:
„Jetzt habe ich doch noch meinen Kaisersohn bekommen.“
Womöglich dank eines Monarchisten, dem der Geburtstag des letzten deutschen Kaisers Wilhelm II. in erfreulicher Erinnerung war, denn am 27. Januar, zu Kaisers-Geburtstag, bekamen die Kinder schulfrei.
„Hauptsache gesund“ - dieser Gedanke spiegelte während der Schwangerschaft damals den sehnlichsten Wunsch seiner Erzeuger wider. Sogar die Frage nach dem gewünschten Geschlecht trat dahinter zurück. Verdrängt war sie aber damit nicht. Das Mysterium der göttlichen Fügung der Geschlechtsbestimmung vermochte auch keine Wahrsagung vorzeitig zu lüften, denn auch die besten unter den "Sehern" kamen über 50 % Treffsicherheit nicht hinaus. Der Ausspruch „Hauptsache gesund“ wurde im allgemeinen Sprachgebrauch zur Floskel. Das darin versteckte Klischee von der Gleichwertigkeit der Geschlechter spielte allenfalls beim humanistisch gebildeten Bürgertum eine Rolle. Vorrangig, so hat Roland aus dem Verhalten aller Beteiligten zu später in seinem Familienverbund erfolgten Geburten geschlussfolgert, hatte allerdings auch bei seiner Geburt der Wunsch nach einem Männchen vor dem eines Weibchens gestanden.
De facto mit dem allerletzten Flutsch des wohl schon als Erleichterung von seiner Mutter wahrgenommenen Schlüpfens, Kopf und Schulter waren unter Schmerzen bereits zum Vorschein gekommen, wurde das Geheimnis gelüftet. Die untere Ausprägung war dann für die Akteure seiner Zeugung die Krönung des Glücks.
"Ein gesunder Junge!", vernahm Margot im Abklingen der Schmerzen. „Gesund“ umfasst mehr als man sieht. Neben der optischen und funktionalen Gesundheit ist es eine Summe nicht sichtbarer genetischer Gaben, Veranlagungen und Eigenheiten. So betrachtet blieb es der späteren Sozialisation überlassen, wie sich die 3.700 Gramm Mensch entfalten würden. Für diese Entwicklung wurde ihm durch Taufe der christliche Segen der evangelischen Kirche zuteil.
"Weiß und als Deutscher" klingt nur bei oberflächlicher Betrachtung wie eine Abwertung gegenüber nicht-weiß und nicht-deutsch. Die Welt ist aber wie sie ist und in ihren unterschiedlichen gesellschaftlichen Strukturen weit von praktizierter Gleichheit entfernt. Die Roland zufällig zuteil gewordenen Attribute weiß und deutsch haben ihm, unter Einbeziehung seiner globalen Bewegungsfreiheit, Vorteile geboten.
Mit dem Hinweis, Berliner zu sein, verhält es sich ähnlich. Wohl niemand wird eine Minderwertigkeit daraus konstruieren, nicht in Berlin geboren zu sein. Berliner zu sein, ordnete ihn als Preuße zu den deutschen Stämmen. „Berlinere nicht, sprich anständig!“, war das Kredo aller Eltern. Das schnodderige, gleichwohl treffliche Mundwerk, welches im Schmelztiegel einer überwiegend osteuropäisch geprägten Einwanderungsmetropole entstanden war, gab einer deutschen Spezies das Brandding. Den Berliner Dialekt pflegte Roland kultiviert, als landsmannschaftliche Eigenart über Stadt- und Landesgrenzen hinweg. So wurde er allerorten verbal-geographisch fixiert und mit der nicht aufgesetzten Authentizität neugierig willkommen geheißen - auch in Bayern.
