Darum in die Ferne schweifen. Werner Stilz

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Название Darum in die Ferne schweifen
Автор произведения Werner Stilz
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783947694099



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war strikt gegen diesen Regierungswechsel.

      Doch zurück in die frühen Siebziger: Der Besuch beim Dreikönigstreffen war auch deshalb stets etwas Besonderes, weil dort ein gewisser Helmut Palmer, der Remstal-Rebell, seinen großen Auftritt hatte. Schon vor der Tür hatte er sich mit Plakaten und Sprüchen positioniert, so dass ihn niemand übersehen konnte. Im Saal dann, wenn die hohen Herren ihre Reden schwangen, kamen Helmut Palmers lautstarke Zwischenrufe, mit Ausdrücken, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrigließen. Palmer war ein Weltverbesserer und ein Sturkopf, der sich gern die Beamtenschaft und überhaupt die Obrigkeit vorknöpfte. Er ließ sich von niemand etwas sagen. Unzählige Male kandidierte er bei Bürgermeister- und Oberbürgermeister-Wahlen sowie für ein Bundestags- oder Landtagsmandat. Es war immer vergeblich, und es kostete ihn ein kleines Vermögen, das er sich als Obsthändler durch großen Fleiß verdient hatte. (Sein Sohn Boris war später erfolgreicher: Er wurde Oberbürgermeister in Tübingen – und dabei mindestens so eigensinnig wie sein Vater.)

      Vom überzeugten FDP-Wähler wurde ich zum Sympathisanten der SPD. Nachdem die Grünen sich inzwischen zu einer eher bürgerlichen Partei wandelten, kann es heutzutage sogar vorkommen, dass ich jetzt bei ihnen mein Kreuzchen mache.

      Mein Vater wählte stets die CDU, meine Mutter machte es ihm nach. Politische Diskussionen mit meinem Vater waren in keiner Weise zielführend und endeten meist im Streit. Die »Sozis« zum Beispiel waren ihm ein Gräuel, obwohl er doch selbst als einfacher Arbeiter aus diesem Milieu kommt. Dagegen kam aus seinem Munde nie Kritik an den Verbrechen der Nationalsozialisten, obwohl er im Krieg und in der Gefangenschaft selbst viel erleiden musste. Im Elternhaus versuchte ich politische Themen möglichst zu meiden.

      Bis heute bedrückt mich der Gedanke, dass in den Wochen und Monaten meiner Geburt, im Herbst 1943, die fabrikmäßige Vernichtung von Millionen Juden und anderen Minderheiten in Auschwitz und den vielen anderen Vernichtungslagern ihrem grausamen Höhepunkt entgegensteuerte. Sicher kann man sagen: Ein großer Teil der Deutschen mag nichts gewusst haben von den Gräueltaten der Nazis. Sie trifft keine persönliche Schuld. Die allermeisten Zeitgenossen können sich auf die »Gnade der späten Geburt« (Helmut Kohl) berufen. Aber wir alle tragen eine Mitverantwortung dafür, dass sich solche Ungeheuerlichkeiten nie mehr wiederholen. Wenn man sich die politische Landschaft im Jahr 2020 betrachtet, kann einem angst und bange werden. Daher plädiere ich vehement dafür, dass wir uns gegen das braune Gedankengut von Höcke, Gauland und Genossen mit aller Energie und allen demokratischen Mitteln zur Wehr setzen.

      Parkinson 3

      Was macht Morbi?

      Wenn das Wetter in Deutschland unangenehm wird, ist es an der Zeit, in warme Gefilde aufzubrechen. Ich stehe mit Margret in der Warteschlange für die Handgepäckkontrolle im Stuttgarter Flughafen. Wir wollen nach Teneriffa fliegen.

      »Ich hatte einen Traum«, sage ich zu ihr: »Morbi will nicht mitkommen, er hat Flugangst.«

      Welch ein Wunschdenken! Zu gut wissen wir beide, dass für den Rest meines Lebens Morbus Parkinson keine Sekunde von meiner Seite weichen wird. Da könnte ich noch so weit wegfliegen.

      Im etwas verwinkelten Hotel Jardin Tropical an der Costa Adeje gibt es viele Treppen. Ich achte die ganzen zwölf Tage unseres Aufenthaltes peinlichst darauf, nicht zu stolpern. Das gelingt mir sogar, in dem ich die Geländer zu Hilfe nehme. Allerdings plagt mich Morbi auf eine andere Weise. Wenn wir nach dem Frühstück die Treppe zum Lift hochgehen, lässt er mich schwindelig werden, sobald ich oben angekommen bin.

      Mit dem Touristen-Bus machen wir zwei Fahrten auf der abwechslungsreichen Kanareninsel. Einmal geht es auf die Kraterlandschaft beim Teide, Spaniens höchstem Berg mit 3.718 Metern. Die Straßen dort hinauf sind ziemlich eng und steil. Auf etwa 2.000 Metern beobachten wir den Sonnenuntergang über den Wolken und später in der dunklen Nacht den Sternenhimmel mit unglaublich vielen Sternen. Ein besonderes Erlebnis. Dort oben gibt es keine Lichtverschmutzung. Unsere Reiseleiterin kennt sich gut aus und gibt der Reisegruppe interessante Informationen.

      Die zweite Busfahrt führt ins Anaga-Gebirge, wiederum auf engen, steilen und kurvigen Straßen. Wir haben für drei Tage einen Mietwagen bestellt, doch jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, ob ich auf einer solchen Strecke überhaupt noch fahren kann. Zu meiner Überraschung klappt es aber doch recht gut. Wir schauen uns die Städte Orotava, La Laguna und Santa Cruz ausgiebig an. Vor allem die Hauptstadt Santa Cruz beeindruckt durch schicke neue Gebäude wie der Kongress- und Konzerthalle Auditorio de Teneriffe und dem angrenzenden Schwimmbad Parque Maritima des genialen Architekten Cesar Manrique aus Lanzarote.

      Im hoteleigenen Pool zu schwimmen, probiere ich nach meinen letzten Erfahrungen gar nicht erst aus. Von einem Urlaub so wie vor meiner Erkrankung kann ich nur noch träumen.

      Von meinem Neurologen ließ ich mir bei meinem letzten Besuch eine Verordnung für Reha-Maßnahmen verschreiben. Die Bewilligung der Krankenkasse erfolgte schnell. Jetzt nehme ich im Fitnesscenter, in dem ich 16 Jahre lang bei Geräteübungen und bei der »Best Ager« -Gymnastik mitmachte, an einer dreiviertelstündigen Reha-Gymnastik teil, die genau meinen Bedürfnissen entspricht: Dehnen und strecken, die Balance üben. Diese Gymnastik und zusätzlich der Sport in der Selbsthilfegruppe geben mir Hoffnung, dass ich noch lange beweglich bleibe. Ich bemerke eine leichte Verbesserung beim Gehen und schwanke nicht mehr wie noch vor einem halben Jahr. Das liegt sicher auch daran, dass ich viel bewusster einen Fuß vor den anderen setze, immer auch mit dem Hintergedanken: Du darfst nicht stolpern und fallen.

      Teil III

      Weichenstellungen

       Margret tritt in mein Leben

      Es war purer Zufall: Margret wollte eines Tages im Jahre 1973 meinen Kumpel Georg anrufen, der eine Etage unter mir wohnte. Georg war nicht da, und so wählte sie meine Nummer, damit ich ihm etwas ausrichten kann.

      Im Nachhinein erscheint es mir nicht als Zufall. Es war das Schicksal, das an meine Tür klopfte. Ich musste es nur hereinlassen.

      Margret hatte an der Ski-Freizeit in Saas Almagell ebenfalls teilgenommen, war aber meinen Blicken regelrecht entgangen, da sie ihren Skikurs in einer anderen Gruppe hatte und ich hinter Mechthild her gewesen war. Jetzt plauderten wir eine Weile am Telefon und beschlossen, dass wir uns treffen sollten. Aus einen Treffen wurden mehrere. Wir kamen uns näher. Margret war Kinderkrankenschwester im Olga-Krankenhaus (genannt »Olgäle« ) im Stuttgarter Westen. Sie wohnte im Schwesternwohnheim und hatte dort ein kleines Apartment. Als die zarten Bande stärker wurden, war ich ein häufiger Gast in ihrem gemütlichen Zuhause.

      Margrets Heimatstadt ist Kirchheim/Teck, etwa 35 Kilometer von Stuttgart entfernt. Ihr Vater war ein paar Jahre zuvor an Bronchialkrebs verstorben. Er wurde nur 63 Jahre alt. Mutter Helene war noch sehr rüstig. Sie wohnte in ihrem Zweifamilienhaus zusammen mit der Familie ihrer Tochter Sieglinde. Werner, der Jüngste der drei Geschwister, wohnte mit seiner Verlobten Gerlinde ebenfalls in Kirchheim. Ich verstand mich mit ihnen recht gut. Wir stammten alle aus dem gleichen akademikerfernen Milieu. Margrets Vater hatte wie vor ihm sein Vater das Eisengießer-Handwerk erlernt und war daher während des Kriegs unabkömmlich gestellt. Er war in der Rüstungsindustrie beschäftigt und musste helfen, Waffen für das Nazi-Regime herzustellen. Dabei war er beinahe von Jugend an ein Kommunist. Er hatte Glück, während der Hitlerdiktatur nicht denunziert zu werden, hörte er doch BBC und hielt mit seinen Meinungen nicht zurück. Vermutlich auch wegen seiner kritischen Haltung zum Naziregime wurde er nach dem Krieg in den Polizeidienst übernommen.

      Margret hatte wie ich die Mittelschule besucht und war nach der Mittleren Reife für eine Zeit lang von zu Hause weggegangen. Sie verdingte sich in einem Kinderheim in Wyk auf Föhr, für sie eine ganz neue Erfahrung. Danach machte sie ihre Krankenschwester-Ausbildung in Ludwigsburg und arbeitete anschließend in Krankenhäusern in Hamburg, Stuttgart und in Reutlingen in unterschiedlichen Bereichen, bevor sie als Kinderkrankenschwester zum »Olgäle« kam.

      Meine Eltern waren sichtlich erleichtert, als ich endlich einmal mit einer festen Freundin nach Schorndorf kam. Sie vermuteten schon, ich bliebe ein ewiger Junggeselle. Margret fanden sie gleich sympathisch – umso mehr, als sie nicht so auffallend geschminkt war wie Rolfs ehemalige Bekanntschaft.

      Unbeschwerte