Jeder Anfang hat auch ein Ende, doch da gibt es noch die These von der Reinkarnation. Danach lebt unsere Seele nicht nur ein einziges Mal. Sie hat schon wiederholt hier auf Erden gelebt. Die Vorstellung, jeweils nach dem nächsten Tod nach kürzerer oder längerer Zeit neuerlich reinkarniert zu werden, weckte Rolands Interesse in eigener Sache, nach dem kleinen gemeinsamen Nenner zwischen materialistischer und immaterieller Sichtweise seiner seelischen Vorleben zu suchen. Bei allem guten Willen gehörte er zu der Gruppe von Neugierigen, denen sich vorangegangene „Runden“ nicht erschlossen haben. So war ihm der Gedanke tröstlich, Nachvollziehbares wäre auch nicht zu erwarten gewesen. Nur die überzeugten und von Zweifeln freien Fundamentalisten unter den Reinkarnationsgläubigen gehen davon aus, dass persönlichbiographisches Wissen reinkarniert wird. Für die Materialisten ist die Seele sowieso nicht existent. Den Glauben an die Reinkarnation lehnen sie schon deswegen ab, weil Wissen und Erfahrungen, die in einem Gehirn stecken, nur durch ein anderes Informationsmedium, zum Beispiel einem Buch oder in medialen Netzwerken, weitergegeben werden können.
Gesetzt den Fall, an der Reinkarnation ist doch etwas dran, hätte Roland sich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gewünscht, in einer Endlosschleife zu schweben, immer wieder gleich geschaffen – gesund, männlich, weiß, und als Deutscher aus Berlin.
Als er zur Welt kam, war die 6. Armee in Stalingrad eingekesselt. Anfang Februar 1943 hat sie sich den Sowjets ergeben. Die Vernichtung der deutschen 6. Armee mit rund 250.000 Soldaten war ein psychologischer Wendepunkt in der Betrachtung des Krieges. Der Endsieg wurde nun von so manchem Volksgenossen mit einem Fragezeichen versehen.
Roland wurde aus der warmen Milchflasche und an Mutter Margots Brust gestillt. Wie oft in Folge einfliegender Bomberverbände seinem saugenden Mund Mutters Brust abrupt wegflutschte, konnte er nicht erinnern. Voralarm, Alarm, Vollalarm, Entwarnung, durch Radio und über Sirenen intoniert, bestimmten seine Nahrungsaufnahme. Das wahre Glück - Bettchen wechsle dich, aus dem einen raus, in das andere rein - war es wohl nicht gewesen. Typisch Berlin, kam den Zugeteilten der Kellergemeinschaft sarkastisch über die Lippen:
„Arsch noch nicht warm – Luftalarm!,“ wenn sie im Keller ihre Plätze einnahmen. Roland blieb die Erinnerung, dass er im Hausluftschutzkeller, in dem sein Gitterbettchen stand, mit dem Hausmädchen der Zahnarztfamilie mit Knöpfen gespielt hat. So hat man es ihm auch später erzählt.
Nach der Entbindung nahm Mutter Margot die Fahrten zum Bunker nicht mehr in Anspruch. Die Strecke in Richtung Innenstadt war durch Fliegerangriffe zu unsicher geworden. Die Familie wollte zusammenbleiben.
Die Trefferquote der Bombardements in Berlin war in Britz glücklicherweise überschaubar. Lediglich ein Haus in fünfhundert Meter Entfernung von Rolands Wohnhaus ist 1944 durch eine Sprengbombe zerstört worden.
Die amerikanischen Air Force war am 3. Februar 1945 mit mehr als tausend B-17- Bombern über der Stadt.
„Jetzt hat es unser Haus erwischt“, musste Margot denken, als bei einem Krachen die Kellerinsassen erschrocken kurz aufschrien. Von Ruhe gefolgt, wurden Schaden und unmittelbare Gefahr durch Hören eingeschätzt. Auf den obersten Kellerstufen, unterhalb der mit Eisen verkleideten Kellertür, saß der Luftschutzwart, ein Kriegs-Veteran aus dem I. Weltkrieg. Er riss die Tür auf:
„Horst, nimm die Picke und komm!“
Der Brandschutz-Trupp saß im Keller getrennt, zwei Mann am Eingang und zwei weitere am „Durchbruch“. Das war für den Fall der Verschüttung eine in den Brandmauern zum Nachbarkeller vorgesehene dünnwandige Stelle. Mit Stangen und Schaufeln in den Händen liefen alle fünf nach oben hinaus. Der Schaden: Eine Brandbombe hatte das Dach durchbrochen. Ein kleiner Dachteil war offen, die Dachziegel lagen zu ihren Füßen, und Phosphor brannte auf den Fußbodenbrettern an mehreren Stellen. Bevor der Dachstuhl hätte aufgegeben werden müssen, wurde mit Sand aus einer bereit stehenden Kiste gelöscht. Das Loch wurde so gut es ging mit einer Plane abgedeckt.